Die Ironie im Betriebsverfassungsgesetz

In der Vorbereitung auf die einstündige Livesendung “Lesart” des Deutschlandradio Kultur unter der Überschrift “Die Macht der Manager – Mitbestimmung oder Autokratie in Unternehmen?” kam mir eine intutitive Idee: Ich sollte das Betriebsverfassungsgesetz zumindest mal grob überfliegen. Ich machte mich an diese Aufgabe und fand etwas geradezu Unglaubliches. Erst glotzte ich nur entgeistert auf den Gesetzestext, dann begann ich zu lachen, dann stierte ich wieder nur fassungslos auf das, was der Gesetzgeber da eigentlich gemacht hat, schüttelte den Kopf, lachte, glotzte. Aber fangen wir von vorne an: Was ist eigentlich der Sinn des Betriebsverfassungsgesetzes?

Mit derm Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) wird “die grundlegende Ordnung der Zusammenarbeit von Arbeitgeber und der von den Arbeitnehmern gewählten betrieblichen Interessenvertretung” (Wikdipedia) festgelegt. Als Grundlage dient dafür in Deutschland das Betriebsverfassungsgesetz, das zum 15.01.1972 in der Legislaturperiode des sechsten Bundestages ausgefertigt wurde und heute in seiner aktuellen Version vom 20. April 2013 gültig ist. Es sorgt für einen Minimalstandard an Rechten seitens der Arbeitnehmer, damit die nicht als entpersönlichtes Humankapital beliebig behandelt werden können. In diesem Sinne kann jeder Arbeitnehmer auch heute noch dankbar sein für dieses Gesetz. Allerdings enthält es an einer Stelle eine höchstinteressante potentielle Wendung gegen die eigene positive Absicht:
In §5 (über die Arbeitnehmer) wird in Absatz 3 der Leitende Angestellte definiert:

“Dieses Gesetz findet, soweit in ihm nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, keine Anwendung auf leitende Angestellte. Leitender Angestellter ist, wer nach Arbeitsvertrag und Stellung im Unternehmen oder im Betrieb

  1. zur selbständigen Einstellung und Entlassung von im Betrieb oder in der Betriebsabteilung beschäftigten Arbeitnehmern berechtigt ist oder
  2. Generalvollmacht oder Prokura hat und die Prokura auch im Verhältnis zum Arbeitgeber nicht unbedeutend ist oder
  3. regelmäßig sonstige Aufgaben wahrnimmt, die für den Bestand und die Entwicklung des Unternehmens oder eines Betriebs von Bedeutung sind und deren Erfüllung besondere Erfahrungen und Kenntnisse voraussetzt, wenn er dabei entweder die Entscheidungen im Wesentlichen frei von Weisungen trifft oder sie maßgeblich beeinflusst; dies kann auch bei Vorgaben insbesondere aufgrund von Rechtsvorschriften, Plänen oder Richtlinien sowie bei Zusammenarbeit mit anderen leitenden Angestellten gegeben sein.” (BetrVG, fett A.Z.)
16.12.1954 Erste Lesung der Pariser Verträge im Deutschen Bundestag
16.12.1954
Erste Lesung der Pariser Verträge im Deutschen Bundestag

Somit kann eine etwas absurde Situation entstehen: Wenn in einem Unternehmen beispielsweise Teams selber den Personalbedarf feststellen und ebenso eigenverantwortlich Personal einstellen und entlassen, könnten sie als leitende Angestellte interpretiert werden – was ja zunächst durchaus sinnvoll wäre, da sie ja tatsächlich leiten. Allerdings würde es dann dazu kommen, dass das Betriebsverfassungsgesetz keine Anwendung mehr auf diese Angestellten finden würde, wie ja es ausdrücklich festgelegt wurde. Sprich: In dem Moment, in dem bis dahin formal-juristisch betrachtet “einfache” Angestellte qua Unternehmensdemokratie in die Rolle von leitenden Angestellten kommen, gelten für sie nicht mehr die Mindeststandards, die durch dieses Gesetz definiert wurden.
Jetzt gilt natürlich erst einmal die alte Weisheit, wo kein Kläger, da kein Richter. Im Streitfalle jedoch könnte es durchaus zu dieser verrückten Selbstauflösung des BetrVG kommen. Das ist – aus meiner nichtjuristischen Laiensicht – insofern besonders ironisch, da ja das Gesetz vor einer juristischen Auseinandersetzung eine relativ begrenzte Bedeutung hat. Es entfaltet seinen Sinn zwar bereits als Warnung vor etwaigen Strittigkeiten, aber seine eigentliche Bedeutung entsteht erst im Streitfalle selbst. Schließlich kann ich in meinem Unternehmen tun und lassen was ich will, auch wenn ich dabei alle möglichen Gesetze missachte oder breche. Solange sich darüber niemand beschwert, kann ich so weitermachen bis meine Augen taub und meine Ohren blind sind. Und genau das passiert im Alltag andauernd: Gesetze werden bewusst oder unbewusst ignoriert.
Ein Gesetz, dass für die Demokratisierung der Arbeitswelt sorgt, löst sich selbst auf, wenn die durch dieses Gesetz festgelegten demokratischen Minimalanforderungen deutlich übertroffen werden – vielleicht sollte da mal eine Überarbeitung erfolgen…

Herzliche Grüße
Andreas

Quelle
Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), Ausfertigungsdatum: 15.01.1972

Bildnachweis

  • Beitragsbild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F034297-0029 / Wienke, Ulrich / CC-BY-SA 3.0
  • Lesung Bundestag: Bundesarchiv, B 145 Bild-F002349-0009 / Brodde / CC-BY-SA 3.0

Comments (4)

Hallo Andreas, es gibt zur Zeit in der praktischen Rechtsprechung ein Kriterium, das festlegt ob jemand vor dem Gesetz Führungskraft ist: “Die Festlegung des Gehaltes”. Selbst für Teams, die selbst einstellen können, trifft das noch lange nicht zu. Wenn auch die Festlegung der Gehälter vollständig (ohne Vetorechte) beim Team liegt dann könnte in der Tat die von dir beschriebene Auflösung eintreten. LG Eberhard

Hi Eberhard,
danke für diesen interessanten Hinweis. Könntest Du evtl. noch sagen, wo ich das genau finde? Das müsste m.W. im deutschen Recht ja als Paragraph irgendwo hinterlegt sein, oder?
HGA

Hallo Andreas,
leider betrifft diese Realitätsferne in Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht nur das BetrVG, sondern viele andere Bereiche. Auch Themen wie Arbeitszeit, Haftung, private Internetnutzung usw. usf. kann man in der praktischen Umsetzung eigentlich nur absichtsvoll ignorieren. Neulich hat doch eine Arbeitsrechts-Anwältin in einem Vortrag tatsächlich empfohlen, den Mitarbeitern die private Internetnutzung zu untersagen und nur in den Pausen zu gestatten. Das zeigt doch deutlich, welche realitätsferne Vorstellung von bereits präsenter Arbeitswelt der Gesetzgebung und Rechtssprechung zugrunde liegt.
Herzliche Grüße
Frank

Hi Frank,
danke für den Hinweis. Leider bestätigt das einmal mehr meine Vorurteile gegenüber der Legislative…
HG

Leave a comment

X