Ist New Work Anarchie? (Teil 1)

Die Frage, ob New Work Anarchie ist, beschäftigt mich seit ich entdeckt habe, dass hinter dem Begriff wesentlich mehr steckt, als das, was landläufig darunter verstanden wird. Ich würde die Frage im Moment (noch) nicht mit einem uneingeschränkten „Ja“ beantworten, allerdings stecken im Anarchismus naturgemäß Selbstverwaltung, Selbstorganisation und Eigenverantwortung. Und je mehr ich mich mit der Anarchie beschäftige, umso mehr Impulse und spannende Ideen für meine Beschäftigung mit selbstbestimmtem Arbeiten begegnen mir. In Teil 1 meiner mehrteiligen Blogreihe, räume ich erst einmal mit ein paar Stereotypen auf und gebe einen Überblick, was Anarchismus sein kann.

Anarchie!? Das war für mich bis vor kurzem noch mit Chaos, Punk und einer durchaus gewalttätigen Konnotation verbunden. Dass dahinter freilich mehr steckt, ahnte ich bereits während der Lektüre von Pankaj Mishra’s Buch „Das Zeitalter des Zorns“. Mishra fokussiert leider allein auf die Auswirkungen der anarchistischen Ideen auf frustrierte junge Männer Ende des 19. Jahrhunderts, die sich im Kontext der fortschreitenden industriellen Revolution, dem erstarkenden Kapitalismus und dem „Fin de siècle“ abgehängt sahen. Diese brachten mit ihren Bomben und Attentaten innerhalb von ein paar Jahren ein verzerrtes Bild des Anarchismus in die Welt, welches heute häufig mit „der Anarchie“ gleichgesetzt wird: Chaos, Gesetzlosigkeit und Gewalt.

Die Namen Bakunin, Kropotkin und Proudhon, allesamt (Vor-)Denker des Anarchismus, blieben mir dennoch im Gedächtnis – ging es doch in ihren Ideen um Selbstorganisation und Eigenverantwortung ohne formale Hierarchien. Da ich aber mit Bombenlegern und Assassinen nicht viel am Hut habe, beschäftigte ich mich zunächst nicht weiter mit der Anarchie.

Kein Gott, kein Herr – Anarchie!

Michail Alexandrowitsch Bakunin
Michail Alexandrowitsch Bakunin

Das änderte sich abrupt als ich – in Folge einer Empfehlung auf Facebook – die Arte-Dokumentation „Kein Gott, kein Herr – eine kleine Geschichte der Anarchie“ sah. Darin rücken die Macher der Sendung Einiges zurecht, was in den letzten rund 150 Jahren alles an Mythen, Lügen und Legenden um den Anarchismus gestrickt wurde, um die Macht der aufkommenden Nationen, Religionen, Institutionen, Ideologien und Organisationen zu erhalten. Im Gesamtkontext gesehen ist es für mich dann auch nicht so wahnsinnig verwunderlich, dass in der revolutionsträchtigen und kriegerischen Zeit von 1848 bis in die 1920er Jahre immer wieder Gewalt von Anarchisten eingesetzt wurde. Teils moralisch völlig unverständlich und verwerflich, überwiegend aber aus purer Notwehr, um zu überleben.

Viel fesselnder fand – und finde ich immer noch – die Ideen des Anarchismus rund um die Selbstorganisation und Gleichberechtigung, die nicht nur reine Phantasie- und Theoriegebilde sind. In Horst Stowasser‘s Standardwerk „Anarchie!“ fand ich eine phantastische, größtenteils vergessene Geschichte der Selbstorganisation mit vielen Ideen, Abzweigungen und letztlich auch vielen „Lessons learned“. Die Geschichte des Anarchismus offenbarte sich mir als eine aufregende Fundgrube für Menschen, die sich mit selbstbestimmtem und eigenverantwortlichem Leben und Arbeiten beschäftigen. In zahllosen Projekten und Reallaboren probierten, testeten und entwickelten Menschen Formen der Selbstorganisation, die von der kleinen Kommune, über die Fabrik und über Organisationen, bis hin zu ganzen Regionen hinweg auch wirklich über längere Zeiträume intakt waren. Einige davon endeten in einer Sackgasse, weil die Ideen schlicht nicht funktionierten, viele davon wurden gewaltsam beendet und einige wenige haben bis in die heutige Zeit überlebt.

Was ist denn jetzt eigentlich Anarchie?

Die eine Anarchie oder den einen Anarchismus gibt es nicht, das wäre schon ein Widerspruch in sich selbst. Der Anarchismus ist eine vielfältige und damit auch sehr widersprüchliche Bewegung. Mit sehr unterschiedlichen Ansichten, wohin der Weg führt.
Horst Stowasser, formuliert in seinem Buch eine Kurzdefinition, welche nach seiner Lesart die Gemeinsamkeiten von Anarchisten zeigt.

„Anarchisten streben ein freie Gesellschaft der Gleichberechtigung an, in der es keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr gibt. Die Mitglieder einer solchen Gesellschaft sollen befähigt und ermutigt werden, ihre privaten und gesellschaftlichen Bedürfnisse ohne Hierarchie und Bevormundung mit einem Minimum an Entfremdung selbst in die Hand zu nehmen. So soll eine andere Ordnung entstehen, in der Prinzipien wie die „Freie Vereinbarung“, „gegenseitige Hilfe“, und „Solidarität“ an die Stelle heutiger Realitäten wie Gesetze, Konkurrenz und Egoismus treten könnten.
Autoritärer Zentralismus würde durch Föderalismus ersetzt: die dezentrale Vernetzung kleiner und überschaubarer gesellschaftlicher Einheiten. Menschenverachtende und umweltzerstörende Gigantomanie wären dann absurd; an ihre Stelle träten freie Zweckzusammenschlüsse, die die Menschen auf der Basis gleicher Rechte und Pflichten direkt miteinander eingingen.

Besonders originell an diesen Vorstellungen ist die Idee, dass es auf einem geografischen Gebiet nicht mehr nur eine Gesellschaft gibt, einen für alle verbindlichen Staat, sondern eine Vielfalt parallel existierender gesellschaftlicher Gebilde. „Anarchie ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften“, wie es der anarchistische Philosoph Gustav Landauer einst formulierte. Kurzum, und etwas einfacher gesagt: Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft.“ (Stowasser, 2007)

Alleine darin stecken schon so manche Ansätze, mit denen wir heute arbeiten und mit denen ich mich noch ausführlicher auseinandersetzen werde. Hinzu kommen noch drei libertäre Grundsätze, nach denen Anarchisten ihre Aktionen idealerweise ausrichten sollten.

  1. Menschliche Ethik über formalem Recht
    Wo eine Regel oder ein Gesetz in einer konkreten Situation keinen Sinn macht, wird es in Frage gestellt.
  2. Spontaneität
    Jeder Mensch ist frei, zu handeln, wie er es gegenüber seinen eigenen Überzeugungen und auch seinen Mitmenschen verantworten kann. Hier gilt es, die richtige Balance zwischen Autonomie und Bindung zu finden.
  3. Die Anwesenheit des Ziels in den Mitteln
    Was erreicht werden soll, muss in der Wahl der Mittel und Methoden zum Ausdruck kommen. Zum Beispiel kann Freiheit nicht durch Folter, Glück nicht durch Zwang und eine andere faire Wirtschaft nicht dadurch erreicht werden, dass weiterhin Menschen ausgebeutet werden.

Genug Stoff, um sich als “New Worker” damit auseinanderzusetzen. Einige interessante Beispiele und Theorien zur Selbstorganisation aus unterschiedlichen Bereichen folgen in Teil 2 der Blogreihe “Ist New Work Anarchie?”, bevor ich in Teil 3 auf die Bedeutung für New Work eingehe.

 

Bis dahin, mit besten Grüßen!
Stefan Röcker

 

Literatur:
Stowasser, H. (2007): Anarchie! – Nautilus Verlag

Beitragsbilder:
Bakunin – Pixabay (CC0 Creative Commons)
Anarchie-Logo – Pixabay (CC0 Creative Commons), ergänzt um Schriftzug.

Video:
Inoffizielle Veröffentlichung der Arte-Dokumentation „Kein Gott, kein Herr – eine kleine Geschichte der Anarchie“ bei YouTube:

https://www.youtube.com/watch?v=9q1uzwjn_Vc&t=4287s

Comments (1)

Vielen Dank für die gute Einführung/Zusammenfassung zur Anarchie, sehr spannend.
Die Regel drei, die Anwesenheit des Ziels in den Mitteln, zeigt ja sehr gut auf warum der Terror die Idee der Anarchie so nachhaltig zerstört hat – sie waren die ersten welche Terror als Mittel zum Zweck genutzt haben und es haftet der Anarchie bis heute an. Und dieser Fehler ist so nachhaltig, das viel gutes bis heute übersehen wird. Ein Unternehmen würde hier ein Rebranding durchführen – um den so misshandelten Namen loszuwerden. Die vielen guten Ideen haben ja auch im kleinen überlebt und finden sich heute in unserem Alltag überall wieder.

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