Sie brauchten keine Angst zu haben. Am Ende stand keine Bewertung, sondern nur eine Teilnahmebescheinigung. Anfang April hielten wir, mein Kollege Heiko Nowak und ich, einen Workshop an einer Hochschule in Baden-Württemberg. Es war Projektwoche und uns lag eine gute Anzahl an Anmeldungen von Studierenden vor, die mehr über selbstbestimmte Arbeit lernen wollten.
Start mit Irritation
Wir starteten mit einem Musterbruch: entgegen der üblichen Vorgehensweise, wie Workshops oder Seminare an der Hochschule anfingen – ankommen, hinsetzen, berieseln lassen – hatten wir alle Tische und Stühle beiseite geräumt, so dass eine große leere Fläche entstand. Die Teilnehmer*innen hatten die Aufgabe, den Raum frei zu gestalten, wie er ihrer Ansicht nach für den Workshop-Tag aufgebaut werden sollte. In der Gruppe entstand eine leichte Unsicherheit, wie und wohin Stühle und Tische platziert werden sollten, aber sie lösten die Aufgabe souverän und schnell.
Das Experimentierfeld beobachten
Im Vorfeld hatten wir die Studierenden darüber informiert, dass wir während des Workshop-Tages ihre individuellen Fähigkeiten im Kontext selbstbestimmtes Arbeiten beobachten und ihnen – falls gewünscht – in Einzelgesprächen im Nachgang darüber Auskunft geben würden. Uns war klar, dass unsere Beobachtungen nur eine Momentaufnahme sein konnten und weit entfernt von repräsentativ. Dennoch hatte ich die Studie von Julia Culen im Hinterkopf, die von der Generation (A)ngst berichtet hatte und die entgegen der landläufigen Annahmen über die Gen Y/Z so gar nicht selbstbestimmt arbeiten wollten.
Wir hatten Glück: unsere Gruppe war engagiert, motiviert und selbständig. Ein paar kannten sich vorher schon untereinander, andere wiederum nicht. Alle beteiligten sich mehr oder weniger regelmäßig, ergriffen selbst Initiative, hielten sich wenn nötig zurück und ließen andere zu Wort kommen. Soweit so gut und in diesem Kontext vielleicht auch erwartbar – oberflächlich.
Konkurrenzsituation ohne Konkurrenz
Eine der nächsten Aufgaben war mit Hilfe eines Spiels zu lösen. Wir bildeten zwei Teams mit gleicher Aufgabenstellung und machten eindeutig klar, dass es am Ende nicht um Gewinnen oder Verlieren der einen oder anderen Gruppe gehen sollte, sondern um die Simulation verschiedener Modelle unter Zeitdruck. Die jeweiligen Ergebnisse beider Gruppen hielten wir auf einer Flipchart sichtbar für alle fest. Ohne unser Zutun entspann sich während des Spiels von der einen Gruppe zur anderen dennoch eine Konkurrenzsituation. Es wurde von „die“ geredet, die eine Gruppe neidete der anderen das höhere Ergebnis und unterstellte ihr gar „Schummeln“. Natürlich war alles weiterhin spielerisch, dennoch war es interessant zu beobachten, dass die Studierenden Konkurrenzsituationen dort reproduzierten, wo sie unnötig waren. Man mag diese Beobachtung trivial finden, ich finde dies nicht, denn sie war ein Baustein zu weiteren Beobachtungen des Tages.
Zwischenstand: Stimmungslage
Vor der Mittagspause ließen wir die Studierenden kurz reflektieren und erstellten ein Stimmungsbild, welche weitere Vorgehensweise gewünscht war. Interessanterweise ergab sich hier eine Diskrepanz, die wir bereits aus anderen Gesprächen kannten: Die Teilnehmer*innen wünschten sich mehr Input statt Diskussion, wollten aber gleichzeitig stark partizipieren. Wie sollte das funktionieren? Wir entschieden uns in diesem Kontext für einen fluiden Mix aus Input und Partizipation, aber wie ist das im Unternehmenskontext? Heißt das, dass der/die BerufsanfängerIn selbstbestimmt/selbstorganisiert arbeiten will, dazu aber Anleitung benötigt?
Angstfaktor Berufsstart
Gegen Ende des Workshops diskutierten wir mit den Teilnehmer*innen ihre Sicht auf selbstbestimmtes Arbeiten allgemein und ihre Erwartungen für ihre berufliche Zukunft. Mehrheitlich stellte sich heraus, dass eine grundlegende Angst und Unsicherheit vorhanden war. Um es konkret zu machen:
- Die Angst/Unsicherheit, überhaupt einen adäquaten Job zu finden. Dies würde sich mit Erklärungsversuch #6 (Diese Generation ist stark verunsichert) aus Julia Culens Studie bei den Unternehmensdemokraten decken.
- Die Angst/Unsicherheit, abgehängt zu werden von Gleichaltrigen. Eine Teilnehmerin nannte explizit Beispiele von Startup-Gründungen aus ihrem Umfeld, die von ihr als erfolgreich wahrgenommen wurden und somit die Messlatte für andere aus dem Bekanntenkreis hoch aufhängten. Auch diese Beobachtung korrespondiert mit Julia Culens Studie (Erklärungsversuch #3 – Der massive Wettbewerbsdruck über Social Media)
- Die Angst/Unsicherheit vor der Bewertung am Arbeitsplatz
Auf den dritten Punkt lohnt es sich näher einzugehen. Einige Teilnehmer*innen erzählten, dass sie Sorge hätten, am Arbeitsplatz etwas falsch zu machen. Das mag trivial erscheinen und aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, dass ich immer eine gewisse Angst in den ersten Tagen, Wochen und Monaten am neuen Arbeitsplatz verspürte. Ich wollte die Probezeit gut „überstehen“ und dann in ein sicheres Arbeitsverhältnis übernommen werden. Wie vermutlich bei den meisten von uns ging dieser Wunsch mit finanziellen Abhängigkeiten einher. Ist es daher ungewöhnlich, dass auch Berufsanfänger diese Angst haben?
Stressfaktor Studium
Ja, das ist es durchaus. Denn aus dem Gespräch hörten wir heraus, dass es keine allgemeine, diffuse Angst ist, sondern die ganz konkrete Angst, Aufgaben nicht in der vom Unternehmen vorgegebenen Weise lösen zu können. Sich nicht zurecht zu finden und Fehler aufgrund von Unwissenheit zu machen, weil das System Unternehmen ihnen unbekannt ist. Diese Angst wiederum löst Stress aus. Es ist der gleiche Stress, dem Studierende tagtäglich ausgesetzt sind. Sie müssen funktionieren. Sie verleiben sich in kürzester Zeit eine Unmenge an vorgegebenem Lehrstoff ein und kotzen ihn im System Hochschule für ihre Scheine, ihren Abschluss wieder aus – in einem System, das den Begriff „Bulimie-Lernen“ kennt, darf das auch genauso formuliert werden. Das System Schule reproduziert sich in jedem Studiengang.
Der Stress, den – neben weiteren Faktoren – diese Art des Lernens verursachen kann, nimmt seit Jahren zu. Der Arztreport der Krankenkasse Barmer nennt eine Steigerung der psychischen Erkrankungen bei jungen Menschen (18 – 25-jährige; zwischen 2005 und 2016) um 38 Prozent von 1,4 Mio. auf 1,9 Mio. Damit war 2016 jeder 4. junge Mensch dieser Altersgruppe psychisch krank. Besonders bei den Studenten sei dies besorgniserregend, da sie früher als weniger anfällig als ihre Altersgenoss*innen galten – nun sei es jeder 6. Student, d.h. in Summe 470.000 Studierende.
Die Prognosen der Krankenkasse sind lt. Barmer-Chef Christoph Straub alles andere als positiv, denn es spreche Vieles dafür, dass es in Zukunft noch deutlich mehr psychisch kranke junge Menschen geben werde und „gerade bei den Akademikern steigen Zeit- und Leistungsdruck kontinuierlich…“
Sicher sein dürfte damit auch, dass die künftigen Berufsanfänger*innen ihren Unternehmen durch Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen mehr Kosten verursachen werden.
Berufsanfänger*innen quo vadis?
Doch wie mit der Situation umgehen? Sicherlich will niemand im Unternehmen, dass der oder die junge Kollegin krank wird oder krank bleibt, sollte die Krankheit bereits bestehen. Ich komme nochmal zurück auf Julia Culens Studie und werfe eine weitere Perspektive in die Diskussion: Ist es möglich, dass die Generation (A)ngst (hier natürlich nur der kleine Ausschnitt aus unserem Workshop) vielleicht sichere Jobs und Routine will, weil dahinter eigentlich eine Angst vor dem Versagen steckt? Eine Versagensangst, die auf jahrelanger Erfahrung von Auf- und Abwertung durch Schulnoten beruht? Eine Angst, die dazu geführt hat, dass sie das Modell “Konkurrenz” so stark internalisiert haben, dass sie es automatisch reproduzieren, ohne zu prüfen, ob es notwendig ist? Ist ihre Vorstellung von Sicherheit und Routine damit verknüpft, dass weniger Fehler zu erwarten sind? Ist es ein Ruf nach weniger Leistungsdruck? Nach weniger Stress?
Wenn dem so wäre, sind – wie fast immer – die New Work Unternehmen im Vorteil: Hier kann aktiv auf Fehlerfreundlichkeit für das Merkmal der Unsicherheit in einer VUCA-Welt gesetzt werden. Rahmenbedingungen wie ein positives Menschenbild und hohe Partizipationsmöglichkeiten sorgen dann vielleicht dafür, dass die gestresste Studienabgängerin nicht Dienst nach Vorschrift machen will, sondern freiwillig ihre Talente und Fähigkeiten einsetzt – und auch noch gesund bleibt.
Fazit:
Der Witz an der Sache ist jedoch nicht die gesunde junge und motivierte Mitarbeiterin: Betrachtet man das Gesamtsystem, bedeutet es letztendlich, dass Unternehmen künftig noch mehr gesellschaftliche Verantwortung übernehmen werden (solange Arbeit weiterhin Identifikationsfaktor bleibt und mit finanzieller Abhängigkeit einhergeht). D.h. sie sind diejenigen, die das, was aus einem verkorksten Schul- und Studiensystem herauskommt, heilen.
Nicht aus Nächstenliebe, sondern aus ökonomischer Notwendigkeit.
Herzliche Grüße
Daniela
Diskutiert mit uns über die Generation (A)ngst und was die Konsequenzen für Unternehmen sein können – auf unserer (Un-)Konferenz am 15.06.2018 in Berlin:
https://priomy.events/
Zum Weiterlesen:
https://www.tagesschau.de/inland/jugend-psyche-101.html
https://www.unternehmensdemokraten.de/generation-angst-mit-ihr-haben-wir-nicht-gerechnet/
Bildquellennachweis:
Flipchart-Foto – Daniela Röcker
Titelfoto – pixabay, CC-0 Lizenz gemeinfrei