„Frustrationsresistenz“ war eines der ersten Worte, die ich 1988 in einem BWL Buch gelesen habe. Es war eine Umschreibung einer Eigenschaft eines Managers. Ein Manager sollte frustrationsresistent sein. Vermutlich wollte der Autor sagen, dass es selbst Manager in Unternehmen nicht immer leicht haben: Mitarbeiter machen nicht immer alles wie besprochen oder gewünscht und Kollegen lassen sich nicht immer von guten Argumenten überzeugen. Meist haben Manager selbst auch Vorgesetzte, die Umsatz- und Gewinnziele mit Deadlines vorgeben und einen persönlichen Einsatz weit jenseits der vertraglich vereinbarten Arbeitsstunden erwarten. Und dann gibt es noch Kunden, Partner, Lieferanten, Geldgeber, Aktionäre sowie Gesetze, Regeln und Normen. Das Leben eines Managers kann sicherlich frustrierend und anstrengend sein. „Frustrationsresistenz“ – was für ein schönes Wort für all das; dennoch scheint es wie aus der Zeit gefallen.
Wenn ich heute Artikel über Anforderungen an Manager und Organisationen der Zukunft lese, dann geht es häufig um kollaborative Führung, um Raum zur Entfaltung von Mitarbeitern, um Facilitation, Vision, Transparenz, Hierarchieabbau, um Gerechtigkeit, Eigenverantwortung, Mitbestimmung und Toleranz. Es geht um die positive Wirkung von Bürohunden, um agile Organisationen und digitale Transformation, um Effectuation und Design Thinking. Tatsächlich lese ich die Anforderungen gar nicht mehr in Bezug auf Manager, sondern auf Manager*innen. Seit 1988 hat sich die Wahrnehmung von Frauen in vielen Ländern und Gesellschaften, in Unternehmen und Organisationen geändert. Als Horst Seehofer, deutscher Bundesminister des Inneren, für Bau und Heimat, am 28. März 2018 seine neue Mannschaft aus 9 Männern und 0 Frauen vorstellte, wurde sogleich eine Petition auf change.org ins Leben gerufen, die ihn auffordert, Frauen an Bord zu holen oder zurückzutreten. Mehr als 35.000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner gibt es bereits, das Ziel bis zum 28. Juni 2018 sind nun 50.000 Stimmen. Schöne, neue Welt! Oder? Einerseits klingt es nach spannenden Zeiten in Organisationen und adressiert vielfältige Veränderungen in Politik und Gesellschaft. Andererseits klingt es auch furchtbar anstrengend. Wie lassen sich so viele Themen parallel thematisieren und verbessern? Wie können Managerinnen und Manager dies nur alles anpacken und umsetzen?
Eigenverantwortliches Arbeiten
Arbeiten Sie gerne eigenverantwortlich? Wenn Sie eine solche Frage in Ihrem privaten oder beruflichen Umfeld stellen, werden Sie vermutlich immer „Ja“ als Antwort erhalten. Fast jeder möchte eigenverantwortlich arbeiten. Die Gründe dafür sind vielfältig: mehr Unabhängigkeit und Verantwortung, mehr Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit in der Arbeit, mehr „selbst denken“ und auch mehr Spaß. Was passiert wohl, wenn Sie fragen, wer heute schon eigenverantwortlich arbeiten darf? Vielleicht werden Sie die Antworten überraschen, denn viele Freunde, Bekannte und Kollegen arbeiten bereits eigenverantwortlich. Bei Freiberuflern ist das logisch (die Frage macht bei dieser Berufsgruppe nur Sinn, sofern sie bei Kunden aktiv sind, die enge Vorgaben formulieren), bei Angestellten ist dies aber erstaunlich. Warum wird Eigenverantwortung häufig adressiert, wenn sie bereits oftmals gelebt wird? Natürlich gibt es Unterschiede in Bezug auf konkrete Tätigkeiten in einer Organisation, denn ein Mitarbeiter in einer Produktion wird nur schwerlich eigene Ablaufentscheidungen treffen oder Sicherheitsaspekte ignorieren und einen Hund mit zur 8-Stunden-Schichtarbeit bringen können. Ähnlich verhält es sich in Krankenhäusern bei einer OP, bei der Arbeit in einem Atomkraftwerk oder bei Piloten. Abgesehen von solchen Beispielen bzw. Bereichen, wächst die Zahl der Unternehmen stetig, die Interesse an eigenverantwortlich arbeitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben.
Was versprechen Sie sich konkret von eigenverantwortlichem Arbeiten? Lob und Anerkennung, ein höheres Gehalt, mehr Freizeit oder eine neue Position im Unternehmen, mehr Verantwortung, Vertrauen und Wertschätzung? Wer möchte das nicht? Und was möchte eine Organisation? Könnte es sein, dass Ihnen Ihre Organisation einen, mehrere oder gar alle diese Punkte bietet, wenn Sie einen wichtigen Aspekt – praktisch im Tausch – hinnehmen würden: Ihre Verantwortung gegenüber der Firma? Akzeptieren Sie die Konsequenzen Ihrer Arbeit? Wer einen Anteil am Ergebnis des eigenverantwortlichen Arbeitens möchte, müsste auch negative Konsequenzen ertragen. Wer Entscheidungen trifft macht Fehler. Fehler passieren und viele Organisationen lassen sich heutzutage darauf ein. Was sollte aber passieren, wenn bspw. eine riskante Entscheidung nicht den gewünschten Erfolg bringt? Wenn eigenverantwortliches Arbeiten keine guten, sondern regelmäßig schlechte Ergebnisse liefert? Wären Sie bereit, mögliche Konsequenzen wie ein niedrigeres Gehalt, weniger Vertrauen und Wertschätzung, eine andere Stelle im Unternehmen oder gar den Verlust des Arbeitsplatzes zu akzeptieren? Die Eigenverantwortung am Arbeitsplatz stößt häufig dann an Grenzen, wenn es um persönliche Konsequenzen geht. Hier sind viele Angestellte froh, dass Haftungsregeln des Unternehmens greifen, und dass es Managerinnen und Manager gibt, die in der Hierarchie und auch gegenüber Kunden, Partnern oder dem Gesetzgeber die Verantwortung übernehmen. In einer Organisation mit Eigenverantwortung der Mitarbeiter müsste auch ein Betriebsrat seine Rolle überdenken, denn wer Eigenverantwortung bejaht, müsste auch mögliche Konsequenzen für Angestellte akzeptieren und nicht gegen sie opponieren. Auf einmal klingt das Thema Eigenverantwortung gar nicht mehr so leicht, oder? Hier eine einfache Lösung von den Managerinnen und Managern der Zukunft zu erwarten, greift jedenfalls zu kurz.
Die Transparenz im Unternehmen
Ähnlich wie bei der Eigenverantwortung finden die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Transparenz positiv. Sie setzen Transparenz mit frei zugänglichen Informationen und offener Kommunikation gleich. Sie wünschen sich oft mehr Einblick in Entscheidungen und in die Ausrichtung von Unternehmen. Sie erhoffen sich mehr Partizipation. Doch ist Transparenz immer positiv? Übt eine Geschäftsleitung nicht auch eine Schutzfunktion aus, indem sie Informationen für sich behält? Natürlich gehen hier die Meinungen auseinander und Andreas Zeuch interpretiert dies eher als paternalistisches Modell von Verantwortungsübernahme, doch könnte Intransparenz nicht möglicherweise manchmal sogar zielführender sein? Auch wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keine Schutzbefohlenen sind, sollte auch eine Geschäftsleitung das Recht auf eigene Überlegungen haben, die nicht veröffentlicht werden müssen. Wer einen Produktionsstandort verlagern, einen zusätzlichen Standort eröffnen, ein neues Produkt für einen neuen Markt entwickeln oder einen Weihnachtsbonus auszahlen möchte, darf sich auch zuerst Gedanken machen, bevor entsprechende Informationen kommuniziert werden. Ein wichtiger Faktor bei Transparenz wäre demnach das Timinig.
Wenn Sie diese Gedanken nicht überzeugen, dann habe ich eine Frage für Sie: Würden Sie Ihr Gehalt in der Firma, vor Freunden oder Nachbarn veröffentlichen? Wäre es okay, wenn Sie Ihr Gehalt veröffentlichen, andere Kollegen dies aber nicht tun? Wenn Sie Ihr Gehalt nicht veröffentlichen wollen, geben Sie zu, dass es Grenzen der Transparenz gibt. Das ist natürlich leicht nachvollziehbar, denn Transparenz hat immer eine individuelle Sicht. Doch welche Sorge hätten Sie, wenn ein Kollege ihr Gehalt kennen würde, er seins aber nicht veröffentlichen möchte? Funktioniert Transparenz nur im Wechsel oder wenn das Umfeld transparent agiert? Gibt es also ebenso wie bei der Eigenverantwortung auch Grenzen bei der geforderten Transparenz? Auch hier können Managerinnen und Manager keine allgemeingültige Antwort zaubern.
Der Diskurs von Begriffen
Eigenverantwortliches Arbeiten und Transparenz sind nur zwei Forderungen von vielen, die im Zuge von „Neuer Arbeit“ häufig ausgesprochen werden. Solche Forderungen zu formulieren ist leicht, die Umsetzung aber nicht. Dafür gibt es unterschiedliche Ursachen. Eine wesentliche Ursache dafür liegt in der individuellen Interpretation der Begriffe. Was ist Transparenz, wer stellt Informationen wo, wie, wann und wem zur Verfügung? Wer holt Informationen wann, wo und wie? Müssen eigenverantwortliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch die Verantwortung für ihren Informationsstand tragen? Hier einen Konsens erzielen zu wollen, verursacht viel Aufwand. Je detaillierter die Auseinandersetzung mit solchen Themen ist, desto größer werden die Unterschiede im Verständnis. Die Themen aber nicht zu adressieren ist keine Lösung. Idealerweise sollten Unternehmen interne Diskussionen über Werte und Ziele, über Forderungen und Wünsche führen. Es geht nicht darum, Begriffe einheitlich zu definieren, sondern darum die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besser zu verstehen. Dieses Verständnis kann zu einer veränderten Identität einer Organisation führen. Eine Organisation, die sich aus sich heraus neu erfindet und die die Werte der Menschen repräsentiert, die in, für und mit ihr arbeiten.
Ein weiterer Grund, warum die Umsetzung von „Neuer Arbeit“ nicht leicht ist, liegt in der Messbarkeit des Erfolgs. In traditionellen Organisationen wird Erfolg in Umsatzzahlen, Gewinn, Marktanteilen oder in Shareholder Values gemessen. Das ist der Motor eines Unternehmens. Wann arbeitet ein Unternehmen transparent? Wann gilt Eigenverantwortung als implementiert? Wie wird Vertrauen gemessen? Wann ist eine agile Organisation Realität? Wie wird eine digitale Transformation abgeschlossen? Wann sind Freiheit und Sicherheit im Einklang? Was ist das Ergebnis einer Selbstorganisation? Wann steht der Mensch im Mittelpunkt der Organisation? Und wann der Kunde? Es gibt unendlich viele Fragen, die auf das Miteinander in Organisationen abzielen, die sich aber mit dem definierten Endzustand, dem Ziel schwer tun. Vielleicht ist das Ziel als solches gar nicht mehr wesentlich, sondern der Weg dorthin. Der Prozess als Ziel. Die permanente Entwicklung und die regelmäßige Auseinandersetzung mit der Veränderung. Liegt hierin eine dauerhafte Befriedigung? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Managerinnen und Manager dies nicht für mich lösen können.
Ein dritter Aspekt, warum die Umsetzung von „Neuer Arbeit“ schwierig ist, liegt im Sinn eines Unternehmens. Manchmal habe ich das Gefühl, mich in einer Blase zu bewegen, in der es vielen systemischen Coaches, Beratern oder Evangelisten nur noch um das Glück der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geht. Es ist nett, zu glauben, ein Unternehmen oder ein Vorgesetzte sei für das Glück der Angestellten verantwortlich. Aus eigener Erfahrung kann ich Ihnen sagen, das kann nicht funktionieren. Auch wenn ein Unternehmen eine soziale Organisation ist und damit ein Ökosystem darstellt, Menschen sind und bleiben Individuen. Jeder hat seine eigenen Einstellungen und Erfahrungen, Hintergründe und Bedürfnisse. Jeder Mensch ist für sein eigenes Glück zuständig. Natürlich dürfen und sollen sich Angestellte bei der Arbeit wohlfühlen. Sie sollen sich einbringen, Kreativität entwickeln, sich sicher fühlen, Freude versprühen, sich weiterentwickeln und Fehler machen dürfen. Angestellte haben aber eine mehr oder weniger klar formulierte Aufgaben zu erledigen. Sie werden als Administratoren oder Finanzbuchhalter, als Lageristen oder technische Autoren eingestellt. Bei aller Eigenverantwortung und Freiheit in den Tätigkeitsbereichen: es geht um die Erledigung von Aufgaben. Diese Aufgaben sind Teile von Abläufen, sie sind eins von vielen und die Basis für Unternehmungen. Es gibt zwar bereits Unternehmen, die setzen konkrete Mitarbeiter für gänzlich unterschiedliche Aufgaben ein und erhoffen sich neue Sichten auf bekannte Aufgabenstellungen. In den allermeisten Organisationen sind es aber Experten, die einzelne Aufgaben realisieren. Dafür werden sie eingestellt, dafür werden sie in Projekten eingeplant und dafür werden sie bezahlt. Am 24. April 2018 veröffentlichte die Joblift GmbH die Ergebnisse einer Analyse von 14 Millionen Stellenanzeigen. Demnach gab es in Deutschland im letzten Jahr 335 Stellenbeschreibungen, die unbegrenzten Urlaub anpriesen. Was kann es schöneres geben als grenzenlosen Urlaub? Mich würde das allerdings nicht glücklich machen. Glücksempfinden ist genauso individuell wie jeder Mensch an sich. Daran können auch die Managerinnen und Manager der Zukunft nichts ändern.
Fazit
Abgesehen davon, dass es einen Kampf um das griffigste buzzword zur Beschreibung unserer neuen Arbeitswelt zu geben scheint („Neue Arbeit“ gefällt mir persönlich gut, denn es ist einfach zu verstehen und verzichtet noch ganz und gar auf eine Versionsnummer, die aber jederzeit noch kommen kann: Neue Arbeit 2.0, 3.0, 4.0), leben wir in unseren Industriegesellschaften in spannenden Zeiten. Arbeit verändert sich. Viele spüren bereits den Wandel in Organisationen. Arbeit wird neu gedacht und dieser Vorgang an sich ist oft großartig. Er wird von außen durch sich ändernde Märkte und Unternehmen sowie von innen durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter getrieben. Aspekte wie Eigenverantwortung, Vertrauen, Selbstbestimmung, Führung oder Freiheit gewinnen stetig an Bedeutung. Allerdings nimmt einem niemand das eigenständige Denken, die konkrete Auseinandersetzung und die Entwicklung im Unternehmen ab. Patentrezepte gibt es nicht und damit auch keine Abkürzungen und Best Practices. Wer hier fertige Lösungen oder Zaubertricks von Managerinnen oder Managern fordert, wird mit Sicherheit enttäuscht. Helfen können Ansätze, die bspw. ausrechnen, wie teuer Nicht-Vertrauen in Organisationen ist oder die Krankheitszeiten und Fluktuationen auswerten und in Beziehung mit Freiheitsgraden bei der Arbeit setzen. Vielleicht wird es zukünftig Unternehmen geben, die ihre Webshops am Wochenende schließen, die E-Mails nach Feierabend mit einem Hinweis auf Arbeitszeiten nicht mehr annehmen oder die Führung im Unternehmen im monatlichen Wechsel organisieren. Vermutlich wird es auch Organisationen geben, die weiterhin mit Command and Control arbeiten und im traditionellen Verständnis Umsatz- und Gewinnziele erreichen. Auch diese Organisationen haben ihre Berechtigung, sie könnten jedoch zukünftig verstärkt Probleme mit der Gewinnung neuer Arbeitskräfte bekommen. Wer in einer solchen Unternehmung nach Partizipation im Sinne „Neuer Arbeit“ sucht, könnte enttäuscht werden. Hier hilft möglicherweise ein Jobwechsel oder die Eigenschaft eines Managers: „Frustrationsresistenz“.
Herzliche Grüße
Michael Schenkel
Bildnachweis
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- Michael Schenkel: Michael Schenkel
- Spanische Wand: Sandstein, CC BY-SA 4.0
- Eigenverantwortung: Michael Schenkel