Cecosesola gewinnt alternativen Nobelpreis

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Cecosesola: Der Right Livelihood Award, bei uns auch besser bekannt als “Alternativer Nobelpreis” ging dieses Jahr unter anderem an eine großartige Kooperative in Venezuela, die schon seit 1967 alternativ wirtschaftet. Und das in Dimensionen, die weit über eine kleine einzelne Landkooperative hinausgehen und am ehesten vergleichbar sind mit der Größenordnung von Mondragon im Genossenschaftswesen, die mit rund 80.000 Genoss:innen die größte Genossenschaft Spaniens und dort zumindest bis 2015 zudem das siebtgrößte Unternehmen sind.

Einer der diesjährigen Preisträger ist also Cecosesola, die “Central Cooperativa de Services Soziales del Estado Lara”, ein Dachverband der Kooperativen für landwirtschaftliche und soziale Dienstleistungen im Bundesland Lara. Cecosesola trotzte dabei teils dramatischen, existentiellen Bedrohungen und Krisen – und hat in einem äußerst herausfordernden Umfeld bis heute überlebt. Ein Umfeld, das so manchem  Unternehmen, das nach tradierten und angeblich so erfolgreichen Prinzipien und Regeln entlang formaler-fixierter Hierarchie wirtschaftet, das Genick gebrochen hat. Cecosesola widerlegt damit einmal mehr, das alternatives Wirtschaften nicht oder nur schlecht in viel zu kleinen Größenordnungen funktionieren würde: erstens in einer grundsätzlich kapitalistischen Ordnung und zweitens zudem in einem extrem herausforderndem Kontext. Von wegen.

Cecosesola, zusammengefasst in 2’20”

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Cecosesola. Eine faszinierende Selbstbeschreibung

Vor einigen Jahren bin auf Cecosesola und das Buch über diese Kooperative aufmerksam geworden. “Die Buchmacherei“, ein kleiner Verlag in Berlin, hat den Band dankenswerter Weise herausgebracht. Es wird Zeit, dass dieser Band und vor allem die dort beschrieben Kooperative aus Venezuela mehr Aufmerksamkeit bei uns bekommt. Was ich damals las, fasziniert, überrascht und begeistert mich bis heute. Nein, das stimmt nicht ganz. Es ist noch mehr. Mich beschleicht das Gefühl, dass sich seit Ende 1967 im venezuelanischen Bundesstaat Lara etwas Großes entwickelt hat. Ein lebendiges Experiment, das inspirieren kann weil es kein Modell ist und keinerlei Rezeptur zur Verfügung stellt. Vielleicht ist dies der Beginn von einer Entwicklung, die eines Tages über alle Kontinente in viele Länder hinein reicht – und unser aller Leben verändern könnte.

Das Besondere dieses Buches beginnt schon mit der Autorenschaft: Cecosesola. Es gibt keine einzelnen Autoren, sondern nur das gemeinsame Werk. Heute betreibt Cecosesola drei Wochenmärkte in Laras Hauptstadt Barquisimeto, die eine Million Einwohner umfasst. Auf diesen Märkten kaufen jede Woche rund 55.000 Familien ein, was in etwa einem Viertel der Stadtbevölkerung entspricht. Pro Woche wurde zum Zeitpunkt der Bucherstellung 450 Tonnen Obst und Gemüse verkauft, zu Preisen die ca. 30% unter denen privatwirtschaftlicher Märkte liegen. Desweiteren bietet Cecosesola seit einigen Jahren eine eigene, selbstorganisierte Gesundheitsversorgung an, in der jährlich rund 190.000 Behandlungen durchgeführt werden. Hier liegen die Preise 60% unter den privaten Anbietern. Für Mitglieder der Kooperativen sind einige Behandlungen sogar kostenlos. Und weil Cecosesolas Frauen und Männer gemeinsam soviele neue Ideen entwickeln, gibt es mittlerweile (wieder) Transportbetriebe, eine Sparkasse und Finanzierungs- und Solidaritätsfonds. “2010 betrug der Umsatz all dieser Unternehmen 100 Millionen Dollar.” (S. 10), erwirtschaftet von rund 20.000 Mitgliedern. Wir reden also nicht von irgendeiner kleinen postsozialistischen Klitsche.

Wer jetzt denken mag, dass dies mit Subventionen eines Staates, der ja Kooperativen fördert, keine große Leistung sei, liegt vollends daneben. Die Mitglieder von Cecosesola mussten vielmehr über Jahrzehnte gegen teils widrigste Bedingungen kämpfen, in denen sie durch den Staat permanent torpediert wurden. Dabei ist die Geschichte eine fast ein halbes Jahrhundert währende Tour de Force. Als Leser kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus, mit welcher Ausdauer die Kooperativistas an ihren sich ständig ändernden Geschäftsmodellen drangeblieben sind; wie sie ebenso mutig wie intelligent nicht nur gegen äußere Widerstände antraten, sondern auch innere, teils gezielte Zersetzungsprozesse transformierten. Und das alles in einem Land, in dem nicht nur nach unseren Maßstäben die Arbeitskultur und -moral lausig ist, sondern mit der weltweit höchste Tötungsrate[1] .

Der Anfang: Kampf gegen Gewalt und Unterdrückung

1967 gründeten zehn Kooperativen den Dachverband Cecosesola, um den Kooperativstas einen Beerdigungsservice anzubieten, da die einzelnen Kooperativen dies rechtlich bedingt nicht leisten konnten. Die ersten Jahre dümpelten eher so dahin, und nach sechs bis sieben Jahren hatten sich längst wieder formal-fixierte Hierarchien gebildet, die vor allem der eigennützigen Selbstbereicherung und Vorteilsnahme dienten: Und so zeigte sich 1974, das der damalige Geschäftsführer systematisch Geld veruntreute. Das war der Auslöser, der letztlich zum heutigen Stand führte. Denn nun wurde erst der Geschäftsführer entlassen, die Geschäftsführung durch Kooperativistas übernommen und der fixe Versammlungsraum der Geschäftsführung aufgelöst. Statt an einem festen Ort wurden die Versammlungen fortan mal hier, mal dort durchgeführt. Am wichtigsten war jedoch etwas anderes: Nach der außerordentlichen Versammlung infolge der Veruntreuung wurden zukünftig regelmäßige Treffen auf regionaler Ebene mit den Mitgliedern und Beschäftigten ins Leben gerufen. Und dort geschah – ohne zu dem Zeitpunkt auch nur zu erahnen, wie weitreichend dies sein sollte – die zentrale Veränderung: In den eben genannten Treffen wurden auch persönliche Verhaltensweisen regelmäßig kommuniziert und analysiert. Diese Treffen machen heute in unterschiedlichen Formen, flexibel und in verschiedener Vielzahl, den Wesenskern von Cecosesola aus. Sie stehen heute allen Personen offen.

1975 kam es unter anderem zu Schwierigkeiten im öffentlichen Personenverkehr. Die Busunternehmen wollten unter anderem den Fahrpreis um 100% erhöhen, wodurch es zu vielen kleinen und teils größeren Protesten kam. Allerdings führten die zu keiner Lösung und so entstand die konstruktive Idee, eine Transportkooperative zu gründen. Im November desselben Jahres reichten die Kooperativistas einen Kreditantrag bei der staatlichen Finanzierungsstelle für Kooperativen ein. Ziel war die Anschaffung von 235 Bussen inklusive der nötigen Ersatzteile, Werkzeuge, Betriebsstätten. Bewilligt wurde ein Kredit, der für 92 Busse reichte. Im Rahmen des damit verbundenen Wachstums an Personal entstand die Frage, wie sich das Busunternehmen und Cecosesola selbst organisieren kann. “Was füllt die Lücke, die in unserer Kultur entsteht, wenn es keine Hierarchie mehr gibt?” (S. 26) Aber es kam, wie es kommen musste: Die neuen MitarbeiterInnen kannten nur die Arbeit unter einem Chef und kamen erst einmal überhaupt nicht damit klar, dass es die übliche Hierarchie nicht gab. Das Ergebnis war niederschmetternd, die MitarbeiterInnen übernahmen in vielen Fällen keine Verantwortung und taten nur das, wozu sie Lust hatten. Schließlich waren sie ja nun ihr eigener Chef.

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Ein tolles, humorvolles Video in Spanisch mit Untertiteln – unbedingt sehenswert

In den folgenden Jahren gab es eine überaus bewegte Zeit, in der die Transportkooperative durch andere Transportunternehmen und staatliche Stellen unter Beschuss kam. Die Mitarbeiter:innen von Cecosesola übten sich immer wieder in mehr oder weniger erfolgreichen Protestaktionen, mit denen sie versuchten, die Bevölkerung für sich zu gewinnen. Allerdings war dies in Summe nicht erfolgreich, Busse wurden beschlagnahmt und selbst auf richterliche Beschlüsse, in denen sie zurückgegeben werden sollten, folgten nur desaströse Momente, in denen festgestellt wurde, dass die beschlagnahmten Busse weitreichend ausgeschlachtet oder zerstört worden sind. Irgendwann in diesem Kampf entstand die Idee, die zu den heutigen Wochenmärkten als tragendem Element führten: In einem Bus wurden Sitze herausgelöst, verkauft und dafür Gemüse und Obst eingekauft und mit dem nun leeren Bus in Gemeinden gefahren, wo die ersten mobilen Märkte eröffnet wurden.

Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen

Unabhängig von den verschiedenen Geschäftsmodellen und Dienstleistungen lässt sich heute im Rückblick festhalten, dass die Entwicklung der Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen den Wesenskern der heute noch fortlaufenden Transformation einerseits und des heutigen Zusammenarbeitens andererseits ausmachen. Diese Entwicklung ergab sich ungeplant in drei Schritten:

  1. Alles fing damit an, dass sich die Beteiligten “strikt an das gesetzlich festgelegte Vorgehen (hielten): Eine Versammlung pro Jahr und eine Geschäftsführung, an denen Vertreter der beteiligten Kooperativen beteiligt waren, ohne jegliche Beteiligung der Arbeiterinnen.  … Die Entscheidungen wurden per Abstimmung gefällt. Sie waren gültig und endgültig.” (S. 126)
  2. Im zweiten Schritt entwickelten sich über die Jahre erste formale Veränderungen in der Beteiligung, indem Versammlungen und Leitungen auf Abteilungsebene eingeführt und eine Beteiligung von Vertretern der Arbeiterinnen zugelassen wurde. Die hierarchische Struktur blieb davon jedoch unberührt. Die Generalversammlung war weiterhin die höchste Autorität.
  3. Erst danach wurden die formalen Prozesse, die eine offene und direkte Beteiligung einschränkten, schrittweise abgeschafft. Die Treffen dienten im Laufe der Zeit nicht mehr in erster Linie einer Entscheidungsfindung. Statt dessen wurde der Informationsaustausch wichtiger und vor allem die gemeinsame Reflexion der täglichen Arbeit, individuellen Verhaltens und vor allem auch der täglichen Beziehungen zwischen den Mitgliedern.

Die Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen spiegelten sich 2011 in rund 3000 wöchentlichen Treffen in den einzelnen Kooperativen und Projekten wieder, begleitet von 300 übergreifenden Versammlungen. Es gibt sechs Bereichstreffen: Die wöchentliche Kollektive Koordinierung, Analysetreffen und Treffen im Gesundheitsbereiche alle 14 Tage. Die Produzent:innen und Dienstleister tagen monatlich und Treffen zwischen Produzent:innen sowie den Märkten erfolgen auf Bedarf. Darüber hinaus gibt es Treffen zum Hilfsfonds alle zwei Monate und Bildungsveranstaltungen sowie die Generalversammlung im Turnus von drei Monaten. Zentral ist dabei, dass diese Struktur nicht zementiert ist. “Sie ist ein fließender und flexibler Prozess, in dem neue Treffen einberufen werden sobald eine Aktivität oder neue Bedürfnisse danach verlangen, und andere verschwinden, weil sie nicht mehr gebraucht werden.” (S. 125)

Mittlerweile geht es darum, “von Vertrauen getragene Bindungen aufzubauen und zu gemeinsamen globalen Ansichten zu kommen, also um die eigene Veränderung.” (S. 127) Heute können Entscheidungen auch von nicht repräsentativen Gruppen oder sogar Einzelpersonen gefällt werden, solange sie nur dem je aktuellen Geist des Dachverbandes entsprechen. Sollte jemand, der nicht dabei war, Einwände haben, können diese Entscheidungen sogar im Nachhinein wieder aufgerollt werden, was in diesem letzten Punkt  an das soziokratische Prinzip erinnert, dass die meisten Entscheidungen revidierbar sind. Außerdem ist klar, dass jener eben angesprochene gemeinsame Geist nicht in Stein gemeißelt sondern einem immer fortwährenden Entwicklungs- und Veränderungsprozess unterworfen ist. Das geht soweit, dass sogar Einzelpersonen neue kollektiv gültige Konsenskriterien aufstellen können. Cecosesola ist hochgradig adaptiv. Verändern sich relevante Parameter in der Innen- oder Außenwelt, passt sich der Dachverband an. Der beste Beleg dafür ist wohl die nunmehr 55 jährige Geschichte in einem auch wirtschaftlich extrem schwierigen Land.

Auf diesem Weg wurde den Kooperativistas auch klar, dass die eigenen kulturellen Wurzeln ein maßgeblicher Aspekt der täglichen Arbeit und ihres Gelingens oder Scheiterns sind. Sie arbeiteten diese Wurzeln heraus, auch und gerade im Gegensatz zu westlichen Kulturmustern und Verhaltensweisen. In einem wahrhaft systemischen Umfang durchdrang Cecosesola die Zusammenhänge kultureller und individueller Aspekte, Arbeit und Beziehung sowie der organisationalen und persönlichen Veränderung. Und so verwundert es auch nicht, dass die Autor:innen eindeutige, ausgesprochene Bezüge zum Selbstorganisations- und Autopoiesekonzept von Humberto Maturana herstellen.

“Auf dem Weg” gibt es keine immer klaren Meilensteine oder Bezugspunkte. Es gibt vielmehr eine Menge Unsicherheiten, die den Mut brauchen, um sich diesem Nichtwissen zu stellen. Bislang wurde dieser Mut belohnt. Wohin die Reise führt ist ungewiss.

Fazit: Ein Fallbeispiel (und Buch)  für alle, die sich für extreme Formen gleichberechtigter, partizipativer und demokratischer Zusammenarbeit interessieren, jenseits aller bisherigen Organisationsmodelle. Allerdings bedarf es des Mutes, sich erstens nicht von sozialistischen Assoziationen abschrecken zu lassen und zweitens sich auf eine Reise zu begeben, die möglicherweise die eigenen Ängste vor einer radikal neuen Organisationsform freilegt.

 

Herzliche Grüße

Andreas

 

Fußnoten

[1] Venezuela weist 2018 eine Tötungsrate von 81,4 Tötungen je 100.000 Einwohner:innen. Jamaika folgt mit deutlichem Abstand mit 57. Selbst Mexiko liegt nochmals weit darunter mit 24,8.

 

Literatur

Bildnachweis

  • Beitragsbild: ©Cecosesola, Screenshot Startsite

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