Die Wachstumsfalle: Immer wieder ist im Kontext von Wirtschaft und ihrer Entwicklung von Wachstum die Rede. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass ein Unternehmen zwangsläufig wachsen müsse, um die entstandenen Produktivitätsgewinne gewinnbringend einzusetzen und um “Ressourcen”, in den meisten Fällen ist damit Personal gemeint, zu halten. Käme es nicht zu dem erwarteten Wachstum, so müsse man sich zwangsläufig von Mitarbeitern trennen, um die Existenz eines Unternehmens nicht zu gefährden.
Durch die Annahme eines gewissen Wachstums werden Investitionsentscheidungen gerechtfertigt und getätigt. Die Fixkostenstrukturen folgen diesen Annahmen. Tritt das erwartete Wachstum nicht ein, fallen die Fixkosten dennoch an und es kann zu zwei grundsätzlichen Szenarien führen:
- Die anfallenden Fixkosten sind in einem Rahmen, der dem betroffenen Unternehmen nicht weh tut. Es wird lediglich ein möglicher Gewinn reduziert oder im schlimmsten Fall fällt dieser weg. Das Unternehmen bleibt aber an sich stabil und ist nicht gefährdet. In diesem Fall werden dennoch eventuell versprochene Boni für die Mitarbeiter gestrichen, während Boni für das Top-Management bestenfalls reduziert werden.
- Die angefallenen Fixkosten übersteigen eine Höhe, so dass das betroffene Unternehmen in Zahlungsschwierigkeiten gerät und damit womöglich Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Es kommt zu Entlassungen.
In beiden Fällen werden der Markt und das Verhalten der Kunden für das Ausbleiben des Wachstums und die daraus resultierenden Konsequenzen verantwortlich gemacht.
Wachstum: ein fatales Dogma
Immer wieder stehen Wachstum und damit auch Produktivitätssteigerungen und Effizienz im Vordergrund. Eine Produktivitätssteigerung im kleinen einstelligen Prozentbereich gilt als völlig unzureichend und die Manager der Vorstandsetagen messen sich gegenseitig nicht nur mit der Höhe ihres persönlichen Gehalts und der Größe ihres Dienstwagens, sondern auch mit den erzielten Produktivitätssteigerungen. Doch was bringt das? Ist es wirklich so wichtig, immer nur zu wachsen?
Die Natur kennt ein immerwährendes Wachstum nur in einer einzigen Lebensform. Diese Lebensform vernichtet jedoch den Organismus, von dem sie lebt. Ein Krebsgeschwür wächst immer weiter und weiter, bis der Körper, von dem er lebt, nicht mehr lebensfähig ist. In der Folge tötet kontinuierliches Wachstum, es ist extrem ungesund. Genauso verhält es sich auch in der Wirtschaft. Unternehmen, die ständig auf Wachstum ausgerichtet sind, tun alles dazu, sich selbst zu vernichten. Dies ist vielleicht nicht unmittelbar eindeutig, wird aber klarer, wenn man die langfristigen Konsequenzen beleuchtet.
- Wohin soll denn ein Unternehmen dauerhaft wachsen? Die Menge an Kunden und an Ressourcen ist immer begrenzt, kann niemals unendlich sein.
- Konkurrenz belebt das Geschäft, so heißt es. Und in der Tat ist es nicht nur für Kunden, auch für Unternehmen gut, Wettbewerb zu haben. So kann man voneinander lernen und kontinuierlich besser werden. Durch ein gewisses Marktvertrauen ist sichergestellt, dass der Markt für alle groß genug ist und jeder so viel bekommt, um anständig leben zu können, denn zum Unternehmertum gehört unter anderem Respekt den Wettbewerbern gegenüber. Dieser ist aber nicht mehr gegeben, wenn man aufgrund des eigenen Wachstumswahns in einen Verdrängungswettbewerb geht, der auch zum Verdrängungskrieg werden kann. Das hat dann nichts mehr mit wirtschaftlichem Handeln sondern mit Gier zu tun.
- Man wird blind für Verbesserungen. Ein Unternehmen, dass immer nur auf Effizienz schaut, wird nicht mehr Zeit und Aufwand investieren, um neue Dinge auszuprobieren. Denn Ausprobieren und Lernen sind zunächst sehr ineffizient, aber dennoch sehr effektiv. Wenn man durch Wachstumsdenken effektivitätsblind wird, ist man nicht mehr in der Lage, Möglichkeiten der kontinuierlichen Verbesserung zu erkennen.
An diesen Punkten sieht man deutlich, dass die Gesetzmäßigkeit, die auf natürliche Organismen zutrifft, wonach kontinuierliches Wachstum schädlich, ja sogar tödlich, ist, auch auf Unternehmen zutrifft.
Nicht erwähnt wurden bisher die sozialen Folgen eines einseitig auf Wachstum ausgerichteten Handelns. Wenn Menschen lediglich zu “Ressourcen” reduziert werden und aufgrund weiterer Profitsteigerungen der Eigentümer und Top-Manager ihre Existenzgrundlage verlieren, besteht eine große Gefahr sozialer Spannungen, wie man sie aktuell in vielen Ländern der Welt beobachten kann. Aufgrund der Frustration in der Gesellschaft durch die immerwährend größer werdende Spreizung zwischen “arm” und “reich” fühlen sich viele Menschen abgehängt, was unter anderem bei Wahlen zu sehen ist, bei denen manche Menschen fragwürdigen und extremistischen Parteien ihre Stimme geben, die gegebenenfalls unsere Freiheit massiv gefährden.
Wachstumsfalle: Was Unternehmen tun müssen
Unternehmen müssen, so wie es im Namen steckt, unternehmerisch handeln. Dazu gehört zwar auch das Erwirtschaften eines gewissen Profits, denn sonst ist eine Existenz nicht möglich. Es gehört aber auch dazu, eine gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, sonst landen wir eben zwangsläufig in der Wachstumsfalle:
- Menschen sind eben keine “Ressource”, Menschen haben eine Ressource in Form von Zeit, die sie dem Unternehmen zur Verfügung stellen. Diese muss wertschätzend behandelt und angemessen bezahlt werden, so dass die Menschen von ihrer Arbeit anständig leben können. Eine Diskussion über einen Mindestlohn beispielsweise, sollte es eigentlich nicht geben.
- Wachstum kann zu bestimmten Zeiten zwar sinnvoll sein. Man muss sich als Unternehmenslenker aber immer fragen, was der Mehrwert davon und der Preis dafür ist. Eine Expansion ist nicht zwangsläufig sinnvoll und die langfristigen Konsequenzen müssen stets im Blick sein.
- Es ist nicht notwendig, grundsätzlich jedes mögliche Wachstum, das ein Markt eventuell hergeben könnte – und hier achte man auf den Konjunktiv – mitzunehmen. Beispielsweise wurden 2010 in China noch Wachstumsraten größer 10% angenommen. Tatsächlich kamen nicht einmal 7% heraus. Die Unternehmen, die sich auf das vermeintliche Wachstum in Form von Investitionen gestürzt haben, bekamen danach Probleme, weil die Fixkosten trotz des nicht eingetretenen Wachstums vorhanden waren.
- Man kann ein Wachstum auch als Erneuerung begreifen. Ein Organismus in der Natur erneuert sich ebenfalls nach einer gewissen Zeit. Beim Menschen geht man davon aus, dass alle sieben Jahre sämtliche Zellen einmal erneuert wurden. Wenn man für Unternehmen Wachstum in Form einer Weiterentwicklung und damit Erneuerung begreift, ist dies ein sinnvoller und gerade in heutigen Zeiten, in denen Märkte und Kundenerwartungen volatiler geworden sind, ein wichtiger Schritt. Dies ist jedoch nur möglich, wenn man nicht einseitig auf Effizienz und Produktivität schaut, sondern auch viel Zeit für Lernen und Ausprobieren verwendet.
- Die klassische Trennung von “Kopf” und “Hand”, also das Management (“oben”) denkt, die Mitarbeiter (“unten”) arbeiten, muss verschwinden. Bei den Mitarbeitern steckt ein großes Ideenpotential. Es gehört zur primären Aufgabe von Führungskräften, die Menschen dahin zu entwickeln, ihre Ideen zu äußern, Dinge auszuprobieren und durch Fehler besser zu werden. Hier die Fehlerkultur ein ganz entscheidender Faktor, denn in Unternehmen, die auf Effizienz und Produktivität schauen, sind Fehler immer ein Malus, dabei gehören sie zu jeder menschlichen Entwicklung dazu und enthalten die Basis für jede Verbesserung.
Alles nur Sozialromantik?
Unternehmen müssen in weiten Teilen umdenken. Das heute einseitig auf Wachstum ausgerichtete Denken und Handeln ist eben kein wirtschaftliches Handeln, sondern vielmehr ein egoistisches, mitunter ein von Gier getriebenes Verhalten. Die erwirtschafteten Gewinne, die häufig kurzfristig sind und den betreffenden Unternehmen langfristig eher schaden als nützen, werden lediglich auf eine kleine exklusive Schicht, nämlich auf die Eigentümer und das Top-Management, verteilt. Die eigentlichen Macher, also die Mitarbeiter an der Basis, gehen dabei meistens leer aus.
Bereits 2006 formulierte der deutsche Volkswirt Niko Paech die Theorie der “Wachstumsrücknahme” oder im Gesamtkontext auch als “Postwachstumsökonomie” bezeichnet (Vgl. sein Buch “Befreiung vom Überfluss“). Seine Idee besteht darin, eine Wirtschaft zu leben, die auf den Menschen ausgerichtet ist und für die Gesamtheit der Gesellschaft da ist und nicht umgekehrt.
https://youtu.be/1OtmI07aW2M
Wenn man derartige Ansätze verfolgt und propagiert, muss man sich oft den Vorwurf gefallen lassen, man wäre ein Illusionist und hätte nicht verstanden, wie Wirtschaft nun mal funktioniert. Dies muss aber klar bestritten werden. Derartige Ansätze sind in einigen, meist kleinen und mittelständischen Unternehmen, heute schon existent.
Als Beispiele seien hier Unternehmen, wie Sonnentor (Kräuter, Tee, Gewürze aus biologischem Anbau) und die Waldviertler Schuhwerkstatt (beide aus Österreich), sowie Trigema und Liqui Moly (beide aus Deutschland) genannt, deren Eigentümer eben diese Ansätze, wie sie auch im Kodex des “Ehrbaren Kaufmanns” formuliert sind, vorleben und praktizieren. Aber auch große Konzerne können als Beispiel dienen. Der japanische Automobilhersteller Toyota hat seit vielen Jahrzehnten eine Tradition, Mitarbeiter aktiv in die Verbesserungsarbeit einzubeziehen und lebt eine sehr offene Fehlerkultur. Lieferanten werden stets anständig bezahlt und es werden ihnen langfristige Perspektiven gegeben (z.B. Verträge von 10 Jahren und mehr). Auch wenn Toyota heute der weltgrößte Automobilhersteller ist, so war bei Toyota Wachstum nie ein Fokus, man hat Wachstum sogar bewusst begrenzt.
Es ist Zeit, umzudenken. Unternehmen müssen sich gerade in der heutigen Zeit weit mehr als in der Vergangenheit ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein. Nur so sind ein langfristiger wirtschaftlicher Erfolg und eine friedliche Gesellschaft möglich.
Herzliche Grüße
Mario
Weiterführende Quellen
Bildnachweis
- Beitragsbild: Andreas Zeuch
Danke, Mario! Punktlandung schon bei der Premiere. Der Text regt an, einige Gedanken dazu stellen…
Wachstumsfixierte Unternehmen werden nicht nur blind für (kontinuierliche) Verbesserung, sie verspielen meist auch die Chance auf echte Innovation: Die Performance Engine eines Unternehmens setzt auf die Erfüllung kurzfristiger Ziele und die Nutzung bzw. den Ausbau vorhandener Wettbewerbsvorteile. Vorherrschende Normen und Praktiken, sowie Strukturen und Entscheidungsprämissen sind dafür möglichst nicht infrage zu stellen. Exploitative Aktivitäten führen zu einem erfolgsgetriebenen „Entwicklungs“pfad (success trap) und lassen keinen Raum für Innovation (von Produkten, Dienstleistugen, Geschäfts- und Führungsmodellen).
Die klassische Trennung von „Kopf“ und „Hand“ nehme ich nicht länger als stringent wahr. Auch (sehr) hierarchisch geführte Unternehmen haben längst erkannt, dass die Mitarbeiter und deren Wissen wirklich eine Ressource sind (natürlich im wirtschaftlichen Sinn). Da die oben/unten Denke aber an sich nicht infrage steht, sind die Opportunitätskosten für systemische Veränderungen oft sehr hoch und der Wandel träge.
Nur wenige Unternehmen lassen sich bewusst auf einen tiefgreifenden Veränderungprozess ein, weil der Umgang mit Ungewissheit und Dynamik Angst macht. Operative Betriebsamkeit ist hier ein Muster, das man gut „kann“ und „Zeitmangel“ eine Erklärung, weshalb die Säge nicht geschärft werden kann.
Beste Grüße,
Karin
Hallo Mario,
erst einmal herzlich willkommen im Autorenteam. Freut mich sehr. 🙂
Du sprichst mir aus der Seele. Wir Menschen haben uns mit den Spielregeln der Wirtschaft, die Wachstum inhärent in sich bergen, zu einem Krebsgeschwür entwickelt. Und hier komme ich gleich auf den Punkt: Die Spielregeln. Menschen werden durch Strukturen im System, wie Spielregeln welche darstellen, im Denken und Handeln konditioniert. Also die Spielregeln sind es, die die meisten Unternehmen nach Wachstum streben lassen. Zu sagen: “Hört auf, wachsen zu wollen!” ist vergleichbar, als wenn man einem Fußballspieler sagt: “Höre auf Tore zu schießen!” Es funktioniert nicht.
Nun will ich uns Menschen natürlich nicht aus der Verantwortung lassen. Denn wir haben ja auch die Spielregeln der Wirtschaft definiert und umgesetzt. Sie sind kein Naturgesetz. Sie könnten auch anders sein. Will man also Änderungen herbeiführen, muss man die Regeln ändern.
Nun noch ein wenig mehr zu den Spielregeln und warum sie derzeit so sind.
Die Finanzwirtschaft wächst durch den Zinseszins exponentiell. Die Wachstumsrate der Realwirtschaft muss der Kapitalzinsrate der Finanzwirtschaft Stand halten, was unmöglich ist und negative Folgen nach sich zieht. Um den volkswirtschaftlichen Kreislauf am Laufen zu halten, muss Geld im Umlauf sein um Investitionen zu tätigen. Dafür wird der Zins gesenkt, um einen Anreiz für Kredite zu schaffen. Dadurch vermehren sich einerseits die Schulden und auch die zu zahlenden Zinsen an die Kreditgeber. Das bedeutet, das Geld vermehrt sich exponentiell ohne das dem ein Wert gegenüber steht. Ein absoluter Irrsinn.
Allerdings vermehren sich dadurch auch die Schulden exponentiell. Die Menschen, die weniger aus Ihrem Ersparten an Zinsen einnehmen als an Zinsen ausgeben, sind Verlierer dieses Zyklus. Die Kosten der Zinsen sind dabei nicht nur die direkten Zinsen, die die Menschen für ihre eigen aufgenommenen Kredite, zum Beispiel Haus oder Auto ausgeben, sondern auch die Zinsen, die im Endpreis eines Produktes von den Unternehmen hineinkalkuliert wurden. Man muss die Betrachtung ja auf die gesamte Volkswirtschaft ausdehnen. Im Rahmen der Produkterstellung durchläuft ein Produkt viele Phasen, wo auf jeder Wertschöpfungsstufe Zinsen hineingerechnet werden. Im Durchschnitt aller Endpreise kommen wir dabei auf ungefähr 50 Prozent. Bei Getränken ist es weniger (ca. 30 Prozent) und bei Mieten und Immobilienkäufen mehr (ca. 75 bis 80 Prozent). Gehen wir also vom Mittelwert aus, dass mit jedem Euro den wir ausgeben, 50 Cent auf Zinsen entfallen und nur 50 Cent auf den eigentlichen Wert des Produktes.
Machen wir jetzt mal eine kleine Rechnung auf. Wenn wir im Monat 3.000 Euro netto verdienen und diese vollständig ausgeben, zahlen wir 1.500 Euro Zinsen. Wenn wir auf die Ersparnisse monatlich 1.500 Euro Zinsen kassieren, haben wir noch immer nichts gewonnen. Um monatlich 1.500 Euro Zinsen zu bekommen, müssen wir zum beispielhaften Ausgabesatz von 3 Prozent 600.000 Euro angelegt haben (600.000 Euro mit einem Satz von 3 Prozent verzinst ergibt einen Betrag von 18.000 jährlich, was wiederum 1.500 Euro monatlich entspricht). Wow. Und dann zählen wir immer noch nicht zu den Gewinnern des Systems, da wir von den Zinsen nicht mehr bekommen als wir ausgeben. Es erfolgt eine Umschichtung von Unten nach Oben. Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer.
Wachstum ist so lebensnotwendig für das Überleben in der Wirtschaft, wie das Atmen für uns Menschen. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer, was zum Kollaps des Systems führt. Erste Anzeichen sehen wir wohl gerade. Oder?
Wie gesagt, ein bisschen Mathematik reicht, um die Spielregeln unserer Wirtschaft aufzudecken. Mehr dazu gerne hier: http://blog-conny-dethloff.de/?p=329.
Lasst uns die Spielregeln ändern!
BG, Conny