Dies ist der Beginn einer Artikelserie über das Modell für lebensfähige Systeme (Viable System Model) und den darin enthaltenen nützlichen Einsichten für komplexe Organisationen – und übrigens mein erster Post als neuer Autor im Team. 🙂
Zunächst: Wozu ist das Viable System Model da?
Welche Ergebnisse kann es im Umfeld der Organisationsentwicklung erbringen und was hat das mit Unternehmensdemokratie (UD) zu tun?
Das Viable System Model (VSM) gehört im wissenschaftlichen Sinne zur Kategorie der Management Kybernetik, die sich selbst als die Wissenschaft von der effizienten Organisation definiert. Der Begriff der Effizienz darf nicht nur einer messbaren Wirtschaftlichkeit untergeordnet werden, vielmehr ist Effizienz hier ein ganzheitliches Optimierungs-Konzept, das viele Aspekte beim Aufbau und der Weiterentwicklung einer Organisation berücksichtigt:
- Entwicklung und Betrieb nachhaltiger Geschäftsmodelle, die durch agiles Handeln auch in instabilen Umgebungen eine interne Stabilität bereitstellen (Resilienz),
- Förderung von Zusammenarbeit, die besonders in wissensbasierten Bereichen existentiell ist (Wertschätzung), durch eine Fehler- und Lernkultur (Adaption),
- Neue Produkte und Services (Innovationen) werden passgenau für die Umgebung entwickelt und so die Zukunftsfähigkeit der Organisation sichergestellt (Transformationsfähigkeit)
- Jeder Tag in einem wahrhaft lebendigen System bedeutet mit der Veränderung von Komplexität umzugehen und dem „Fluß der Dinge“ gelassen zu begegnen (Change).
Konkreter: Was ist das Viable System Model?
Die kürzest mögliche Antwort lautet: es ist eine Alternative zu den üblichen Organisations-Diagrammen mit denen versucht wird, komplexe Systeme zu steuern. Obgleich es natürlich auch weiterhin Organisationen gibt, welche an den Erfolg einer Matrix-Steuerung im wahrsten Sinne des Wortes glauben:
Das Modell beschreibt auf einer Meta-Ebene die notwendigen Bestandteile und die inneren Zusammenhänge eines Systems, dem es gelingt, sich selbst in einer dynamischen Umwelt aufrechtzuerhalten (Austausch von Ressourcen) und anzupassen (Lernen, Wachstum), sowie durch die Verteilung von Macht (Autonomie, Hierarchie) den Zweck der Organisation bestmöglich zu erfüllen. Das VSM wurde erstmalig 1959 von Stafford Beer in seinem Werk „Management and Cybernetics“ dargelegt.
Dieser Veröffentlichung ist eine lange Phase der wissenschaftlichen Modellierung vorrausgegangen, denn das Modell hat in vielerlei Hinsicht starke Einsichten zu bieten, welche Beer durch eine extrem sorgfältige Vorgehensweise absichern wollte.
Es ist also zuvorderst eine theoretische Grundlage, welche eine Aufsicht auf ein komplexes (nicht-lineares) System erlaubt. Und man mag darüber streiten, ob eine Theorie grundsätzlich vonnöten ist, jedoch versetzt zumindest mich eine Theorie in die Lage, ein systematisches Verständnis von Zusammenhängen zu gewinnen.
In diesem Kontext sei erwähnt, dass es beim VSM nicht nur explizit um Unternehmen geht, sondern das das Modell sich auf jede Art von „einem Ganzen, dass aus Einzelteilen aufgebaut ist“ bezieht. Somit sind die im Modell beschriebenen Prinzipien sowohl auf das zentrale Nervensystem, einen Ameisenstaat oder einen globalen operierenden Konzern zu übertragen (es ist gleichgestaltig, isomorph).
Jedes der zuvor genannten System-Beispiele muss mit Komplexität umgehen und hat in seinen vielen Teilprozessen als Ergebnis die notwendige „Lebensfähigkeit“ zu produzieren.
Zwei Seiten der gleichen Medaille?
Hier tun sich also schon direkt begriffliche Parallelen zur Idee der Unternehmensdemokratie auf, wenn es um Schlagworte wie Partizipation, Potenzial-Entwicklung, Nachhaltigkeit oder Sinnstiftung geht. Daher möchte ich in einer ersten Näherung die Wesensverwandtschaft aufzeigen und darstellen, warum das VSM und Unternehmendemokratie als zwei Seiten der gleichen Medaille betrachtet werden können.
Gegenüberstellung Begrifflichkeiten und Phänomene
Unternehmensdemokratie | VSM |
Selbstbestimmung | Autonomie |
Mitbestimmung | Selbstorganisation |
Verteilung von Macht (im politischen Betrieb bekannt als: Legislative, Exekutive und Judikative) | Verständnis von Management als Servicefunktion in einer spezifischen funktionalen Rolle |
Potenzialentwicklung des Einzelnen und des gesamten Unternehmens, Abbau von Silodenken und interner Konkurrenz | Besonders das sog. übergeordnete Management muss eine Umgebung innerhalb der Organisation schaffen, in welcher die wertschöpfenden Einheiten den Zweck der Organisation erfüllen können |
Sinnstiftung und Sinnkopplung | POSIWID (Purpose Of a System Is What It does), der Zweck des Systems ist das, was das System erfolgreich leistet |
Gemeinwohl | Erkenntnis, von einer nährenden Umgebung abhängig zu sein, die nicht durch die eigene Aufrechterhaltung zerstört werden darf |
Abstimmungen sind notwendig, weil es nicht „die eine“ Wahrheit gibt, um Probleme zu lösen | Es gibt kein richtig oder falsch sondern nur: es funktioniert oder es funktioniert nicht |
Die Ähnlichkeiten erscheinen nachvollziehbar, wenn insbesondere der zweite Teil des 1. Prinzip des Managements von Stafford Beer zu Rate gezogen wird, in welchem es heisst:
„(Management Handlungen) … sollten derart gestaltet sein, dass sie geringste Schäden für die Menschen und die Kosten verursachen.“¹
Der Mensch und dessen Schutz ist also wichtiger als das Kapital, wenngleich es ohne Kapital in einem kapitalistischen System nicht geht, weshalb Stafford Beer dies auch entsprechend würdigt. Er schrieb über Geld mal sinngemäß: Es ist wie eine physiologische Konstante im Körper (z.B. Blutdruck). Keinen Blutdruck zu haben ist schlecht (dann bin ich vermutlich tot), aber nur durch Blutdruck kann ich auch nicht existieren – es braucht noch mehr.
Daher möchte ich zur Frage des Menschenbilds kommen und benennen, wozu das VSM im ethischen Sinne dienen soll. Beer hat 1975 in einer Essay-Reihe zum Thema Designing Freedom einen politischen Zweck für das VSM definiert. Zwar ist dieses Zitat nicht expressis verbis auf Unternehmen(sdemokratien) bezogen, doch offenbart es eine dem Menschen zugewandte Haltung, die ebenso ein elementares Merkmal der UD ist:
„I have expressed the view that the whole business of government, that gargantuan institution, is kind of a machine meant to operate the country in the interests of individual freedom. But, for just the kinds of reason examined …, it does not work very well – so that freedom is in question to a greater or lesser extent in very country of the world. So, I declared, let us redesign the „liberty machine“ to be, not an entity characterized by more or less constraint, but a dynamic viable system, that has liberty as its output.“
Noch demokratischer geht es meines Erachtens eigentlich nicht.
Im Verlauf der weiteren Artikel zum VSM werden noch weitere Ähnlichkeiten aufgezeigt, um daraus Handlungsoptionen abzuleiten, Unternehmen demokratisch(er) und damit lebensfähiger machen. Dabei freue ich mich besonders auf den Austausch mit Conny Dethloff und unser gemeinsames Sparringsformat, um die Serie mit Leben zu füllen und daraus eine Reise des Verstehens zu gestalten.
One more thing, …
Es ist unabdingbar darauf hinzuweisen, dass das VSM nur ein Modell ist. Es ist also nicht die absolute Wahrheit, sondern schlicht ein Werkzeug. Und ein Werkzeug ist mehr oder weniger nützlich. Nach meinem dafürhalten ist das VSM außerordentlich nützlich die grundsätzlichen Dynamiken in einer komplexen Organisation zu verstehen und gleichzeitig die Fallstricke zu erkennen. Es ist insofern eine Plattform für Veränderung, um Probleme aufzulösen (und eben nicht nur zu „lösen“). Dafür braucht braucht’s aber keine Helden in Anzügen mehr, sondern Gemeinschaften, welche die notwendigen Aufgaben selbstbestimmt erkennen und eigenverantwortlich erledigen.
Falls nun jemand neugierig geworden ist und mehr über das VSM wissen will, dem möchte ich auf mein Buchprojekt ans Herz legen. Auf intelligente-organisationen.de gibt es weitere Infos und kostenlose Downloads zum Modell.
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Fußnote:
1. Prinzip des Managements in der vollständigen Fassung
„Varietäten des Managements, der Operation und der Umgebung TENDIEREN DAZU, durch ein institutionelles System zu diffundieren; diese Varietäten sollten derart gestaltet sein, dass sie geringste Schäden für die Menschen und die Kosten verursachen.“
Bildnachweis
- Beitragsbild & Abbildungen im Text: Mark Lambertz
[…] ganz weit oben auf ihrer Liste stehen haben. Nach Deinem Vortrag auf der Lesung, der Lektüre eines Blog-Artikels von Dir und meinen eigenen ersten Leseerfahrungen mit Stafford Beer (Dein Buch habe ich noch nicht gelesen, […]