Warum ist Partizipation wichtig?

„Wir waren ja eigentlich schon mal lauter und weiter“, sagte die ältere Dame neben mir halblaut, aber mit Nachdruck, „in Sachen Partizipation damals in den 70ern.“ Ich schmunzelte. Spontan dachte ich an Janis Joplin, Flower Power, freie Liebe und Revolution. An die riesige Sonnenbrille meiner Mutter, an die quietschbunten Hosen und knallkurzen Röcke.

Gute dreieinhalb Jahre ist es jetzt her, dass der damals noch potentielle Stuttgarter OB, Fritz Kuhn, sich in einer Abendveranstaltung den Fragen der Bürger gestellt hatte und es ging – wen wunderte es – in vielen Wortmeldungen um Stuttgart21 und darum, wie die Bürger dabei um ihre Beteiligung gebracht wurden. Ein wundes Thema dieser Bahnhof, immer noch. Allmontäglich finden weiterhin Demonstrationen statt. Auch die sogenannte Mahnwache existiert noch – gegenüber vom Bahnhof. Unabhängig davon, wie man zum Projekt steht, es ist ein Musterbeispiel an Ignoranz  gegenüber bürgerschaftlicher Beteiligung, bei dem man bis in kleinste Detail nachvollziehen kann, wie Kapital und Macht Partizipation aushebeln können. Ein Armutszeugnis für eine prosperierende Stadt, der Kölner Klüngel scheint dagegen ein Kindergeburtstag zu sein.

Früher war mehr Mitbestimmung?

„Damals“, diesmal flüsterte die Dame, „sind wir dauernd auf die Straße gegangen. Und ich war außerdem in der Gewerkschaft, da ging es richtig rund, wir haben so oft gestreikt.“ Natürlich hatte der OB keine wirklichen Antworten zu Stuttgart 21 und die weitere Veranstaltung plätscherte so dahin, aber die Worte der Dame arbeiteten in mir. Dunkel erinnerte ich mich, dass meine Mutter auch einige Male von Betriebsstreiks gesprochen hatte und dass wir das Thema „Mitbestimmung“ im Politikunterricht behandelt hatten. Ich erinnerte mich sogar noch daran, dass wir Zeitungsartikel zur „35-Stunden-Woche“ sammeln sollten. Der Begriff Mitbestimmung ist vielfältig belegt und in einem einzigen Artikel nicht in Gänze zu fassen, aber war es wirklich so? Gab es damals mehr Mitbestimmung in den Firmen als heute?

Betriebliche Partizipation per Gesetz

Tatsächlich gibt es das Betriebsverfassungsgesetz, in dem die Mitbestimmung durch Beschäftigte geregelt ist, im Wesentlichen schon seit 1952. Das Mitbestimmungsgesetz (seit 1976) regelt die paritätische Besetzung eines Aufsichtsrats in Kapitalgesellschaften mit mehr als 2000 Beschäftigten. Beschäftigte können ihre Interessen von Betriebsräten gegenüber vertreten lassen. Betriebsräte können in Betrieben ab 5 Mitarbeitenden gegründet werden. Laut Hans-Böckler-Stiftung liegt die Wahlbeteiligung bei Betriebsratswahlen konstant bei rund 80%. Andererseits macht die Stiftung darauf aufmerksam, wie stark sich Betriebsführungen auch gegen die Gründung von Betriebsräten wehren – insbesondere in inhabergeführten Firmen.
Ein Arbeits- und Diskussionspapier der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena aus dem Jahr 2006 legt dar, dass u.a. auch die strukturelle Entwicklung von Industriebetrieben hin zu Dienstleistungsfirmen verantwortlich dafür ist, dass es weniger Betriebsräte in Deutschland gibt. Kann dieser Faktor ein Indiz dafür sein, dass es weniger Mitbestimmung gibt?

Schrumpfende Partizipation in KMU?

Vordergründig könnte man das annehmen, allerdings haben wir bisher nur von den gesetzlichen Vorgaben zur Mitbestimmung, nicht aber von der tatsächlichen Umsetzung gesprochen. In Deutschland finden sich 60% aller Beschäftigten in KMU. Laut Statistik stellten KMU 2013 99,3% aller deutschen Unternehmen. Das ist ein großes Potential, um Mitbestimmung und Partizipation auf ein breites Plateau zu heben. In KMU sind die Hierarchien traditionell flacher, es besteht die Möglichkeit, direkt mit der Führung zu interagieren statt sich von einem Betriebsrat vertreten zu lassen. Dies führt auch die Hans-Böckler-Stiftung als ersten Faktor für den Rückgang der Betriebsräte an.
Nachträglich muss ich der Dame widersprechen. Mitbestimmung und Partizipation ist in deutschen Unternehmen Normalität. Es gibt gravierende Unterschiede im Ausmaß an betrieblicher Partizipation, aber grundsätzlich ist die Möglichkeit zur Mitbestimmung nicht weniger geworden.

Angst und Desinteresse verhindern Partizipation

Dennoch hat die Dame in einem Punkt, den sie nicht explizit ausgesprochen hat, der in ihren Worten aber mitschwang, durchaus Recht: Die Motivation der Beschäftigten zur Partizipation ist weniger geworden. Natürlich greifen Medien jeden gewerkschaftlich organisierten Streik auf – man erinnere sich nur an den Streik der GDL (Gewerkschaft  Deutscher Lokführer) im letzten Jahr. Gehörte es für viele Beschäftigte in den 1970er Jahren zum guten Ton, sich für seine Rechte zu engagieren, ist dies heute oft anders. In Konzernen wie in mittelständischen Unternehmen gibt es unzählige Menschen, die bewusst nicht oder wenig partizipieren wollen. Die Gründe sind vielfältig und reichen von der individuellen Angst, Nachteile zu erleiden bis zum schlichten Desinteresse, wenn Beschäftigte sich nicht als Teil des Unternehmens begreifen.

Die „geschwächte Kooperation“

Partizipation fördert die Arbeitszufriedenheit
Partizipation fördert die Arbeitszufriedenheit.

Der US-amerikanische Soziologe David Sennett hat dieses Desinteresse mit „geschwächter Kooperation“ umschrieben. Laut Sennett braucht es ein stabiles „soziales Dreieck“ in Arbeitsbeziehungen. Dieses beobachtete er bei Fabrikarbeitern in Boston (1970), die eine starke Bindung an ihren Arbeitgeber hatten, obwohl dieser mitunter stark paternalistisch und wenig wertschätzend ihnen gegenüber agierte. Bei späteren Interviews mit Bankern, die während der Finanzkrise (2008) arbeitslos wurden, sah er den Zerfall dieses sozialen Dreiecks. Dieses soziale Dreieck ist informeller Art und besteht aus den Komponenten Vertrauen/wechselseitiger Respekt, verdienter Autorität und Kooperation in Krisensituationen. Es braucht den Faktor Zeit, um entstehen zu können und stabil zu bleiben – laut Sennet kann ein stabiles soziales Dreieck nur in langfristigen Arbeitsbeziehungen entstehen. In Zeiten, in denen Arbeitsverhältnisse jedoch kürzer, flexibler und unverbindlicher werden, sind auch die darin bestehenden Beziehungen fragiler und störanfälliger. Diese Anfälligkeit fördert Fehler und Irrtümer im Unternehmensgefüge – sowohl in der betrieblichen Kommunikation als auch auf der rein physischen Ebene der einzelnen Tätigkeit.

Mitsprache fördert Arbeitszufriedenheit

Kann Partizipation diese Anfälligkeit mindern? Die Psychologie bezeichnet mit Partizipation den Grad einer Kommunikationsaktivität. Je höher der Grad dieser Aktivität ist, d.h. je besser der betriebliche Informationsfluss von unten nach oben ist, desto höher ist die individuelle Arbeitszufriedenheit. Weiterhin können positive Partizipationseffekte eine erhöhte Produktivität, eine höhere Qualität in Entscheidungen und weniger Konflikte erwirken. Partizipation scheint also auf der individuellen Ebene ein Mittel zu sein, um die oben genannten Störfaktoren zu mindern.
Doch ist es nicht so, dass Unternehmen auch erfolgreich sind, wenn sie wenig Partizipation pflegen? Wenn Angst vor dem Management den Arbeitsalltag begleitet, wenn Fehler vertuscht werden müssen? Wenn das Betriebsklima eher von Konkurrenz denn von Kooperation getragen wird? Ja, auch diese Unternehmen waren und sind erfolgreich. Partizipation ist also kein Garant für wirtschaftlichen Erfolg, so scheint es.

Veränderte Rahmenbedingungen und Komplexität

Doch die Rahmenbedingungen im unternehmerischen Kontext haben sich geändert. Wir erleben einen Übergang von linearer zu nicht-linearer Systemdynamik. Die Dynamik wird durch diverse Einflüsse befeuert, u.a. durch die globale Vernetzung, die damit einhergehende technische Entwicklung und deren Auswirkungen sowie verschiedene kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen. Andreas hat in diesem Artikel bereits auf Ashby´s Law hingewiesen, eine Systemtheorie der Kybernetik, die hier ergänzend genannt werden sollte. Die Informationen, die zur Verfügung stehen, sind unsicher, mehrdeutig, komplex und unbeständig. Mutmaßlich gesicherte Annahmen, die in der Vergangenheit zum Erfolg geführt haben, taugen in diesem Kontext nicht mehr. Für Unternehmen ist es schlichtweg nicht mehr möglich, Prognosen für die Zukunft zu geben. Die Formulierung vom „Fahren auf Sicht“ ist ein unbewusster Hilferuf, weil man nicht weiß, wohin die Reise geht.

Beteiligung schafft Wissen

Und genau das ist der Punkt, wo Partizipation nicht mehr nur ein nettes Add-on für ethisch handelnde Unternehmenslenkerinnen ist, sondern reine Notwendigkeit. Sie sichert das Überleben des Unternehmens zwar nicht mit Garantie, macht es aber wahrscheinlicher. Durch den Fakt, dass im Kontext der steigenden Komplexität, das Wissen Einzelner nicht mehr ausreicht, ist es notwendig, weitere Akteure einzubinden und deren Wissen zu nutzen. Ein detailliertes Expertenwissen ist nicht mehr zielführend, es braucht Wissen, das einen Überblick schaffen kann. Dieses Wissen kann jedoch nur aus der Partizipation, dem Austausch und der Reflexion entstehen.

Partizipation fördert das Experiment

Die Partizipation hat noch einen weiteren Effekt und zwar die zeitliche Entschleunigung: Wenn Viele ihr Wissen einbringen und aufgrund dieses Wissens Entscheidungen getroffen werden, dauert es länger, als wenn nur Wenige Entscheidungen treffen. Dies mag im Unternehmenskontext im ersten Moment kontraproduktiv wirken. Dort geht es ja gerade um Schnelligkeit im Handeln, um konkurrenzfähig zu bleiben. Dennoch ist dieser Effekt sinnvoll, weil er den Raum und die Möglichkeit zum Experimentieren öffnet. Das Besondere an diesem Effekt ist, dass er nicht konstant linear auftaucht – die Entschleunigung tritt üblicherweise nur zu Anfang des Prozesses ein. Ist der Raum dann erst einmal geöffnet, steigen Dynamik und Energie und der ganze Prozess beschleunigt sich. Das Experiment wiederum ist die Voraussetzung, dass überhaupt etwas Neues entstehen kann. Also ist auch in diesem Zusammenhang Partizipation notwendig, denn Innovationen sind nicht nur wirtschaftlicher Motor, sondern für Unternehmen im Wettbewerb überlebenswichtig. Dass in diesem Zusammenhang demokratisch geführte Unternehmen die Nase vorn haben, brauche ich wohl nicht mehr zu erwähnen …
Übrigens: Über die Sache mit dem Bahnhof reden wir noch. Dauert ja noch ein bisschen, bis der fertig ist und im weiteren Bauverlauf sollte es mit Empathie und gutem Willen möglich sein, die Bürgerschaft doch noch vernünftig einzubinden.
Herzliche Grüße
Daniela

Bildquellennachweis:
Grafik © Daniela Röcker – Kultur-Komplizen
Foto: Public Domain

Zum Weiterlesen:
http://www.boeckler.de/1359_1374.htm
http://www.boeckler.de/mitbestimmung-2016.htm
http://www2.wiwi.uni-jena.de/Papers/wp-sw0406.pdf
http://www.ifm-bonn.org/studien/studie-detail/?tx_ifmstudies_detail[study]=5&cHash=95305334aeaf2b317d58aa2feae3a48c

Comments (1)

[…] nicht nur über unbeschäftigte Manager zu stöhnen oder faule Mitarbeiter zu fürchten, sondern ungehobene Potenziale in der Belegschaft zu entdecken? Ist das ein Denken, das im allmählichen Abschied von der Präsenzkultur nicht den […]

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