Vor ein paar Wochen stolperte ich über eine überaus spannende Veranstaltung: “Angst in Organisationen. Schattenseite der Transformationseuphorie”, veranstaltet von meinen Kollegen Alexander Kluge aus Berlin in Zusammenarbeit mit Siegfried Lautenbacher aus München. Es ging um die Angst, die entstehen kann, wenn sich Organisationen weitreichend verändern; also nicht nur an der einen oder anderen Stelle ein bisschen rumoptimieren, sondern vor allem das bisherige Managementmodell grundlegend hinterfragen und die Funktionalität und Sinnhaftigkeit formal-fixierter Hierarchie auf den Prüfstand stellen. Sofort war klar: Da muss ich hin! Natürlich. Denn am 15.06.2018 veranstaltete ich mit meinen Kolleg*innen in Berlin unsere 1. (Un)Konferenz Neue Konzepte für Neue Arbeit mit dem Schwerpunkt “Die Angst vor der Freiheit”, die NKNA18. Das Thema scheint in der Luft zu liegen.
Alleine die letzten Tage vor der Veranstaltung waren für mich – und sicher auch für die Macher und Mitwirkenden dieser Veranstaltung – beeindruckend: Die Zusagen hörten nicht mehr auf, am Tag des Meetups waren 119 Personen fest angemeldet. Angst zu thematisieren hatte also einen starken Sog ausgelöst, der für ein Meetup viele mobilisierte. Passenderweise ergab sich bereits im Vorfeld eine Diskussion zum Thema, das auch einige meiner Kolleg*innen und Kunden anzog, die wiederzusehen eine Freude war: Natürlich die Macher des Events, Alexander und Siegfried, Sabine Kluge, Ronny Grossjohann von Siemens, Christina de Vries von der itacs GmbH, Heiko Bartlog, Ingo Stoll und Birgit Wintermann von der Bertelsmann Stiftung.
Auf dem Podium eingeladen waren
- Dr. Ursula Schütze-Kreilkamp, als Leiterin Führungskräfte-Entwicklung der Deutschen Bahn AG
- Alexander Teschke, ehemals Direktor Personal & Recht, Mast-Jägermeister SE
- Bastian Buch, Director of Engineering, GoEuro
Somit war auf der Bühne ein interessantes Spektrum von einem ehemaligen Startup bis hin zu einem traditionellen Konzern vertreten.
Nach der Begrüßung durch Alexander und Siegfried wurden wir Teilnehmer zur Eröffnung zu einer Realtime Online-Umfrage eingeladen. Drei Ebenen wurden mit einer Skala zur Frage “Digitalisierung der Arbeitswelt: Von Angst (-5) bis Euph0rie (+5)” abgefragt. Und zwar die jeweils eigene Perspektive sowie eine Einschätzung bei Führungskräften und Mitarbeitern. Erwartungsgemäß tendierten die Teilnehmer*innen zu einer deutlich positiven Sichtweise (erinnert ca. +3), was auch Birgit Wintermann entsprechend in einem Tweet kommentierte, während die emotionale Reaktion bei den Führungskräften und Mitarbeiter*innen in einem mittleren Bereich eingeschätzt wurden.
Ich persönlich neige dazu, aus dieser Umfrage nicht allzuviel abzuleiten. “Die” Führungskräfte oder Mitarbeiter*innen im allgemeinen einzuschätzen erscheint mir fragwürdig. Aus meiner eigenen Erfahrung in Transformationen kann ich nur sagen, dass es alleine in einer Organisation schon sehr verschiedene Reaktionen und kein einheitliches Muster gibt. Wenn dann noch ein (arithmetischer) Mittelwert einer Mittelwertseinschätzung vorgenommen wird, scheint mir die Aussagefähigkeit der Ergebnisse nicht allzu groß.
Nach dieser kurzen einführenden Publikumsbeteiligung lag der Ball bei den Podiumsgästen, die Alexander um ein erstes Eröffnungstatement bat:
Ursula Schütze-Kreilkamp erklärte, dass aus Ihrer Sicht die thematisierte Angst im Zuge von Transformationsprozessen völlig normal sei. Angst ist für sie eine “Triebkraft zur Veränderung.”, was sie mit einem Bild illustriert: “Hätten wir keine Angst zu verhungern, säßen wir noch alle auf einem Baum.” So weit so gut. Jetzt, im Nachklang und der Aufarbeitung der Veranstaltung verstehe ich allerdings einen von ihr dargestellten Zusammenhang nur bedingt: Angst verunsichere und führt so zur Orientierungslosigkeit – aus meiner Sicht ist das eine Umkehrung der Kausalität. Ich persönlich erlebe, dass das Nichtwissen darüber, wo genau die Reise hingeht, Unsicherheit und Angst erzeugt. Nicht umgekehrt. Leider wird mir das erst jetzt beim Schreiben dieses Beitrags bewusst, sonst hätte ich gerne nachgehakt. Da Angst etwas Beklemmendes habe, würde Schütze-Kreilkamp lieber darauf fokussieren, dass die Angst darauf verweise, dass wir in einer Umorientierungsphase sind. Um nun die Angst aufzulösen, brauche es Ermutigung. Zudem wäre das Postulat der Stunde, alles müsse schnell gehen, problematisch. Wichtig sei, dass Mitarbeiter wie Führungskräfte ihre individuelle Zeit brauchen, um sich orientieren zu können. Dem wiederum kann ich nur aus vollstem Herzen zustimmen – Transformationen erfordern Geduld. Genau genommen müssen wir sogar dafür sorgen, dass sich die Belegschaften infolge der Agilisierung und Beschleunigung (der Beschleunigung) nicht komplett verlieren.
Last not least appellierte Schütze-Kreilkamps an die Menschlichkeit, indem wir unser aller Grenzen akzeptieren: Niemand weiß alles, jeder hat emotionale Grenzen. Es gehe darum, diese Grenzen und auch das Nichtwissen zu enttabuisieren und sich gleichzeitig dafür zu öffnen, dass auch “der kleinste der Mitarbeiter “vielleicht die zündende Idee haben könne.
Alexander Teschke sieht einen “geradezu mystischen Hype um das Thema Digitalisierung, der sich keiner von vornherein verschließen will.” Ein großes Problem bestünde dabei darin, dass erstens kein einheitliches Begriffsverständnis vorliegt und somit über völlig verschiedene Dinge geredet wird. Zweitens würde – und dem kann ich nur zustimmen – Digitalisierung vorwiegend technisch verstanden. Für Teschke aber ist es eben ein menschliches Thema. Was seiner Erfahrung nach daran liege, dass die Digitalisierung zu oft den Technikern überlassen würde, während andere glauben, es habe nichts mit ihnen zu tun. Teschke hatte am Morgen der Veranstaltung mit Vertretern aus dem Mittelstand geredet und gehört, dass Angst nicht vorhanden sei. Statt dessen gäbe es ein “negatives Grundrauschen, was da wohl auf uns zukommen wird.” – Ich muss gestehen: Da hätte ich dort gerne nachgehakt. Was soll das genau heißen? Ist die Angst tatsächlich nicht vorhanden? Für mich klingt das gerade mit dem Abstand zur Veranstaltung eher so, als wäre es eben mal wieder ein Tabu, Angst anzusprechen und so wird sie als “negatives Grundrauschen” verklausuliert.
Bastian Buch, als Vertreter eines ehemaligen nun 300 MA großen Startups steigt mit der Bemerkung ein, dass sie eigentlich immer mit “120% fahren”. Man müsse aufhören, Angst zu verteufeln, zu ignorieren oder als etwas Böses abzustempeln. Sie gehört einfach dazu, wenn man ganz ehrlich ist, auf jeder Ebene des Unternehmens.” Buch illustrierte dieses Statement anhand verschiedener Beispiele, die zumindest mir ziemlich plausibel waren. Zudem berichtet er von seiner Erfahrung, dass das offene Aussprechen von Sorgen und Ängsten ein wichtiger Schritt ist, der zur Verbindung und Gemeinsamkeit zwischen Mitarbeitern und Führungskräften führe. “Plötzlich öffnet sich da was.” Das ist aus meiner Sicht ein wichtiger Aspekt, den ich unter dem Stichword der “radikalen Besprechbarkeit” von Emotionen in der Arbeit via Twitter mit eingebracht hatte.
Siegfried Lautenbacher nahm dann diesen Faden auf: “Wenn Angst zum Thema des einzelnen gemacht wird, dann macht sie vielleicht krank und wir kommen vielleicht in neurotische Beziehungen. Wo schaffen wir denn die Dialogräume in Unternehmen, um das Thema Angst fließen lassen zu können?” Schütze-Kreilkamp hat sofort eine Antwort parat: Enttabuisierung durch direktes Thematisieren, egal ob in Gruppen oder Einzelgesprächen. Im Verlauf ihrer Reaktion kommt sie dann zu der ihrer Auffassung nach zentralen Frage: “Wie wollen wir miteinander leben? Das wird viel zu wenig erörtert, offensichtlich mach das auch Angst.” – Was soll ich sagen? Das zweite Kapitel meines letzten Buchs “Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten” lautet: “In welcher Welt wollen wir leben?” Ich kann nur zustimmen und ergänzen: Es ist genau diese Frage, die an den Anfang eines jeden Transformationsprozesses gestellt werden sollte. Unternehmen sind (noch) soziale Systeme, die von Menschen gegründet, aufgebaut und entwickelt werden. Damit stellt sich exakt diese Frage. Leider wird sie bislang vorwiegend implizit von den Gründern beantwortet, die sich viel zu oft eine Welt bauen, wie sie ihnen (alleine) gefällt. Ob sie das bewusst machen, sei dabei noch dahingestellt. Mir scheint das eher der Griff in die bekannten Schubladen der Aufbau- und Ablauforganisation. In langjährig bestehenden Organisationen wird diese Frage zudem kaum gestellt und wenn einer den Mut hat, läuft er oder sie Gefahr, als Esoteriker in die nächste Ecke gestellt zu werden. Ohne es durchdekliniert zu haben, vielmehr als kurzes Blitzlicht eines schreibenden Denkens hier und jetzt: Vielleicht ermöglicht diese Frage Antworten auf Angst in Organisationen.
Sabine Kluge machte daraufhin klar, dass wir HR in den letzten Jahren als “Restrukturierungsmaschine misbraucht haben”. Statt so weiterzumachen, braucht es neue Ansätze. Einer, den Sabine brilliant findet, erläuterte sie am realen Beispiel einer Kollegin, die in einem gewerblichen Umfeld dazu abgestellt wurde, die Menschen in der Fertigung zu begleiten und ihnen zur Seite zu stehen, um besser zu verstehen, was eigentlich um sie herum geschieht. Ein möglicher Ansatz, um vor allem der durch Nichtwissen ausgelösten Unsicherheit über das, was sich zukünftig ändern wird und auf einen zukommt, wirkungsvoll zu begegnen. Sabine konkretisierte das dann noch anhand eines Beispiels. In einem Veränderungsprozess wurden Poster mit Statements einzelner Mitarbeiter*innen aufgehangen, die von ihren Erfahrungen, neues Lernen zu müssen, berichteten und erzählten, dass dies sogar eine positive Erfahrung war. Auf diese sehr einfache Weise wurden andere Mitarbeiter*innen ins Gespräch gebracht, weil durch diese Poster der Raum des Schweigens verlassen wurde.
Nach einer knappen Stunde kamen dann die ersten Teilnehmer*innen nach vorne und klinkten sich in die Diskussion mit ein. Eine ersten Fragen lautete: Wie erzeugt ein Konzern ein Gemeinschaftsgefühl, das möglicherweise hilfreich und nötig ist, um Ängste aufzulösen? Schütze-Kreilkamp stellt klar, dass es natürlich verschiedene Geschäftseinheiten gibt, die wesentlich kleiner sind. Aber es bleibt “wahnsinnig schwer”. Es bliebe zweifelhaft, was da nachhaltig erreicht werden könne. Eine wichtige Frage, die sie in dem Zusammenhang stellte: “Woher nehmen wir denn die Kraft, um dieser Orientierungslosigkeit zu begegnen?”
Besonders hängen geblieben ist mir noch ein Beitrag von Ingo Stoll gegen Ende der Veranstaltung: Er öffnete den Horizont und brachte noch eine völlig neue Perspektive mit ein, die bis dahin nicht thematisiert wurde: Unsere Erziehung und Bildung. Wenn wir davon ausgehen, dass wesentliche Anteile von uns bis zum sechsten Lebensjahr maßgeblich geprägt sind, und wir bis dahin nicht gelernt haben, Veränderung zu umarmen und zu schätzen, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn 30, 40 Jahre später die hier diskutierten Probleme auftauchen. Exakt, das war genau das, was mir noch bei all dem Wichtigen, was bis dahin reflektiert wurde, noch fehlte. Wir können die entstehenden Ängste nicht breitflächig auflösen, wenn wir unsere Kinder und zukünftigen Generationen nicht zu neugierigen Menschen erziehen und bilden, die einfach Spaß an Veränderung und Neuem haben.
Wie immer bei solchen gehaltvollen Veranstaltungen: Ein Bericht ist nur ein müder Abklatsch. Es würde mich freuen, wenn ich Euer Interesse vielleicht wecken konnte, sich den oben eingebetteten Mitschnitt anzusehen, sofern das noch nicht geschehen ist. Meinen Dank an alle Beitragenden – es war spannend und inspirierend. Wir hatten dieses wichtige Thema aus der Perspektive der Wirtschaft, Politik und Kunst bei der #NKNA18 beleuchtet: mit Keynote Speakern aus Frankfurt, Oxford und Washington, mit 6 Workshops und 6 Sessions. Und einer interaktiven Fishbowl-Podiumsdiskussion. Hier geht’s zur Videozusammenfassung der #NKNA18.
Herzliche Grüße
Andreas Zeuch
Bildnachweis
- Beitragsbild: © Andreas Zeuch
Danke, es ist wirklich großartig, dass Du Dir die Zeit genommen hast, das alles in diesem Artikel zusammenzufassen. So kann ich wenigstens einen kleinen Einblick in diese interessante Veranstaltung erhalten. Es tut gut zu sehen, dass ihr euch die Zeit genommen habt darüber zu sprechen und so das Bewusstsein für diese Zusammenhänge zu erweitern. Danke Dir
Martina