Agile Führung: Vor kurzem wurde ich durch Svenja Hofert auf eine Studie über agile Führungskräfte aufmerksam: “Redefining Leadership for a Digital Age”. Ich finde es absolut begrüßenswert, wenn selbstbestimmte Arbeit in all ihren vielfältigen Formen und Konzeptualisierungen wie Agilität, Arbeiten 4.0, Neue Arbeit, Partizipation, Selbstorganisation und Unternehmensdemokratie wissenschaftlich geprüft und weiterentwickelt wird. Allerdings ist es manchmal auch erschreckend, wie wenig durchdacht da vorgegangen wird und welche wissenschaftlich eben nicht mehr haltbaren Vorurteile immer noch durch die Weltgeschichte grassieren.
Studie “Redefining Leadership”: Daten und Design
Für den quantitativen Teil wurden in der Zeit von September bis Dezember 2016 1042 Personen aus 78 Ländern und 17 Industrien mit einem online Fragebogen untersucht. Damit wurde eine Reaktionsquote von 7,5% erreicht. Die Teilnehmenden kamen aus dem mittleren und gehobenen Management (“mid to senior executives”).
Diese Daten wurden mit qualitativen Daten ergänzt: 19 Führungskräfte aus 10 Ländern wurden telefonisch oder per Videokonferenz mit einem halb-strukturierten Interview befragt. Die Fragen dazu wurden mit einer Teilmenge von Führungskräften entwickelt, die einen Mix aus etablierten Unternehmen, kleinen Startups und Unternehmen, die von Disruption betroffen waren. Diese Interviews wurden von November 2016 bis Januar 2017 durchgeführt.
Studienergebnisse
Vier Charakteristiken, die agile von nicht agilen Führungskräften unterscheiden
- Humble: Agile Führungskräfte sind in der Lage, Feedback zu akzeptieren und anerkennen, dass andere mehr wissen als sie. In Zahlen: 50% der agilen Führungskräfte sind gewillt zu lernen, aber nur 8% der nicht agilen und 86% agile unterstützen Teamentwicklung, nicht agile nur in 14%.
- Adaptable: Sie akzeptieren, dass Wandel etwas fortwährendes ist und dass es eher eine Stärke ist, die Meinung durch neue Informationen zu ändern, als eine Schwäche. 41% der agilen hören ihren Teams zu, aber nur 7% der nicht agilen Führungskräfte.
- Visionary: Sie haben einen klaren Sinn für langfristige Richtungen, sogar angesichts kurzfristiger Unsicherheiten. 50% der agilen sind an digitalen Strategien beteiligt, aber nur 30% nicht agile Führungskräfte.
- Engaged: Sie sind gewillt, internen und externen Stakeholdern zuzuhören, mit ihnen zu interagieren und zu kommunizieren. Das in Kombination mit einem starken Interesse an und Neugier für aufkommende Trends. 67% der agilen Führungskräfte teilen Informationen mit ihren Teams, aber nur 15% der nicht agilen Führungskräfte. Und 56% der agilen beobachten Kundenbedürfnisse, aber nur 11% der nicht agilen Führungskräfte.
Drei zentrale Verhaltensweisen
Die folgende Aspekte als Verhaltensweisen zu beschreiben, befremdet, aber ich gebe diese Ergebnisse hier so wieder, wie sie in der Studie zu finden sind.
- Hyperawareness: Agile Führungskräfte suchen das interne und externe Umfeld fortwährend nach Chancen und Bedrohungen ab. 62% der agilen Führungskräfte beobachten neue Technologien, aber nur 13% der nicht agilen.
- Informed Deision-making: Sie nutzen Daten und Informationen, um evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. 27% der agilen Führungskräfte nutzen Business Simulationen oder Szenarien zur Entscheidungsunterstützung, aber nur 1% (!) der nicht agilen.
- Fast Execution: Sie sind in der Lage, sich schnell zu bewegen und stellen Geschwindigkeit über Perfektion. 52% der agilen Führungskräfte nehmen Risiken auf sich, um Umsetzungen zu beschleunigen, aber nur 8% der nicht agilen.
Vier +1 Typen von Führungskräften
Von den 1042 befragten Führungskräften wurden 304 als agile Führungskräfte identifiziert, also 29,2%, was somit einem knappen Drittel entspricht. Für mich wäre das ein paar Reflexionen wert – denn das fast jede dritte Führungskraft von den Befragten als agil eingestuft wird, überrascht mich persönlich. Insgesamt wurden fünf verschiedene Typen herausgearbeitet:
- Agil (29,2%)
- Slow driving Leaders (6,9%): Führungskräfte, die möglicherweise einige der unten aufgeführten Charakteristika und Verhaltensweisen zeigen, aber ihre Entscheidungen nicht ausreichend schnell umsetzen.
- Careless driving Leaders (6%): Diesen Führungskräften nutzen keine oder wenige technische Datensammlung und -analyse. Die Autoren schreiben natürlich nur datenbasiert, aber das ist völlig fehlleitend und nicht geeignet, um verschiedene Entscheidungsprozesse zu unterscheiden, wie ich unten in der Kritik noch erläutern werde. Infolge dieser nicht ausreichenden Nutzung von digitalen Technologien für die Entscheidungsfindung laufen diese Führungskräfte Gefahr, leichtfertig zu führen. Das Ergebnis können dann Verzögerungen und Störfälle sein.
- Wrong direction Leaders (6,9%): Diesen Vertretern fehlt die Hyperawareness (Fußnote: kommt auf Deutsch besonders gut: “Hyperaufmerksamkeit” ?). Dadurch übersehen sie möglicherweise Optionen/Chancen oder Bedrohungen und treffen falsche Entscheidungen und setzen diese dann auch noch schnell um. Fraglich erscheint mir dabei allerdings die Annahme, es gäbe “objective Decisions” (a.a.O.: 25) – aus meiner Sicht absolut unhaltbar.
- Vermischte weitere (51%)
Grenzen und Schwächen
1. Fehlende begriffliche Grundlage
Die offensichtlichste Schwäche ist die mangelnde Begriffsklärung und -definition. Eingangs finden wir eine reichlich vage Prosa, die selbst in einer Bachelorarbeit nicht ausreichen würde, um sauber abzugrenzen, welcher Begriff denn nun eigentlich mit der Studie untersucht werden soll: “To lead successfully at any point in history requires a specific set of competencies and behaviors that mesh with the demands of the time. Different economic circumstances, technology landscapes, cultures, and social values require different approaches.” (Neubauer, R. (2018): Redefining Leadership for a Digital Age”: 4).
Was soll man dazu schon sagen außer abnicken? Und was ist nun “agile Führung”? Beziehungsweise noch grundlegender gefragt: Was bedeutet eigentlich “Agilität”? Das wird hier einfach vorausgesetzt, wobei es bei dem Begriff wie bei allen nicht naturwissenschaftlichen Fachbegriffen keinerlei offizielle und unstrittige Definition gibt. Mir persönlich ist wirklich völlig schleierhaft, warum man sich die Arbeit macht, über 1000 Menschen quantitativ zu befragen und mit weiteren 19 Personen Interviews führt, ohne dabei das Forschungsssujet klar definiert zu haben. Im Grunde könnte man sogar sagen: Unter diesen Bedingungen ist die gesamte Studie vollkommen fragwürdig, da kein Mensch außer den Studienautoren weiß, worum es denn nun genau geht.
2. Informierte Entscheidung als Vorteil in einem agilen Umfeld
Erstens muss ich sagen: Selbst heute, 15 Jahre nach Abgabe und Verteidigung meiner Dissertation zum Training professioneller Intuition, geht mir noch die Hutschnur hoch, wenn ich zum tausendsten Male eine Reduktion der Intuition auf Erfahrungswissen lese: “This requirement to rely on experience and intuition may seem inconsistent with the use of data and analytics to support decision-making, but it brings sharply to the fore how Agile Leaders need to be humble – only delivering personal, experience-based decisions as a final check, not automatically assuming they know the answers.” (a.a.O.: 21, kursiv: AZ)
Intuition als Erfahrungswissen ist nur ein wissenschaftlich fundiertes Erklärungsmodell. Es gibt, wie ich bereits 2003 in meiner Disseration “Training professioneller intuitiver Selbstregulation” und dann nochmal sieben Jahre später in “Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen” zeigte, noch zwei weitere langjährig empirisch abgesicherte Erklärungsmodelle: Unbewusste Wahrnehmung und Informationsverarbeitung sowie Spiegelneurone. Es gibt hunderte Experimente, die immer wieder stabil zeigen, dass wir unbewusst z.B. Muster wesentlich schneller erkennen, als bewusst. Und Intuition ist nicht nur bei Sachthemen hilfreich sondern – natürlich – insbesondere dann, wenn es menschelt. Und agile Welten und Arbeitsweisen sind besondere Herausforderungen für Teams, gerade was die menschliche Seite der Kollaboration angeht. Und was helfen da Datenanalysen? Genauso wenig, wie in Entscheidungssituationen, in denen JETZT entschieden werden muss, ohne lange aufwändige Datensammlungen und -analysen betreiben zu können. Es gilt:
Zweitens ist die Unterscheidung von erfahrungsbasierten und datenbasierten Entscheidungen vollkommener Nonsens. Selbst im Erklärungsmodell des Erfahrungswissen: Auf was basieren denn die Erfahrungen? Und dann kommt eben noch das Erklärungsmodell der unbewussten Wahrnehmung und Informationsverarbeitung hinzu: Was sind das anderes als datenbasierte Prozesse? Der große Unterschied ist nur, dass wir im einen Fall eine bewusste Steuerung der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung aufweisen und im anderen Falle nicht. Um meine Ansicht zum Abschluss unmissverständlich klar zu machen: Wir brauchen beides! Und natürlich haben wir heute ganz andere Optionen, Daten zu erheben, zu sammeln, zu sichten und zu analysieren. Keine Frage. Das hat eine Menge Vorteile – bringt aber auch neue Herausforderungen mit sich, wie die Autoren der Studie selber schreiben: “For example, leaders need to develop a talent for discriminating between useful information and background noise.” (a.a.O: 21)
Unterschiede die einen Unterschied machen?
Letztlich frage ich mich: Welcher Führungskraft, egal ob agiles Umfeld oder nicht, würden die oben beschriebenen Ergebnisse (Charakteristiken und Verhaltensweisen) nicht gut zu Gesicht stehen? Auch in einem noch so stabilen Umfeld (oder besser: vermeintlich stabilen Umfeld) wäre Bescheidenheit angebracht; oder Anpassungsfähigkeit, visionärer Geist und kommunikatives Engagement. Ja, in einem (hoch)agilen Umfeld werden diese Charakteristiken wichtiger – und eben deshalb werden sich die agilen Führungskräfte dementsprechend von den nicht agilen Führungskräften unterscheiden (auch wenn wir gar nicht genau wissen, was denn für die Autoren Agilität genau bedeutet). Aber nichts davon würde umgekehrt in einem stabileren und trägeren Umfeld Schaden anrichten. Es wäre für fast jede Führungskraft oder allen in FührungsROLLEN eine gute Sache.
Aber immerhin: Jetzt haben wir wieder ein Akronym mehr!
Herzliche Grüße
Andreas
*In dem verlinkten Beitrag von mir findest Du bei Interesse die aktuellen drei Erklärungsmodelle kurz dargestellt.
Literatur
Neubauer, R.; Tarling, A. & Wade, M. (2018): Redefining Leadership for a Digital Age. Global Center for Digital Business Transformation, MetaBeratung, IMD, Cisco
Bildnachweis
- Beitragsbild: Zeuch
- Studiencover
- Cover Feel it
Hi, gerade nach Lektüre der entsprechenden Studie über deinen Beitrag gestolpert… und kann mich nur aller Kritik anschließen. Besonders amüsant, oder traurig, fand ich auch die Bildung der Kategorie “other leaders”. Mit knapp 51% immerhin die Gruppe mit dem größten Gewicht. Als “Sonstiges” bleibt die Gruppe so natürlich ohne jegliche Definition und die Vermutung liegt nahe, dass hier methodisch unsauber und ohne angemessene Vorarbeit (bzgl Kategorisierungen etc.) vorgegangen wurde.
Schade: Bei 1000+ Teilnehmern hätte man auch bei einem quantitaiven Vorgehen sicher interessante, belastbare Ergebnisse gewinnen können.
Hi, bin gerade nach lektüre der Studie über deine kritik hier gestoßen und kann mich in allen Punkten nur anschließen. Zusätzlich fand ich die Bildung der Kategorie “Other leaders” noch amüsant bzw. traurig. 51% der Teilnehmer unter “Sonstiges” einzuordnen scheint mir doch etwas zu einfach gedacht oder – wahrscheinlicher – methodisch so unsauber bzw. ohne die nötige Sorgfalt gearbeitet zu haben, das am Ende eben nicht wirklich was trennscharfes/aussagekräftiges rauskommt.
Schade: Bei 1000+ TN hätte man mit einem quan. Vorgehen sicher interessante und belastare Ergebnisse gewinnen können.
Im allgemeinenen finde ich es schlicht krass, wie viele schlechte bzw. einfach unsaubere Studien es zum Thema Agilität gibt…immerhin, dass Design ist meistens ganz hübsch.
Cheers aus Köln
Daniel