Im zweiten Teil meiner Lean-New Work Serie hatte ich die vier Lean-Elemente Führung, Wertstromorientierung, Shopfloor Management, Problemlösung und KVP sowie der Zielentfaltungsprozess ausführlich vorgestellt. Diese Elemente tragen maßgeblich dazu bei, sich als Unternehmen der Herausforderung zu stellen, stetigem Wandel begegnen zu können. Darum geht’s in diesem letzten Teil dieser Serie.
Alle Aspekte zielen weniger auf reine Prozessgestaltung mit schnellen Ergebnissen in Kennzahlen ab, sondern beeinflussen maßgeblich Werte, Einstellung und Haltung – also die Kultur eines Unternehmens und somit auch die Art der (Zusammen-) Arbeit. Und genau deshalb bin ich der Meinung, dass Lean – wenn es denn so in der Unternehmenspraxis gelebt würde, wie beschrieben – als Evolution zu New Work interpretiert werden kann. Mir geht es weniger um die 100%-”richtige” Anwendung der Lean-Methoden, sondern um die Offenheit und den Mut, gemeinsam für seine Probleme Lösungen zu entwickeln und aus Fehlern zu lernen, mit dem obersten Ziel, den Kunden zufrieden und glücklich zu machen.
Auch wenn die Begriffe Selbstorganisation oder Unternehmensdemokratie nicht unmittelbar mit Lean Management in Verbindung gebracht werden, so gibt es doch viele Ansätze, die gegen eine hierarchische, starre Organisationsstruktur sprechen. Die Lean-Philosophie verkörpert ebenfalls, wie die Ansätze von New Work, eine offene, wertschätzenden Kultur. Für mich ist an dieser Stelle ganz entscheidend, wo sich eine Organisation befindet und welchen Reifegrad sie bisher erreicht hat. Das Aufstellen von Tischkickern oder der Ausbau von Pausenräumen in kreativen Freizeitzonen werden nicht über Nacht und auch nicht über Jahre dafür sorgen, dass aus einem hierarchisch geprägten Unternehmen mit traditioneller Führungshaltung ein modernes Vorzeigeunternehmen für Agilität, Selbstorganisation oder New Work wird. Neben den Führungskräften sollten auch die Mitarbeiter Veränderungen gegenüber offen eingestellt sein. Sinnkopplung und der Austausch auf Augenhöhe ist dahingehend entscheidend, Akzeptanz und Identifikation zu fördern: ansonsten kommen so Aussagen wie “was haben Sie sich denn jetzt wieder einfallen lassen?” oder “was soll der Quatsch?” zustande – Abwehrhaltung, Unverständnis, mangelndes Interesse.
Und genau deshalb glaube ich, dass der Lean- Ansatz Unternehmen helfen kann, erfolgreich den Weg in ein neues Zeitalter zu gehen und die eigene Kultur weiterzuentwickeln – denn der Weg ist das Ziel.
Wenn ich nun den Titel dieser Blog-Serie – Lean Management trifft auf New Work – Evolution, Ergänzung oder Widerspruch? – nochmals aufgreife, habe ich bisher nur eine Argumentation für den evolutionären Charakter vorgebracht. Doch gibt es nicht auch Widersprüche? Vielleicht ist dem aufmerksamen Leser im ersten Teil der Serie aufgefallen, als ich die Ergebnisse zweier Studien vorgestellt habe, dass häufiger das Wort “Implementierung” sowie auch “Best Practice” zu lesen war.
- “Der Lean-Reifegrad steht in Abhängigkeit zur Implementierung…”
- “… Implementierung von Lean Management hinsichtlich Strategie, Vision, Ziele, Prozesse und Leadership…”
- “Eine vollumfängliche, nachhaltige Implementierung – Reifegrad 5 // Best Practice-Charakter und Stufe 4 // Strategie und Organisation setzen die Lean Philosophie umfassend um…”
Im Lean-Kontext sind diese Wörter im gängigen Sprachgebrauch verankert. Google spuckt bei der Eingabe von “Implementierung Lean Management” 308.000 Ergebnisse aus, Bing 3.730.000. Ein Indiz dafür, dass die Einführung von Lean Management mit der Einführung eines neuen Betriebssystems oder mit der Einführung eines neuen Gesetzes gleichgesetzt wird – eine Gleichsetzung mit einem technisch-instrumentellen Prozess. Doch lässt sich die Weiterentwicklung einer Kultur oder die Arbeit am System tatsächlich anordnen und einführen? An dieser Stelle kann ich mich nur wiederholen – Lean ist nicht die Anwendung von Methoden – nein, Lean ist eine Frage der Haltung, eine Denkweise, eine Philosophie.
Und genau an diesem Punkt kann meines Erachtens nun ein Widerspruch zwischen Lean Management und New Work entstehen. Vielerorts ist die Meinung präsent, Lean ließe sich mit oder auch ohne Hilfe von geeignete Beratungsinstituten einführen. Mit “Unterstützung bei der Lean-Implementierung” werben verschiedenste Berater und Experten auf dem Markt. Das zeigt: Selbst innerhalb der Lean-Branche ist man sich in Teilen nicht bewusst, was der Gebrauch des Wortes “Implementierung” tatsächlich bedeutet. Ich nehme mich hier selbst nicht raus – auch ich habe einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, was wirklich hinter der Lean-Philosophie steckt und das diese nicht einfach implementiert werden kann. Ähnlich verhält es sich mit “Best Practice”. Diverse Konferenzen, Touren oder Events werden hierzu angeboten. Doch unterscheidet sich Implementieren maßgeblich zu “Copy-Paste”?
Kurzum: es kommt auf die Haltung und auf die Interpretation an – Wortwahlen wie “implementieren, in die Organisation bringen, die Organisation dazu bringen, dass…, anordnen oder Verantwortliche bestimmen” lassen darauf schließen, dass Lean auf eine andere Art und Weise verstanden wird, wie ich im zweiten Teil der Blog-Serie beschrieben habe. In diesem Fall widersprechen sich Lean und New Work aus meiner Sicht, denn mit Selbstorganisation, dem Prinzip der Freiwilligkeit und der eigenständigen Weiterentwicklung des Systems durch Leute aus dem System hat das wenig bis gar nichts zu tun.
Zu guter Letzt möchte ich das noch übrig gebliebene Wort aus der Blog-Überschrift beleuchten: Ergänzung. Als ich begonnen habe, mich mit Selbstorganisation, Agilität und Organisationsentwicklung zu befassen, waren zwei Fragen für mich sehr präsent – sind sie übrigens bis heute noch:
- Ist Selbstorganisation DIE einzigst wahre Organisationsform der Zukunft?
- Passt Selbstorganisation zu JEDER Organisation oder gibt es möglicherweise nur einzelne Bereiche, zu der sie passt?
Im Zuge meiner Recherche bin ich auf das Buch “Accelerate: Strategischen Herausforderungen schnell, agil und kreativ begegnen” von John P. Kotter gestoßen, indem er seine Theorie zu einer hybriden Organisation darstellt. Kotter ist davon überzeugt, dass eine Organisation aus zwei Betriebssystemen bestehen kann, die unterschiedliche Arbeitsweisen und Ziele verfolgen, jedoch trotzdem miteinander interagieren. Im Zusammenhang hiermit gefiel mir der Begriff organisationale Ambidextrie, der mittlerweile auch immer häufiger im Zusammenhang mit Industrie 4.0 fällt. Ambidextrie steht für Beidhändigkeit und zielt in diesem Kontext auf die Fähigkeit eines Unternehmens ab, sowohl forschen (Exploration) als auch parallel optimieren (Exploitation) zu können, um langfristig anpassungsfähig zu sein. Derzeit ist zu beobachten, dass sich Unternehmen mit der gleichzeitigen Umsetzung beider Aspekte schwer tun – gerade in traditionellen Betrieben liegt der Fokus klar auf der Optimierung des bestehenden Systems. Doch Disruption schreitet voran – gerade im digitalen Zeitalter…
Mir gefiel an dieser Stelle der Gedanke, Lean Management mit den New Work-Ansätzen zu ergänzen und Kotters Theorie des dualen Betriebssystems anzuwenden. Vielleicht ist die Netzwerkstruktur und Selbstorganisation besonders gut geeignet für das Schaffen von Neuem, für Forschung und Innovation? Vielleicht eignet sich die Wertstrom-Organisation mit der Lean-Denkweise ideal für das Verbessern des bereits Bestehenden? Ergänzung könnte ein vielversprechender Ansatz sein.
… doch was ist es nun: Lean Management trifft auf New Work – Evolution, Ergänzung oder Widerspruch?
Herzliche Grüße
Franziska
Überblick zur gesamten Serie:
- Teil #1: Quo Vadis Lean Management | Lean-Reifegrad in der Wirtschaft | Lean als Haltung und Philosophie
- Teil #2: Lean Elemente, die in Verbindung zu New Work stehen: Lean Leadership | Wertstromorientierung | Shopfloor Management | Hoshin Kanri
- Teil #3: Unterstützung Lean für New Work | hybride Organisation | Evolution, Ergänzung oder Widerspruch?
Bildnachweis:
- Beitragsbild: ID 137009917 © Alberto Andrei Rosu | Dreamstime.com
- Abbildungen im Text: © Franziska Gütle