Vor einigen Tagen kam es auf Facebook aufgrund eines Posts zu einem Dialog, der zum Ausgangspunkt für diesen Gastbeitrag wurde. Der etwas reißerische Aufmacher des Posts war zugleich auch ein Zitat eines im Handelsblatt erschienen Kommentars. In diesem wurden die zweifelsohne vorhandene Notwendigkeit zur Reformierung des Kapitalismus mit der möglicherweise korrekten Tatsache verknüpft, dass der Durchschnittsamerikaner (angeblich?) von Monatsscheck zu Monatsscheck leben würde.
Der Duktus des Korrelats war offensichtlich und dazu dienlich, meinen Bluthochdruck in unbekannte Höhen zu treiben. Diese Art des Schreibens ist nach meinem Dafürhalten durchsichtig, effekthascherisch und wird der Wichtigkeit der Diskussion nicht gerecht.
Doch nehmen wir das Korrelat als Anlass, sich mit den Fakten auseinanderzusetzen und diese einer, zugegebenermaßen subjektiven Bewertung, zuzuführen.
Drei Aussagenfragmente (“Kapitalismus”, “reformbedürftig” und “von Monat zu Monat lebend”) wurden miteinander verwoben. Bevor man sich diesem Korrelat zuwendet, gilt es die Fragmente einer kritischen Einzelbetrachtung zuzuführen.
Kapitalismus
So man diesen Begriff nicht als Ausdruck einer historischen Epoche verstehen will, lässt sich der Kapitalismus als eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verstehen, in der Privatbesitz und Streben nach Gewinn fundamentale Säulen darstellen. Dieses definitorische Fundament scheint in allen gängen Formulierungen vorhanden zu sein und übersteht als gemeinsames, verbindendes Merkmal die zumeist ideologisch aufgeheizte Diskussion.
Nun kommt es bei der Diskussion nach der Natur des Kapitalismus immer wieder zu einer unglücklichen Vergesellschaftung der Begriffe “Kapitalismus” vs. “Materialismus”. Die Wurzel dieser nach meinem Dafürhalten unglücklichen Vergesellschaftung der beiden Begriffe ist der sogenannte “Historische Materialismus”.
Um es sehr deutlich zu sagen: Ich halte dies für grundsätzlich und abgrundtief falsch. Sollten beide Begriffe als mehr oder weniger inhaltsidentische Worte verstanden werden, ist eines von ihnen als überflüssig oder Ausdruck einer dialektischen Kampfrhetorik einzuordnen. Da ich aber davon ausgehe, dass die Anwesenheit der beiden Begriffe auf ein vorhandenes Unterscheidungsmerkmal hindeutet, erscheint es mir opportun, mich auf den Weg nach diesem Differentiator zu machen.
Diesen meine ich in der Schumpeter´schen Logik gefunden zu haben. Diese geht davon aus, dass der Kapitalismus die Wirtschafts- und Gesellschaftsform ist, in der die “kreative Zerstörung”, in heutiger Sprache vielleicht Disruption genannt, das entscheidende Merkmal ist. Somit ist die ewige Suche nach dem Besseren (als Feind des Guten) eher als das entscheidende Merkmal des Kapitalismus zu verstehen.
Damit lassen sich die beiden Begriffe Kapitalismus und Materialismus voneinander abtrennen. Auf der einen Seite ein System, welches die Disruption und Innovation als Ausdruck des vitalen, menschlichen Geistes betont, auf der anderen ein System, welches primär auf die Akkumulation von Besitz und Eigentum abhebt. Welch unterschiedliche Sinnaufladung! Hier menschliche Kreativität und kindlicher Spieltrieb, auf der anderen Seite schnöder Mammon.
Nun will ich den Kapitalismus nicht verklären, jedoch mit diesen Überlegungen in einem anderen Licht anders ausgeleuchtet sehen. Selbstverständlich gibt es auch in “meinem” Verständnis des Kapitalismus auch hedonistische Züge; die mainstreamige und unreflektierte Gleichsetzung von Kapitalismus und Materialismus erscheint mir jedoch wenig angemessen.
Reformbedürftigkeit
In dem im Handelsblatt erschienen Kommentar wird von einer Reformbedürftigkeit des Kapitalismus gesprochen. Zu Worte lässt man dann einige, honorige Protagonisten kommen. Banker und PE-Manager, allesamt Jünger des reinen Belzebubs – vulgo: Knechte des Großkapitals – werden dort zitiert. Gierig schlürft der Gutmensch in uns die Worte ein und freut sich daran, dass diejenigen, die bis dahin den dämonisch-sündigen Tanz ums goldene Kalb der Raffgier tanzten, nun auch sich geläutert zeigen. Vom Saulus zum Paulus.
Doch, halt, lassen Sie uns nachdenken. Dieser Kapitalismus, den ich meine, dieser Kapitalismus mit diesem kreativen Schumpeter-Zerstörungs-Dingsbums gehört reformiert? Ist er in die Jahre gekommen? Hat er sich überholt? Oder unterliegen wir nicht ein weiteres Mal der nicht-zielführenden Vermengung von Materialismus und Kapitalismus? Gehört vielleicht nicht der Kapitalismus, sondern der Materialismus, reformiert? Braucht es vielleicht anstatt der Reform eines sich ständig reformierenden, weil kreativ zerstörenden Systems, der Reform eines Systems, welchen sinnentleerte Materialanhäufung uns vorbetet?
Von Monatsscheck zu Monatsscheck
Schaut man in die üblichen Quellen, so lässt sich das durchschnittliche, US-amerikanische Jahreseinkommen mit ca. USD 52.000 annehmen. Dem ist ein Pro-Kopf-Geldvermögen von € 169.000 gegenüber zu stellen. Anders ausgedrückt, der durchschnittliche US-Amerikaner hat mehr als drei Jahresgehälter in der Hinterhand. Dies spricht eine andere Sprache, als die, die in dem Kommentar im Handelsblatt angeschlagen wurde. Schaut man nach Europa, so hat hier der Durchschnittsbürger ein Pro-Kopf-Geldvermögen von ca. € 85.000 bei einem Jahreseinkommen von € 40.000 bis 60.000. Wenngleich hier das Pendel der beiden Faktoren zu Ungunsten des europäischen Verdieners ausschlägt, so lässt sich auch hier vermuten, dass der Durchschnittsbürger in der Lage ist, seine Rechnungen zu bezahlen und nicht von der Hand in Mund lebt. Cave: Selbstverständlich handelt es sich um Durchschnittswerte, die die prekäre Situation in Einzelhaushalten nicht hinreichend würdigen. Dem Eindruck, dass der Mensch im Kapitalismus nicht in der Lage ist, Rücklagen zu bilden, muss jedoch entschieden entgegengetreten werden.
400 Dollar oder der Versuch einer Erklärung
Wie kommt nun aber die Autorin des Handelsblatt-Kommentars zu der Zahl 400 Dollar, die angeblich einen durchschnittlichen US-amerikanischen Haushalts aus der Bahn werfen, so sie denn als unerwartete Einmalkosten plötzlich auftauchen? Ich will diese Zahl nicht kleinreden, will sie durchaus ernstnehmen. Erhellend hierbei ist es, sich das Konsum- und Kreditverhalten der US-Bürger mit dem der Europäer zu vergleichen. Dabei lässt sich recht schnell eine Ursache für die erwähnte 400-Dollar-Krise finden: Die Kreditrate. Während Europäer ihren Konsum deutlich öfter bar und/oder einmalig bezahlen, dominiert in den USA der Warenkredit, der die Höhe des monatlichen freien Cashs deutlich einschränkt. Anders gesagt: Der durchschnittliche US-amerikanische Haushalt gleicht einem überladenen Frachter, den die erste, kleine Weile in die Tiefe zu reißen droht.
Fazit
Ich will es kurz machen. Ich halte das Korrelat “Kapitalismus-Reformbedürftigkeit-Von Monatsscheck zu Monatsscheck” für reißerisch, billig und unwürdig. Es ist effekthascherisch und kann als Clickbait eingestuft werden.
Nun könnte ich mich an dieser Stelle befriedigt zurücklehnen. Hah, da habe ich diesen Artikel aber schön zerrissen, Potzblitz, was bin ich doch nur für ein Teufelskerl. Darauf einen Bommerlunder.
Doch, dies würde nicht reichen. Unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem bedarf wahrlich der Reform. Migrationsbewegung, Desertifikation (Ausbreitung der Wüsten), Bevölkerungsexplosion, Energie- und Umweltkrise – all dies sind Begriffe, die unseren Alltag immer wieder kakophon durchdringen. Man muss schon ein Ignorant Trumpelscher Manier sein, wenn man sich der Relevanz der hinter diesen Begriffen stehenden Diskussionen entziehen wollte.
Ja, wir brauchen eine Reformierung. Wir brauchen eine Sinnrevolte. Denn alleine ein, den materialistischen Trieb des Mensch, kompensierendes Sinnangebot wird den Materialismus zurückzudrängen imstande sein. Der Materialismus ist verlockend. Er ist süss und verführerisch und dockt ganz wunderbar an den sensationsgierigen Synapsen des menschlichen Hirns an. Der Kapitalismus hingehen ist störrischer, denn seine Befriedigung liegt in der Entwicklung von Neuem und Besserem.
Lassen Sie uns unsere Lebenszeit nicht damit verschwenden, dem Kapitalismus den Garaus zu machen. Entfesseln wir doch lieber unseren Geist und ergötzen wir uns an unserer Kreativität, die wir dafür nutzen wollen, Wucht und Wirkung bei der Gestaltung unserer Zukunft zu entfalten.
Herzliche Grüße
Bodo Antonic
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