Seit 2016 begleite ich das Berliner IT-Consulting Unternehmen itacs GmbH auf ihrem Weg in die Selbstorganisation. Inzwischen hatte ich dort auch den ersten CultureCheck zum Stand der Selbstorganisation durchgeführt und einen kleinen Bericht darüber geschrieben. Vor ein paar Wochen fragte mich dann Christina de Vries von der itacs, ob ich mit Ihr gemeinsam eine Keynote am Anfang ihres nächsten Roundtables am 05.09.2019 halten würde, diesmal zum Thema Selbstorganisation und Agilität. Da konnte ich nicht widerstehen und sagte sofort zu.
Das Format
Bei unserem Vorbereitungstreffen wurde Christina und mir schnell klar: Eines wollen wir mit Sicherheit nicht – uns vor die Teilnehmer*innen stellen und sie frontal mit einer Erfolgsstory vor dem Hintergrund zahlreicher Folien beschallen. Stattdessen entstand die Idee eines Dialogs zwischen Christina und mir, in dem wir uns locker über die Geschichte ihrer Transformation unterhalten. Und zwar von Anfang an offen für Zwischenfragen und kritische Kommentare aus dem Publikum. Dafür hatten wir dann auch flugs einen schönen Titel parat:
Dialogische Bilanz: 5 Jahre Selbstorganisation und Agilität in der itacs
Das passte prima zum Rest der interaktiven Nachmittagsveranstaltung, in deren Zentrum ein kleiner Open Space stand, in dem die wichtigsten Themen der Teilnehmer*innen Platz finden sollten. Zum Abschluss war dann noch eine mehr oder minder klassische Keynote mit Markus Hippeli geplant, dem Geschäftsführer der Berliner Leanovate GmbH. Beschlossen wurde das Ganze mit einem kleinen Buffett und der Möglichkeit, die Themen der Veranstaltung informell weiter zu diskutieren.
Dialogische Bilanz
Unser gemeinsamer Impuls fiel bei den Teilnehmer*innen erfreulicherweise von Anfang an auf fruchtbaren Boden. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die ersten Fragen und Kommentare unseren Dialog bereicherten. Im Zentrum standen dabei vor allem die kritische Auseinandersetzung mit möglicherweise zu strikten oder starren Modellen wie Holacracy. Wobei ich es interessant fand, dass immer noch ein nicht unerheblicher Teil des Publikums keine Ahnung von Holacracy hatte. Sprich: Es gilt mal wieder die New-Work-Filterblase ins Kalkül zu ziehen.
Gegen Ende der dialogischen Bilanz wurde ich gefragt, ob es etwas gäbe, worüber wir bis dahin nicht gesprochen hätten, was ich aber unbedingt noch erwähnen wolle. Tja, und da konnte ich nicht anders, als die Büchse der Pandora zu öffnen, wohlwissend, dass an ihrem Grunde die Hoffnung schlummert (entgegen Pandora sollten wir sie also, nachdem wir sie zweifellos schon geöffnet haben, auch schön offen lassen, damit auch noch die Hoffnung ihren Weg in die Welt findet ?): Die Unvermeidbarkeit der hybriden Organisation.
Schließlich können wir noch so sehr alle Struktur- und Kulturmerkmale der alten Arbeitswelt in die neue transformieren – am Ende bleibt doch das Gesellschaftsrecht mit seinen Anforderungen an juristisch einklagbare Verantwortlichkeit. Und die liegt bislang bei der Geschäftsführung oder dem Vorstand. Damit ist und bleibt bis auf Weiteres mindestens eine formal-juristische Hierarchiestufe zwischen der Belegschaft und Geschäftsführung/Vorstand bestehen. Und das hat selbstredend Konsequenzen. Somit sind alle Aussagen, eine hierarchielose Organisation geschaffen zu haben, sachlich falsch, mit Ausnahme einiger weniger Sonderfälle, in denen beispielsweise alle gleichberechtigte und -verantwortliche Geschäftsführer*innen einer GmbH sind. Diese Herausforderung fand später ihren Weg in eine Open Space Session:
Open Space
Nach einer kurzen Einführung über die Methode kamen schnell verschiedene Themen zusammen, die in kleinen Gruppen intensiv diskutiert wurden:
- Umgang mit der unvermeidbaren hybriden Organisation
- Abbau von Hierarchien
- „Aufstieg“ und Weiterentwicklung ohne Hierarchien?
- Wie befähigt man die Mitarbeiter*innen zur Selbstorganisation?
- Selbstorganisation für jede*n Mitarbeiter*in & jede Tätigkeit?
Ich selbst wollte eigentlich frei durch den Open Space flottieren, wurde aber nach wenigen Minuten in die Gruppe gerufen, die sich mit der Frage nach dem Umgang mit der unvermeidbaren hybriden Organisation befasste. Dort hatte sich schnell eine recht leidenschaftliche Diskussion entwickelt, denn ein Geschäftsführer rang sichtlich mit dieser Problematik. Einerseits hat er ein großes, authentisches Interesse an Selbstorganisation und teilte seine Gestaltungsmacht – um sich am Ende fragen zu müssen: Wenn es keine Abteilungs-, Bereichs- oder sonstigen Leiter*innen mehr gibt und die Entscheidungsmacht in den jeweiligen Gruppen verteilt wurde – wer ist dann am Ende des Tages juristisch verantwortlich außer ihm selbst als offiziellem Letztentscheider?
Da keine Gesellschaftsrechtler*innen anwesend waren, konnten wir diese Frage juristisch nicht beantworten. Der gesunde Menschenverstand sagte mir: Wenn wir in klassischen Organisationen Stellen haben, die mit Rechten und Pflichten verbunden sind, dann sollte dies doch genauso mit Rollen in neuen Organisationsmodellen möglich sein – der einzige Unterschied liegt m.E. vor allem im möglicherweise schnelleren, dynamischeren Wechsel in der Besetzung von Rollen. Das sollte aber der juristischen Belangbarkeit keinen Abbruch tun. Letztlich, so vermute ich, könnte man sogar die althergebrachte Stellenlogik formal weiter bedienen – und einfach nur die Besetzung dieser Stellen intern flexibel halten. Problematisch wäre dann nur noch, wie das Disziplinarrecht behandelt würde.
Denn wer auf dieser Stelle rechtlich verantwortlich ist, könnte mit allem Recht verlangen, dass er oder sie dann auch die eigenen Entscheidungen durchsetzen können muss, sonst kann sie oder er nicht die Verantwortung übernehmen. Aus meiner Sicht könnte eine Lösung darin bestehen, diese Stelle durch das Team, eine Abteilung oder einen Bereich für einen fixen, überschaubaren Turnus wählen zu lassen. Sofern alle zur Wahl stehen können, wäre dies fundamental anders, als es bislang in traditionellen Organisationen gelebt wird. Wer dieses Modell nicht will, muss mit der Transformation warten, alle zu Geschäftsführern machen (was aber nicht in allen Kapitalgesellschaften möglich oder sinnvoll ist) oder das Risiko eingehen, am Ende selbst verantwortlich zu sein für etwas, das andere entschieden haben. Im übrigen bleibt uns wohl nur, die Legislative anzuregen, dieses Problem für eine gelungene Zukunft der Arbeit endlich zu lösen. Schließlich muss eine Geschäftsführung oder ein Vorstand ja auch nicht aus nur einer natürlichen Person bestehen.
Abschlusskeynote
Markus Hippeli, Geschäftsführer der Leanovate GmbH in Berlin rundete die Veranstaltung mit einem Bericht über die Transformation seines Unternehmens ab. Erfrischend ehrlich und (selbst)ironisch erzählte er in lockerer Weise über die Erfolge und Misserfolge ihrer Schritte hin zu einem agilen, selbstorganisierten Unternehmen. Dabei spielte, wie so oft, auch der Zufall eine große Rolle, der aber viel zu selten als wichtiges Element gewürdigt wird.
Diesbezüglich sind viele von uns immer noch gefangen in der Vorstellung einer planbaren Welt, in der wir, wenn wir nur konsequent und fleißig genug unsere Ziele verfolgen, auch unsere klugen Pläne umsetzen können. Dabei sollte allen Menschen, die über ein ausreichendes Maß an selbstkritischer Realitätsprüfung verfügen, klar sein, dass dies beileibe nicht der Fall ist. Dazu gibt es längst entsprechende Bonmots á la “Planung ersetzt den Zufall durch Irrtum” oder “Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.” (John Lennon).
Anders bei Markus Hippeli. Er machte unmissverständlich klar, dass längst nicht alles das Ergebnis weiser Voraussicht war, ist und überhaupt sein kann. Und er fand ebenso klare Worte für die eigenen Fehler, die früher oder später auftreten werden und die Vorteile des Nichtwissens, das zwangsläufig immer größer ist, als unser Wissen. Aus meiner Sicht ist diese selbstkritische Reflexion ein integraler Bestandteil gelungener Transformationen, wofür Hippeli und die Leanovate GmbH ein gutes Beispiel sind.
Alles in allem war der Roundtable aus meiner Sicht eine gelungene Veranstaltung, die hoffentlich den einen oder die andere Teilnehmer*in anregte oder ihnen Mut machte, sich selbst auf den Weg zu machen. Abschließend möchte ich mich bei der itacs GmbH bedanken, dass ich meine Perspektiven in der dialogischen Bilanz einbringen durfte und bei allen Teilnehmer*innen, die so engagiert und neugierig diskutiert haben.
Herzliche Grüße
Andreas
Bildnachweis
- Alle Bilder: ©Martin Popp, itacs GmbH mit freundlicher Genehmigung der itacs GmbH