Hierarchie: Es wäre übertrieben zu schreiben, dass ich in Krankenhäusern aufgewachsen bin. Aber dank meiner Ausbildung zum diplomierten Musiktherapeuten hatte ich immer wieder das meist zweifelhafte Vergnügen, die hierarchischen Strukturen und Kulturen verschiedener Krankenhäuser mehr oder minder intensiv kennenzulernen. Was ich schon in der Ausbildung und später als Angestellter erlebte, war tatsächlich einer der Gründe, warum ich heute mit den Unternehmensdemokraten Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Partizipation begleite. Neben all dem, was mir schon aus meiner persönlichen Erfahrung bekannt ist, hat nun noch die WHO Erschreckendes über die Konsequenzen rigider Hierarchie in Krankenhäusern herausgefunden.
Krankenhäuser sind anders
Um eines gleich vorweg zu klären: Ich würde mein ganzes Hab und Gut drauf verwetten, liebe Leser*innen, dass Ihr nicht begeistert wärt, wenn Rollen und Verantwortlichkeiten im medizinischen und pflegerischen Aufgabenfeld von Krankenhäusern zum Beispiel interessenbezogen verteilt werden, so wie es in manchen modernen Unternehmen durchaus passiert: “Ah, ich langweil mich grad im Controlling, ich glaub ich würde mich gerne mal in der Kardiologie einarbeiten, oder vielleicht auch im Schockraum, klingt echt spannend!”
An diesem absurd grotesken Beispiel wird klar: In Krankenhäusern laufen im eigentlichen Leistungsbereich der Therapie und Pflege Menschen rum, die ein enormes Maß an Expertise aufgebaut haben, dass man und frau nicht mal schnell experimentell in ein paar Wochen erlernt; Wissen und Kompetenz, die sinnvollerweise penibel staatlich geprüft werden (das übrigens ganz allgemein zum Wert staatlicher Prüfungen…). Und es gibt noch ein paar andere Herausforderungen: Wenn Dir ein Arzt das falsche Bein amputiert haben sollte, willst Du vermutlich gerne diesen Arzt zur Verantwortung ziehen – und nicht hören, dass die Frage ob rechts oder links ein nicht rückverfolgbarer Mehrheitsbeschluss des OP-Teams war, aufgrund dessen Du nun leider keinen verantwortlichen Ansprechpartner hast.
Das sollte reichen, um geklärt zu haben, dass es mir im Folgenden nicht darum gehen wird, Krankenhäuser basisdemokratisch aufzubauen – wobei alle, die mich kennen, sowieso wissen, dass ich kein Freund davon bin, dass immer alle alles gemeinsam entscheiden sollen, egal in welcher Branche. Expressis Verbis: In Krankenhäusern geht es um das, was uns allen mit am nächsten geht: Unsere leibliche und seelische Integrität, unsere Gesundheit. Das ist oftmals eine andere Verantwortung als fancy Grußkarten unters Volk zu bringen, die 27te Kanban-Software zu entwickeln oder ein Event zu organisieren. Natürlich gibt es auch Unternehmen, die Produkte herstellen oder Dienstleistungen anbieten, die klare Verantwortlichkeiten einfordern, wie zum Beispiel in der Luftfahrt (aktuell Boeing und natürlich das Flugpersonal). Auch hier wärst Du vermutlich nicht begeistert, wenn ein Stewart gerne mal Kapitän spielen will.
Die Folgen der Hierarchie
Im Zusammenhang mit der aktuellen Untersuchung kommt die WHO unter anderem zu folgendem Ergebnis:
“In den rund 150 Ländern mit niederen und mittleren Einkommen kämen nach Schätzungen 2,6 Millionen Menschen im Jahr durch fehlerhafte medizinische Behandlung ums Leben.” (Spiegel Online 2019).
Das entspricht fünf Toten pro Minute. Durch falsche Diagnosen und Behandlungen. “Es ist ein globales Problem”, sagte die WHO-Verantwortliche Neelam Dhingra-Kumar. Grund sei etwa eine strenge Hierarchie in vielen Einrichtungen, wo Juniorpersonal sich nicht traue, etwas zu sagen. Oder Angestellte verschwiegen Fehler aus Angst vor Repressalien.” (a.a.O., kursiv AZ)
Das sollten wir uns kollektiv mit vollem Bewusstsein vor Augen führen: Jährlich stirbt gleichsam eine Millionenstadt, weil ärztliches und pflegerisches Juniorpersonal Angst hat, etwas zu sagen, was diese überflüssigen Tode verhindern könnte. Und ebenso werden Fehler verschwiegen oder sogar aktiv verschleiert. Natürlich macht es in diesem Kontext keinen Sinn, eine “fehlerfreundliche” Kultur zu entwickeln, denn Diagnose- und Behandlungsfehler führen nicht, wie beim allbekannten Post-it Beispiel, zu erfreulichen Innovationen, die das Krankenhaus dann über Jahrzehnte monetarisieren kann. In Krankenhäusern geht es um unser aller Gesundheit – da sollten so wenig Fehler wie möglich passieren.
Klar ist nur: Sie passieren. Und das wird grundsätzlich auch so bleiben. Was aber so schnell wie möglich geändert werden sollte, ist die streng hierarchisch geprägte Organisationskultur mit einem großen Gefälle. Respekt vor dem dienstälteren ärztlichen und pflegerischen Personal ja, Angst nein. Da helfen innerhalb dieser Organisationen auch keine medizinischen Fehlerdatenbanken wie das Critical Incident Reporting System (CIRS) oder das Fehlerberichts- und Lernsystem für Hausarztpraxen “Jeder Fehler zählt”. Denn es geht ja auch darum, dass eine Menge Fehler vermieden werden könnten, wenn sich untergebenes Personal trauen würde, ihre Beobachtungen, Überlegungen und Hypothesen angstfrei einzubringen.
Die Folgen der Expertokratie
Diese organisationale Hierarchie hängt eng zusammen mit einer fachlichen Hierarchie: Kaum ein Berufsstand neigt aus meiner Sicht derart zur Expertokratie, wie Ärzt*innen. Sprich: Das nur die über viele Jahre aufgebaute Expertise der fachlichen Experten Gewicht in den nötigen medizinischen Prozessen der Anamnese, Diagnose und Therapie hat. Anfänger*innen werden nicht ausreichend Ernst genommen. Die Medizingeschichte ist nicht gerade arm an fulminanten Beispielen von Ignoranz der zumeist männlichen Experten gegenüber den Nicht-Experten. Das können dann auch Ärzte sein, die zwar in anderen Fachgebieten ihrerseits Experten sind, aber nicht in dem Fach, um das es gerade geht.
Ein beeindruckendes Beispiel ist die Entdeckung der wahren Ursache von Magengeschwüren, die ich bereits in meinem vorletzten Buch “Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen” ausführlich schilderte (S. 198-200). Früher gingen die Experten der Gastroenterologie davon aus, das scharfe Speisen und Alkohol für Magengeschwüre verantwortlich seien. Eines Tages jedoch entwickelten ein Pathologe (Robin Warren) und ein Internist (Barry Marshall) ihre Hypothese, dass Magengeschwüre vielmehr eine Folge des Bakteriums Helicobacter pylori sind. Beide präsentierten über Jahre hinweg diese These und später ergänzend ihre Forschungen inklusive mutiger Selbstversuche – und wurden immer wieder ausgelacht und sogar aus Kongressen hinauskomplementiert. 2005 erhielten die beiden nach 26 Jahren der Ignoranz und Anfeindung für Ihre Erkenntnisse den Nobelpreis für Medizin. Nicht jeder hat hat dieses unfassbare Durchhaltevermögen!
Ein vielleicht noch bekannterer Fall ist der um die Entdeckung der Bedeutung hygienischer Maßnahmen durch Ignaz Philipp Semmelweis, der seinerzeit Assistenzarzt in der geburtshilflichen Abteilung des »k.k. allgemeinen Krankenhauses« in Wien war. Semmelweis hinterfragte damals die sogenannte Miasmen Theorie, nach der schlechte Gerüche Krankheiten übertragen. “Im Laufe seiner Arbeit entwickelte er die These, dass die unterschiedlichen Sterblichkeitsraten (in verschiedenen gynäkologischen Abteilungen) auf mangelnde Hygiene zurückzuführen seien.” (Feel it: S. 63) Die dienstälteren Ärzte hielten wenig bis nichts von seiner These, Semmelweis Anstellung wurde nicht verlängert, 1849 musste er aus dem damaligen Krankenhaus ausscheiden. Heute wissen wir, dass einmal mehr die “Experten” falsch lagen und nicht der Anfänger.
Die medizinische Ausbildung
Man sollte denken, dass die Medizin aus diesen teils tragischen Fällen ihre Lehren gezogen hat. Von wegen! Der expertokratische Dünkel fängt nicht selten schon bei den Student*innen an, deren Eltern selber Ärzte sind. Ein Gefühl von Überlegenheit konnte ich selbst immer wieder bei Medizinstudent*innen feststellen, als ich von 2001 – 2003 das damals bundesweit erste verpflichtende Arzt-Patient-Kommunikationstraining an der medizinischen Fakultät der Uni Heidelberg mit entwickelte. Mir schlug mit einer gewissen Regelmäßigkeit von einigen Studenten – Männer! – eine vorweggenommen expertokratische Haltung entgegen. Expertokratie als Mem, das von Papa Arzt an den Filius Arzt (un)bewusst weitergegeben wurde.
Desweiteren sind die medizinischen Fakultäten Teil der meist besonders hierarchisch geprägten Universitätskliniken. Und schon schließt sich der Kreis. Die Studierenden atmen jahrelang diese strikten Hierarchien ein, bis sie davon mehr oder minder komplett gegen eine andere Kultur imprägniert sind. Wenn sie das Studium erfolgreich durchleben wollen, müssen sie sich – wie Angestellte in einem Unternehmen – der jeweiligen Kultur in einem ausreichenden Maß anpassen. Sogar mehr noch als die Angestellten, denn die haben ja wenigstens schon Ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen und sind damit viel weiter auf dem Weg zur Expertise.
Lösungen
Die Lösungen müssen verschiedene Themen adressieren, die mit den Symptomen ursächlich zusammenhängen.
- Abbau hierarchischen Dünkels
- Entwicklung einer konstruktiven Fehlerkultur
- Anfängergeist statt Expertokratie
Alle Lösungsansätze beziehen sich sowohl auf die medizinische Ausbildung als auch auf Krankenhäuser. Es würde wenig Sinn machen, den einen Bereich ohne den anderen verändern zu wollen.
Medizinische Ausbildung
Solange junges medizinisches oder pflegerisches Personal Angst vor ihren älteren Vorgesetzten hat, brauchte es dringend entsprechende Veränderungen. Da sich an den ausbildenden Universitätskliniken die Katze in den Schwanz beißt, indem dort die traditionell hierarchische Krankenhauskultur auf die Ausbildungskultur und -inhalte trifft, lässt sich kaum eine sinnvolle Chronologie des Wandels ausmachen. Es gibt keine Reihenfolge, die eindeutige Vorteile oder größere Chancen aufweist. Es scheint vielmehr sinnvoll, in beiden Bereichen gleichzeitig anzusetzen.
In der Ausbildung sollte es verpflichtende Veranstaltungen geben, die die Folgen hierarchisch geprägter Angstkulturen vermitteln und darüber aufklären. Die Student*innen sollten zudem erfahren, wie sich einige wenige Krankenhäuser jenseits dieser alten traditionellen Hierarchie und Organisationskultur aufgestellt haben, wie die Systelios Klinik im Odenwald oder das Krankenhaus Spremberg in Brandenburg. Es gibt Alternativen, auch wenn diese nicht sofort als Best Practice auf völlig andere Kliniken übertragbar sind. Es geht darum, Bewusstsein zu schaffen, für die spezifische klinische Organisationskultur, die keineswegs selbst-verständlich ist. Dies könnte und sollte mit interkollegialen Kommunikations- und Interaktionstrainings kombiniert werden – so wie dies schon über ein Jahrzehnt im Bereich der Arzt-Patient-Kommunikation erfolgreich durchgeführt wird.
Krankenhäuser
In den Kliniken wären einerseits freiwillige Weiterbildungs-Angebote hilfreich, denn unter Zwang lernt niemand gerne und gut. Allerdings gibt es hier ein fundamentales Problem, das ich schon während meiner Zeit an der medizinischen Fakultät Heidelberg beobachten konnte: Diejenigen der meist männlichen Studenten, die die Kommunikationstrainings als überflüssigen Schnickschnack erlebten, waren natürlich genau diejenigen, deren kommunikative Fähigkeiten im Sinne einer erfolgreichen Anamnese und Behandlung meistens am lausigsten waren. Umgekehrt waren diejenigen, die die fundamentale Bedeutung der Kommunikation für eine erfolgreiche Behandlung verstanden hatten auch diejenigen, die meistens schon deutlich differenzierter kommunizieren konnnten. Genau das war seinerzeit der Grund, das Arzt-Patient-Kommunikationstraining als Pflichtfach mit anschließender für den Fortlauf des Studiums relevanter Prüfung zu implementieren.
Im Studium ist das möglich und wurde auch erfolgreich umgesetzt. Ganz anders sieht sie Sache in den Kliniken aus. Ärzte müssen sich zwar grundsätzlich fortbilden und Punkte sammeln, damit sie überhaupt dauerhaft ihren Beruf ausüben dürfen (Continuing Medical Education, 50CME Punkte müssen jährlich erreicht werden). Allerdings gibt es verbindliche Fortbildungen nur im Zusammenhang mit der Facharztprüfung. Wie die genannten CME Punkte ansonsten mit welchen Fortbildungen erreicht werden, ist eine freiwillige Entscheidung. Im Grunde ist das auch sinnvoll und richtig – wird aber zum Bumerang im Kontext der hier reflektierten Problematik. Denn dann kann der verknöcherte Oberarzt das alles einfach ignorieren. Und der Chefarzt ist ja sowieso schon oft genug auf Augenhöhe mit Gott. Und damit allwissend und omnipotent.
Hierarchie im Krankenhaus: Resümee
Leider sollte ich ehrlich feststellen: Ob sich unser aktuelles System nachhaltig ändern lässt, erscheint fragwürdig. Die Beharrungstendenzen im Gesundheitswesen sind enorm, die typische Hierarchiekultur scheint in Stahlbeton gegossen. Darüberhinaus kommt zu dem hier besprochenen Problem der Folgen einer strikten hierarchischen Kultur noch eine mindestens ebenso große Schwierigkeit hinzu: Die permanente Überarbeitung der Ärzte und des Pflegepersonals sowie die damit verbundene Ausbeutung, insbesondere in privaten, effizienzgetriebenen Klinikkonzernen. Das führt wohl kaum dazu, dass die Qualität der Therapie und Pflege besonders hoch ist, geschweige denn, sich noch deutlich verbessern ließe. Kurzum:
Chronisch übermüdet und ängstlich vor Repressalien – eine toxische Mischung für die Patientensicherheit und die Arbeitszufriedenheit des medizinischen und pflegerischen Personals.
Niemand, absolut niemand in der Politik der letzten Dekaden ist diese offensichtliche Problematik bislang ernsthaft angegangen. Also: Bleibt gesund, liebe Leser*innen!
Herzliche Grüße
Andreas
Literatur
- Spiegel Online: Jede Minute fünf Tote durch falsche medizinische Behandlung.
- Zeuch, A. (2010): Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen. Wiley
Bildnachweis
- Beitragsbild: pixabay lizenzfrei
- Cockpit: Ralf Roletschek, CC BY-SA 2.5
- Robin Warren: OTRS submission by Akshay Sharma, CC BY-SA 3.0 –
- Krankenhaus Spremberg: Snapshot Website