Die fetten Jahre sind vorbei. Jedenfalls für die meisten von uns. Der geradezu omnipräsente Begriff “Multikrise”, den viele von uns schon nicht mehr hören können, nimmt in den letzten 20 Jahren immer weiter zu. Wir beobachten in Verbindung damit einen internationalen, zwar erschreckenden aber nicht überraschenden politischen Rechtsruck. Das alles in Verbindung mit einer Polarisierung zu zentralen Krisenthemen. Gleichzeitig scheint die Unternehmenskultur ein immer wichtigerer Aspekt erfolgreicher Unternehmensführung zu sein.
Ich gehe davon aus, dass diese unselige Melange aus der multiplen Krise der planetaren Belastungsgrenzen (zB Biodiversitätsverlust, Stickstoffkreislauf, Luftverschmutzung, Erderhitzung…), Migration, Pandemien (es werden weitere folgen), Ukrainekrieg, Energiekrise und Inflation uns in den nächsten Jahrzehnten weiter auf Trab halten werden (so wie auch die nächste Wirtschaftskrise sicher kommen wird). Vor allem der Klimawandel wird aufgrund seiner physikalischen Unverhandelbarkeit und der zeitlichen Verzögerung von Emissionen und deren Effekte eine immer größere Herausforderung. Gesellschaftlich und politisch ist das längst sichtbar geworden. Grob gesagt gewinnen in der letzte Dekade populistische Parteien und Diskurse zunehmend Land und die Stimmung wird spannungsgeladener und polarisierter. Werfen wir zuerst einen kurzen Blick auf die Multikrise aus ökologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krisen, die man als relevanten Kontext für die Veränderung der Bedeutung der Unternehmenskultur lesen kann.
Multikrise. Aufstieg eines verhassten Begriffs
Der Begriff Multikrise (multiple Krise, Vielfachkrise), im Englischen eher “polycrisis”, ist recht eindeutig ein noch relativ junges Phänomen. Googles Book Ngram Viewer zeigt einen klaren Anstieg der Begriffe im Deutschen wie im Englischen in den letzten knapp zwanzig Jahren. Eine erste erwähnenswerte Rolle spielte der Begriff im Deutschen Ende der 1980er bis Anfang der 1990er. Die dramatisch wirkende Zunahme beginnt relativ deutlich zum Ausgang der letzten großen Wirtschaftskrise 2007/2008 und hat sich seit dem fast durchgehend weiter gesteigert (zur Vergrößerung anklicken):
Der englische Begriff polycrisis/poly-crisis zeigt einen leicht anderen Verlauf, wobei es eine eindeutige Gemeinsamkeit gibt: Den starken Anstieg in den letzten rund 10 bis 15 Jahren (ich beschränke mich hier auf die Schreibweise ohne Bindestrich. Mit Bindestrich ist die Entwicklung nochmals leicht abgewandelt, es fehlt der leichte Anstieg Ende der 1990er bis ca. 2006. Sprich: “poly-crisis” zeigt bis ca. 2012 keinen Ausschlag. Dann explodiert die Kurve ähnlich wie die hier gezeigten).
Diese kleine Visualisierung soll hier reichen. Ich gehe nicht weiter auf die verschiedenen Analysen zu den Zusammenhängen und ihren Deutungen ein (dazu: Brand 2009, Demirović et al. 2011) . Wichtiger für den Kern dieses Beitrags, den Zusammenhang der aktuellen gesellschaftlichen Stimmung mit einem signifikanten Anstieg der Bedeutung der Unternehmenskultur, ist der Blick auf die gesellschaftlichen Folgen der Multikrise.
Unsicherheit und Polarisierung
Auch ohne Beleg halte ich es für offensichtlich, dass die Unsicherheit in der Gesellschaft zunimmt. Das liegt nicht nur an der Multikrise, sondern wurzelt schon zuvor in der steigenden Komplexität und Geschwindigkeit der Datenerzeugung, -verarbeitung und Entscheidungsfindung. Selbst der höchstmögliche akademische Abschluss einer Habilitation gewährleistet in keiner Weise ein auch nur halbwegs umfängliches Verständnis vieler Zusammenhänge. Dieses Nichtverstehen und daraus resultierend Nichtwissen sowie eine äußerst begrenzte Selbstwirksamkeit bezüglich der großen Krisenthemen kann schnell zu Unsicherheit führen, die durch das schnelle Aufeinanderfolgen oder die Gleichzeitig der einzelnen Krisen noch verschärft wird.
Zu dieser Unsicherheit gesellt sich eine (kognitive) Polarisierung. Der Begriff meint in der umgangssprachlichen Verwendung dreierlei: Die Polarisierung einzelner Personen, die innerhalb und zwischen Gruppen wie Parteien, Parlamenten und der ganzen Gesellschaft. „Bezugspunkt ist dabei zunächst die Einstellung zu bestimmten Sachfragen oder politischen Themen. Als polarisiert gelten Personen, wenn sie bestimmten Randpositionen, gar extremistischen Weltanschauungen zugeneigt sind. Eine Gruppe hingegen wird dann als ‚polarisiert‘ bezeichnet, wenn sich viele ihrer Mitglieder mit derartigen Extrempositionen identifizieren, also die Meinungen, Einstellungen oder Glaubensvorstellungen sehr weit auseinandergehen.“ (Herold et al. 2023: 14) Die empirische Forschung untersucht dabei die Verteilung von Positionen, Meinungen, Einstellungen etc., die dann als polarisiert gelten, wenn sie sich eher an den Rändern versammeln als in der Mitte. Eine Verschärfung findet sich in der affektiven Polarisierung, bei der die jeweilige Position im Gegensatz zur kognitiven Polarisierung mit mehr oder minder starken Affekten und Emotionen verknüpft wird, so dass die jeweiligen Personen Sympathien für die Vertreter:innen derselben oder einer ähnlichen Position empfinden, während sie mit Antipathie bis zu Hass auf die jeweils anderen Positionen reagieren (In-/Outgroup). Die affektive Polarisierung kommt aus der US-amerikanischen Forschung mit einem Bezug zu dem dortigen Zwei-Parteiensystem und wurde in den letzten Jahren auch auf (europäische) Mehrparteien-Systeme übertragen.
Verschiedene aktuelle Studien zeigen für Deutschland zu verschiedenen Themen – sprich: Krisen – eine mehr oder minder deutliche Polarisierung entgegen einiger kritischer Stimmen, die eine Polarisierung hinterfragen (Westheuser 2022). In Deutschland zeigen sich in einer repräsentativen Erhebung des Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) die stärksten Polarisierungen zu den Themen Zuwanderung, Klimawandel und Pandemien. Hinsichtlich der Personengruppen sind Ältere (55+) stärker polarisiert als jüngere und AfD- sowie Grüne-Wähler:innen mehr als andere Wählende (a.a.O.: 10). Andererseits zeigt sich in einer weiteren aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) eine große Einigkeit über die Bedeutung des Klimawandels: Gut 80% machen sich sehr große (33,5%) oder große (46,6%) Sorgen, während deutlich weniger als der Hälfte der Befragten die Migration sehr große (17,2%) oder große (27,7%) Sorgen macht (Best et al. 2023: 16). In dieser Studie zeigt sich die Polarisierung vor allem in der eher hälftigen Aufteilung der Sorgen beim Thema Migration, während es eine erheblich größere Einigkeit beim Klimawandel gibt. Allerdings nahmen die Befragten der FES-Studie die größten gesellschaftlichen Spannungen passend zur MIDEM-Studie in den Bereichen Corona, Migration und Klima war. Eine etwas ältere Studie der Konrad Adenauer Stiftung findet die größten Polarisierungen zwischen Parteianhänger:innen in den Bereichen Sozial-, Klima- und Migrationspolitik (Roose 2021: 4). Kurzum: Es deutet viel darauf hin, dass es hier eine deutliche Polarisierung und gesellschaftliche Spannungen gibt, was ich subjektiv auch so beobachte. Dazu passt die Entwicklung psychischer Gesundheit sowohl im Privat- als auch im Arbeitsleben.
Zunahme der Bedeutung von Unternehmenskultur
“Mit Beginn der Corona-Pandemie befindet sich die Bevölkerung seit nunmehr drei Jahren in einem Dauerkrisenzustand. Erst Corona, dann der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und die damit verbundenen erheblichen Kostensteigerungen in allen Lebensbereichen.” (Pronova BKK 2023: 6) In der Folge der Multikrisen-Dauerbelastung stieg die Zahl der Terminanfragen von 2020-2022 in der klinischen Psychiatrie von 14 auf 76%, bei niedergelassenen Psychiater:innen von 38 auf 84% und bei niedergelassenen Psychotherapeut:innen von 42 auf 80% (a.a.O.: 13). Bei 66% war in Praxen und Kliniken eine Panikattacke die häufigste Diagnose. Im Bereich der affektiven Störungen nahmen Depressionen von 2020-2022 von 50 auf 83% am häufigsten zu (a.a.O.: 26). Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stieg die Anzahl der Ausfalltage je 100 Versicherte um 85% auf 303 (mik/dpa 2023) “Im ersten Halbjahr 2022 waren es 164 Ausfalltage, in den ersten sechs Monaten 2021 noch 137.” (ebd.)
Unter den Bedingungen ist es wenig verwunderlich, dass die Unternehmenskultur zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die durchschnittliche Arbeitszeit betrug 2022 34,7 Wochenstunden in Deutschland (DeStatis), das sind werktags knapp sieben Stunden täglich. Da wird die Unternehmenskultur und das mit ihr eng verwobene sozio-kulturelle Klima zu einem immer wichtigeren Faktor mit einem erheblichen direkten Einfluss auf die Gesundheit als auch auf die Arbeitszufriedenheit. Eine aktuelle Studie mit 500 CEOs aus acht Ländern (Australien, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Spanien, USA) zeigte, dass die Anzahl derjenigen Vorstände, die die Unternehmenskultur für den wichtigsten Erfolgsfaktor zur Steigerung der finanziellen Leistungsfähigkeit halten, von 2021 bis 2023 von 7% auf 33% zunahm, was einer Steigerung von rund 371% entspricht. Vor zwei Jahren wurden Faktoren wie Strategie, Führung und Prozesse/Regeln wichtiger für den unternehmerischen Erfolg eingeschätzt. Auch wenn immer noch der größte Teil die Unternehmenskultur nicht an erster Stelle sieht, zeigt sich eine erhebliche Veränderung.
Mindestens genauso interessant ist die Veränderung der Motivation für die steigende Bedeutung der Unternehmenskultur. Während 2021 noch die oben erwähnte Steigerung der finanziellen Leistungsfähigkeit mit 31% der wichtigste Grund vor der Steigerung des Mitarbeitenden-Engagements mit 26% war, hat sich dieses Verhältnis deutlich umgekehrt: 2023 war das Mitarbeitenden-Engagement mit 54% als wichtigste Motivation wesentlich wichtiger als die reine Verbesserung der finanziellen Leistungsfähigkeit mit nur noch 11%, die mit diesem Wert nur noch auf Platz 4 landete. Anders formuliert: Die Steigerung des Mitarbeitenden-Engagements wurde von 26 auf 54% mehr als verdoppelt, während die Steigerung der finanziellen Leistungsfähigkeit um knapp zwei Drittel von 31 auf 11% sank. Die Studie verweist damit auf eine starke Veränderung der Motive zur Auseinandersetzung mit der jeweiligen Unternehmenskultur. Zusammengefasst lässt sich also sagen:
Eine unterstützende und solidarische Unternehmenskultur wird in der Multikrise noch wichtiger, während der die Bürger:innen unter den Folgen der Unsicherheit und Polarisierung leiden.
Herzliche Grüße
Andreas
Literatur
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Best, V. et al. (Hrsg.)(2023): Demokratievertrauen in Krisenzeiten. Wie blicken die Menschen in Deutschland auf Politik, Institutionen und Gesellschaft? Friedrich-Ebert-Stiftung
- Brand, U. (2009): Die Multiple Krise. Dynamik und Zusammenhang der Krisendimensionen, Anforderungen an politische Institutionen und Chancen progressiver Politik. Heinrich Böll Stiftung
- Demirović, A. et al. (Hrsg.)(2011): Vielfachkrise: im finanzmarktdominierten Kapitalismus. VSA
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Gailey, R. et al. (2023): Aligning culture with the bottom line: Putting people first. Studienbericht. Heidrick & Struggles
- Herold, M. et al. (Hrsg.)(2023): Polarisierung in Deutschland und Europa. MIDEM-Studie. Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM)
- mik/dpa (2023): Zahl der psychisch Erkrankten steigt deutlich. Spiegel Online
- Pronova BKK (2023): Psychische Gesundheit in der Krise. Ergebnisse einer Befragung unter Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen. Pronova BKK
- Roose, J. (2021): Politische Polarisierung in Deutschland. Repräsentative Studie zu Zusammenhalt in der Gesellschaft. Forum Empirische Sozialforschung. Konrad Adenauer Stiftung
- Westheuser, L. (2022): This is not America: Politische Polarisierung in Deutschland als Schimäre. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 35(2): 422–427
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