Hybride Organisationen – Anfang Februar 2020 veröffentlichte ich einen Gastbeitrag über hybride Organisationen im Blog der Berliner Firma t2informatik. Irgendwann wurde dieser Beitrag von Dr. Jürgen Schüppel, Geschäftsführer der change factory in München kommentiert. Seine Anmerkungen fand ich so wichtig und tiefgehend, dass ich Jürgen zu einem Dialog eingeladen habe, um das Thema gemeinsam zu vertiefen.
Andreas: Lieber Jürgen, vielen Dank für Deine Bereitschaft, mit mir hier in unserem Blog in den Dialog zu gehen. Bevor wir ins Thema hybride Organisationen einsteigen wäre es gut, wenn Du Dich unseren Leser*innen noch vorstellst – ganz wie es Dir beliebt. Meine DIN ISO Frage: Wer bist Du, woher kommst Du, wohin gehst Du?
Jürgen: Servus Andreas, ich komme vom Ammersee, bin verheiratet und habe drei Töchter. Ich konnte in München Betriebswirtschaftslehre und Organisationspsychologie studieren und anschließend in St. Gallen arbeiten und promovieren. Seit der Zeit agiere ich auch als Berater und Trainer. Besonders geprägt hat mich meine Münchener Zeit mit Prof. Kirsch, der sich schon recht früh, in den siebziger Jahren, mit dem, was wir heute “Agilität” nennen würden, beschäftigt hat. Seine Begrifflichkeiten waren zu dieser Zeit die “fortschrittsfähige Organisation” mit den Elementen “Handlungsfähigkeit”, “Sensitivität” und “Lernfähigkeit”. Dabei waren auch “robuste erste Schritte” und “iterative Planung” schon im Fokus. Diese Perspektive konnte ich dann mit den St. Galler Denkmodellen ergänzen, z.B. das “vernetzte Denken”, die “kybernetisch-systemische” Sicht und – in einer ersten Welle – auch ökologisch und ethisch ausgeprägte Perspektiven auf betriebswirtschaftliche Organisationen. Wohin mich mein Weg als Berater und Trainer noch führt? Schau mer mal!
Hybride Organisationen und ihre Genese
Andreas: Ah, das ist spannend, dass Du damals schon unter anderem mit dem vernetzten Denken Erfahrungen gesammelt hast, das hatte mich in meinem Studium umgetrieben. Nun aber ab ins Thema: hybride Organisationen!
Deine erste Anmerkung bezieht sich auf die Entstehung von hybriden Organisationen. Du hast vollkommen Recht, dass die Hybridisierung in dem Moment beginnt, wo ein ehedem eher netzwerkartiges Startup ohne große formale Hierarchie die ersten Schritte in die formal-fixierte Hierarchie geht, zum Beispiel durch die Bildung von Abteilungen etc. Ich sehe allerdings einen Unterschied zwischen einer eher implizit entstandenen Selbstorganisation, die oftmals in der Startup-Phase nicht wirklich durchdacht und bewusst gestaltet ist und einer Transformation mit dem Ziel einer kollaborativ kreierten Selbstorganisation. Denn nach der Startup-Zeit sind die netzwerkartigen, agil-selbstorganisierten Aspekte ja zumeist nicht mehr der angestrebte Organisations- und Arbeitsmodus, sondern eben die formale Hierarchie. Im Laufe der Transformation passiert wiederum immer wieder das genaue Gegenteil: Die klassische Aufbau- und Ablauforganisation wird allmählich durch Selbstorganisation ersetzt.
Insofern neige ich mit Deiner Anmerkung zu folgender erweiterten Sichtweise: Erstens gibt es zwei Hybridisierungsphasen: Die vom Startup zum etablierten klassischen Unternehmen und dann wieder hin zum transformierten selbstorganisierten Unternehmen. Damit in Verbindung sehe ich nun zwei Typen hybrider Organisationen:
- Formal hierarchische Unternehmen mit Hintergrundlayern von Selbstorganisation
- Transformierte Unternehmen mit Hintergrundlayern von Hierarchie.
Macht das irgendwie Sinn für Dich?
Jürgen: Ja, die Argumentation kann ich nachvollziehen. Die explizite “Transformation zurück” von einer stark formal strukturierten Organisation in eine wieder netzwerkartige Organisation ist eine besondere Herausforderung. Allerdings verstehe ich aus der Perspektive meiner Praxiserfahrung folgende Punkte nicht:
Warum stellen Organisationen in ihrem Wachstum die Aufbauorganisation in vielen Fällen so prominent vor die Prozesse und den “natürlichen Flow” eines Startups um die Prozesse herum? Es gibt ja mehr als genug Wissen um “structure follows process”.
Dann wäre es doch schlüssig, den “natürlichen”, eher crossfunktionalen Ablauf in kleinen Organisationen auch weiter aufbauorganisatorisch genau so zu unterstützen. Hier denke ich, ist es eine elementare Aufgabe im Wachstum eines Unternehmens gerade den Gestaltungsprozess explizit zu durchdenken und bewusst zu gestalten. Absurderweise adressieren viele Mitarbeiter im Wachstum die “Bürokratisierung” als dysfunktional, die dann aber offenbar durchgedrückt wird oder sich auf andere wundersame Weise etabliert. Und wenn es die “Transformation zurück” gibt, dann scheint sich die Aufbauorganisation in den Köpfen so verfestigt zu haben, dass deren Fluidisierung plötzlich unvorstellbar erscheint.
Und warum nutzen die Organisationen die immer noch vorhandene informelle Netzwerkstruktur (die Du zurecht im “Hintergrund” vermutest) nicht wirksamer für den Transformationsprozess? Meine Wahrnehmung ist, dass, je stärker restriktive aufbauorganisatorische Strukturen (auch dysfunktionale, z.B. bei den oft schwer nachvollziehbaren Matrixstrukturen) wirken, desto stärker haben sich auch informelle Netzwerke etabliert, um die Organisation am Leben zu erhalten. Die Ressource für die Transformation ist also längst an Bord und müsste aus dem Informellen “nur” entsprechend produktiv genutzt werden. Und schließlich: Warum müssen Organisationen immer wachsen und damit auch einer scheinbar unvermeidlichen Entwicklungslogik in die formal-hierarchische Figur folgen?
Ist Hierarchie ein organisationaler Archetyp?
Andreas: Ja, gute Fragen! Ich glaube es gibt eine sehr einfache Antwort auf Deine erste Frage, warum im Wachstum die klassische Aufbauorganisation vor die natürlichen Prozesse gestellt wird: Da greife ich zurück auf mein Argument in dem oben erwähnten Artikel. Wir alle sind mit diesen Aufbauorganisationen sozialisiert worden, von der Wiege bis zum Hier und Jetzt. Die klassische Aufbauorganisation ist ein organisationaler Archetyp, wie ich schon mehrfach feststellte, die meisten von uns kennen keine hybride Organisationen in der hier diskutierten Bedeutung. Das beginnt in der Familie (als “Agent der Gesellschaft”), die ja eher selten paritätisch demokratisch funktioniert, geht dann nahtlos in den Kindergarten über, gefolgt von diversen Bildungsinstitutionen (Grundschule, weiterführende Schulen, Berufsschule, Lehre, Hochschule) und findet seine Fortsetzung bei fast allen Arbeitgebern. Zwischendurch heiraten wir im Standesamt, beantragen in formal-hierarchischen Behörden unsere KFZ Zulassung, melden unseren Wohnort und so weiter und so fort. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Die Entwicklung des Startups zur Aufbauorganisation ist ein Reflex. Wir kennen so gut wie keine anderen Organisationsstrukturen. Im Übrigen hat sich das auch im Gesellschaftsrecht manifestiert, wo entsprechende Strukturen und Mechanismen größtenteils eingefordert werden. Bei der Gesetzgebung standen hybride Organisationen wohl kaum im Fokus.
Ich sehe es genauso wie Du: Die Ressourcen sind eigentlich da. Allerdings wird das informelle Netzwerk gar nicht so bewusst als Ressource für Transformationen wahrgenommen, so meine Erfahrung. Offiziell gibt es nur ein Organigramm mit der Vorderbühne, sozusagen. Die Hinterbühne ist nirgends festgehalten, geht auch gar nicht. Last but not least: Die Wachstumsfrage ist eine der Kernfragen, um unsere ökologische Situation in den Griff zu kriegen. Allerdings gibt es seltenes Wachstum ohne entsprechende Hierarchisierung, die meintest Du ja in Deinem Kommentar damals, dass Du keine “über Jahre bzw. Jahrzehnte erfolgreiche gewachsene Netzwerkstruktur” kennen würdest. Was eben auch an der juristischen Kodifzierung dieser Strukturen im Gesellschaftsrecht liegt. Eine GmbH braucht eine Geschäftsführung, und die ist weisungsbefugt.
Aber es gibt Hoffnung. Vor kurzem haben wir einen weiteren priomy CultureCheck mit einer Firma abgeschlossen, die von Anfang an Selbstorganisation statt Hierarchie zum Leitparadigma des Wachstums gemacht hatte. Und in der Art kenn ich glücklicherweise noch ein paar mehr Unternehmen.
Jürgen: Dein Argument der “Sozialisation mit den Aufbauorganisationen” kann ich gut nachvollziehen, teile es aber nicht ganz. Auch wenn Familien keine “demokratischen” Modelle repräsentieren, sind sie doch auch ziemlich weit weg von formalen Strukturen im Sinne einer Aufbauorganisation. Im Gegenteil: Das Informelle, oft auch das Unausgesprochene ist dominant, Formales ist eher weniger, Emotionen eher mehr relevant. Das beobachte ich auch als einen wesentlichen Unterschied in Familienunternehmen (gegenüber z.B. Börsennotierten Unternehmen): Beziehungen sind dort noch wichtiger, die formale Aufbauorganisation spielt demgegenüber keine so große Rolle, selbst wenn natürlich auch dort ein Organigramm gepinselt wird. In der Familie sehe ich das außerdem so, wie Gerald Hüther: Die Eltern-Kind-Beziehung ist so lange sehr produktiv, wie es eine Subjekt-Subjekt-Beziehung “auf Augenhöhe” ist und wird erst dann problematisch, wenn das KInd zum “Objekt der Erwartungen” der Eltern wird.
In dem Zusammenhang sehe ich auch eine Parallele zu den Unternehmen. Nach den oft sehr raschen und lustvollen ersten Entwicklungen in der Gründerphase kommen zunehmend Erwartungen von (durchaus vielen) “Stakeholdern” ins Spiel, denen das Unternehmen dann auch gerecht werden will und darüber geht dann oft der eigentliche Kern des Unternehmerischen, das Erspüren und Erfüllen der Kundenbedürfnisse verloren. Ich nenne das “Wachstumsschmerzen” und ich glaube auch, dass das die Menschen im Unternehmen genauso spüren: Es tut wahrscheinlich erstmal weh, irgendwelche Berichte schreiben, KPI’s ausrechnen und Besuchsprotokolle anfertigen zu müssen, anstatt direkt mit dem Kunden zu interagieren 🙂
Ich bin mir dann auch nicht sicher, ob das wirklich ein “Reflex”zur Bildung einer Aufbauorganisation ist. Denn wie schon gesagt: Die eigentliche Erfahrung, dass es um den kundenzentrierten Kernprozess geht und dass alles andere nicht so wichtig ist, die ist ja da. Aber wahrscheinlich hast Du recht, dass die nach der Kindheit folgende Sozialisation zur Taylor’schen Arbeitsteilung und zu Weber’schen Bürokratie dann doch auch eine quasi “unvermeidliche” Entwicklungslogik nahe legt.
Bevor ich gleich zwei Handhabungsvorschläge nenne, lass mich kurz noch das Desaster kommentieren, das wir mit unseren Bildungsinstitutionen anrichten – Du nennst es ja auch als einen Grund für den Reflex. Wir arbeiten hier mit einem antiquierten, tayloristisch streng geteilten Fächerkanon, legen Entwicklung als “Bullimie-Lernen” an, unterrichten maßgeblich frontal, fördern konvergentes Denken, belohnen fast ausschließlich individuelle Leistungen und sortieren Schüler mit 10 Jahren in Schultypen. Krass. Deshalb ist ein erster, vermutlich naiver und wenn, dann nur langfristig wirksamer Vorschlag, ursächlich an der Sozialisation anzusetzen und unser Schulsystem (endlich!) radikal umzubauen. Crossfunktionale Fächerkombinationen, Deutero Lernen (das Lernen lernen), divergentes Denken, Teamarbeit und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten ohne Systemgrenzen – das ist doch genau die Sozialisation, die wie in beruflichen Kontexten mühsam wieder einzuführen versuchen. Warum denn dann nicht gleich?
Gleichzeitig, zweiter Handhabungsvorschlag, sehe ich als wesentliche unternehmerische Leistung, genau im Wachstumsschmerz sehr reflektiert zu bleiben und das immanente Spannungsfeld zwischen formalen Anforderungen (und ggf. nur scheinbaren formalen Notwendigkeiten) und der informellen Power klug zu nutzen. Wer sagt, denn, dass die formale und kodifizierte Funktion des Geschäftsführers mit Weisungsbefugnis aus dem GmbH-Gesetz zwingend zu einer Weisung führen muß? Formal ja, aber der Prozess, der zur Weisung ist ja eben nicht kodifiziert! Den Spielraum kann ich doch nutzen, oder? Das ist doch eine Entscheidung, die getroffen wird. Und die macht dann den Unterschied.
Ich freue mich jedenfalls, dass Du mehr als ein Beispiel hast, bei dem dem Reflex widerstanden wurde. Da interessiert mich: Wie ist dem widerstanden worden? Was waren die Ressourcen, die Entscheidungen dabei? Und: Wie groß ist das bzw. sind die Unternehmen, bei denen Du das beobachtet hast, was heißt bei diesen Unternehmen also Wachstum?
Persönliche Motive, Metakompetenzen & Wachstum
Andreas: Klar, Familien sind relativ weit weg von Unternehmen. Das ist aber auch nur der Anfang. Und tatsächlich kann ich aus therapeutischer genauso wie aus persönlicher Erfahrung sagen: Leider ist es oft genug keine Beziehung auf Augenhöhe, viel zu häufig werden eigene Wünsche und Erwartungen auf die Kinder projiziert oder gesellschaftliche Normen ohne weitere eigene Reflexion reproduziert. Von wegen sapere aude! Ein sehr gutes Beispiel ist das westliche Standard-Narrativ partnerschaftlicher Beziehung inklusiver der Hochzeit in Weiß, die längst ein eigener Wirtschaftszweig ist.
Aus meiner Sicht ist es gar nicht so klar, dass es tatsächlich bei Startups und deren Gründern um den kundenzentrierten Kernprozess geht. Dahinter steckt doch die persönliche Motivation des oder der Gründer*innen. Warum gründet jemand? Sobald (institutionelle) Investoren an Bord geholt werden, um schneller oder gar maximal schnell zu wachsen, wird eine gewisse Pfadabhängigkeit in Richtung der bekannten Strukturen mit der klassischen Aufbauorganisation geschaffen. Worum geht es dann also? Einen maximal schnellen und lukrativen Exit? Oder darf sich das Wachstum organisch entfalten?
Zur Bildung: Ja, ja und nochmals ja. Da bin ich voll und ganz bei Dir. Und ergänze nur eines: Es braucht noch mehr Metakompetenzen als Deutero-Lernen. Z.B. die Bedeutung unserer Intuition und Emotion für Entscheidungsprozesse; oder zu verstehen, dass es nicht nur wichtig ist, sich zu fragen, was ich eines Tages arbeiten will, sondern auch wie; oder Unsicherheits- und Ambiguitätstoleranz und damit gepaart die Pflege der kindlichen Neugier – denn ohne diese letzten Aspekte werden wir immer wieder versuchen, Kontrolle über das Leben und die Zukunft zu erlangen, die wir aber niemals haben werden.
Zur Reflexion im Wachstum(sschmerz): Wunderbar, das ist dann auch gleich eine weitere wichtige Metakompetenz, insbesondere für hybride Organisationen: konstruktiv-kritische Selbstreflexion. Das beginnt eben schon bei der Intention zur Gründung. Du hast vollkommen Recht, dass das GmbH Gesetz keineswegs zur Anweisung führen muss. Da würde ich nur anmerken wollen: Langfristig brauchen wir auch eine Novellierung unseres Gesellschaftsrechts. Denn solange es so bleibt, wird es immer ein einklagbares Machtgefälle geben. Die Geschäftsführerin kann rein juristisch jederzeit die Holacracy Verfassung wieder kippen.
Und noch kurz zum Reflex hin zu traditionellen Strukturen und Vorgehensweisen: Besser und passender wäre “reflexhaft”, also weniger zwingend. Natürlich kann mensch dem widerstehen und muss nicht so handeln. Es ist kein unabänderlicher Automatismus. Und deshalb braucht es Reflexion (interessant, dass die Begriffe auf derselben sprachlichen Wurzel beruhen…) – eben genau so, wie Du das im zweiten Handhabungsvorschlag formulierst.
Zum Wachstum ohne in klassische Vorgehensweisen zu verfallen: Das ist eine großartige Frage, wie das diesen Firmen gelungen ist! Da würde ich am liebsten sofort ein Forschungsprojekt daraus entwickeln, sowas wie “Die Rolle des Wachstums für hybride Organisationen”. Vielleicht waren die Gründer bereits so reflektiert und hatten alternative Erfahrungen mit partizipativeren Entscheidungsprozessen gemacht. Bei der einen oder anderen Firma war das so. Da war die Sozialisation bereits ein wichtiger Aspekt. Aber da kommt sicherlich noch mehr dazu – z.B. das Geschäftsmodell. Wenn das schnelles und großes Wachstum erfordert, wie aktuell bei Delivery Hero, sehe ich wenig Chancen für eine alternative, partizipativere, sozial-ökologisch nachhaltige Wirtschaft.
Die Firmen die ich kenne, sind ausnahmslos KMU. Dazu passend hatte ich schon vor geraumer Zeit die Frage aufgeworfen, wie lange wir uns noch die Konzernwelt leisten können. Dabei wird oft so getan, als ob globale, Multinationales Konzerne (MNC) zwingend nötig wären. Wer sagt das? Wirtschaftshistorisch sind sie eine sehr junge Erscheinung, selbst wenn wir die East India Corporation als Vorläufer interpretieren. Wer sagt, dass wir nicht allesamt besser bedient wären, wenn wir mit kleineren dezentraleren Einheiten arbeiten würden – und dann kämen auch wieder die Ideen von Bergmann ins Spiel, die im Rahmen der Diskussion um New Work meistens ignoriert werden.
Jürgen: Deinem Argument mit den Motiven von Gründern stimme insofern zu, als ich auch davon überzeugt bin, dass mit dem Eintritt von Investoren die von Dir beschriebene Pfadabhängigkeit mit in das Unternehmen eintritt. Ich glaube, das ist genau der kritische Punkt in der Unternehmensentwicklung: Jetzt wird das finanzielle Motiv einseitig stärker gewichtet, als das (wahrscheinlich) ursprüngliche Motiv, ein Bedürfnis von Kunden erstmalig oder besser als andere zu befriedigen. Organisch wächst dann selten noch was, es geht um Wachstum per se und das wirkt mindestens mittelfristig oft dysfunktional, weil alles, was das Wachstum fordert nun klare Priorität bekommt: Verkaufen und Volumen auf Teufel komm raus, KPI’s zur Messung des Marktanteils und der Penetration, Produkt und Service Derivate zur Volumenssteigerung, usw. Kurz: Investoren mit dem Motiv zur Steigerung des Shareholder Value (eine heilige Kuh bis heute) sind der maßgebliche Stakeholder. Und nicht mehr bestehende und potenzielle Kunden. Die Frage die sich Gründer hier (natürlich verkürzt) stellen müssen: Bin ich käuflich?
Die Frage, wie lange wir uns Konzerne noch leisten können, ist für mich ziemlich einfach und empirisch schon beantwortet: Die Mortalität der Konzerne ist ja in den letzten drei Jahrzehnten enorm gestiegen und wird sich weiter beschleunigen. Sie sind überwiegend nicht sensitiv und lernfähig genug. Und die von mir beobachtete Hilflosigkeit, mit der viele Konzerne sich deshalb “agilisieren” wollen, meistens ohne dabei den tatsächlichen Preis der Veränderung (heißt natürlich heute Transformation) tragen zu wollen ist bemerkenswert naiv. Dabei ist der eigentliche Kern im Unternehmen – wie ich oben schon gesagt habe – oft immer noch in der Organisation vorhanden. In informellen Strukturen wird nämlich sowieso an formalen Konzernstrukturen vorbei gearbeitet – die einzige Überlebenschance von vielen Mitarbeitern in den Konzernen bzw. auch die Überlebenschance der gesamten Organisation. Wie so oft steckt die Lösung schon im System selbst. Es bräuchte die Gelegenheit bzw. die Arena, um die Kraft des Hybrids – aus sich selbst heraus und nicht wieder durch einen Berater-Stellvertreter – konsequent zu nutzen. Und vor diesem Hintergrund bin ich mir ziemlich sicher, dass wir dafür weder die Etiketten “agil”, noch “New Work” oder sonst einen marktschreierischen Begriff brauchen. Schließlich glaube ich wie Du, dass wir mit kleineren, dezentralen Einheiten allesamt besser bedient wären.
Andreas: Ein schönes Schlusswort, Jürgen! Vielen Dank für diesen inspirierenden Dialog über hybride Organisationen, der aus Deinem konstruktiven Kommentar zu meinem Beitrag bei t2informatik hervorgegangen ist.
Herzliche Grüße
Andreas
Bildnachweis
- Beitragsbild: unsplash, lizenzfrei
- Dr. Jürgen Schüppel: privat, mit freundlicher Genehmigung