
Mitarbeiterbindung: Autonomie und Bindung sind zwei wichtige menschliche Seiten. Wir brauchen eine Balance, zuviel vom einen oder anderen ist nicht nur für unser Wohlbefinden schädlich, sondern auch für unsere Gesundheit. Einerseits sind wir soziale Wesen, die Bindung und Zugehörigkeit brauchen. Andererseits haben wir alle unseren eigenen Willen und trachten nach Selbstbestimmung.
Wer Kinder hat, kennt das nur zu gut. Irgendwann wollen die Heranwachsenden ihren Willen durchsetzen und machen nicht einfach gehorsam das, was Mami und Papi wollen. Die meisten Arbeitsverhältnisse erzeugen nun aber ein erhebliches Problem: Sie fokussieren vornehmlich auf die Mitarbeiterbindung – und versuchen die Autonomie durch geregelte Entscheidungsprozesse weitgehend einzudämmen. Und das hat einen Preis.
Bindung und Bindungstheorie

Welche Rolle Bindung für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der (psychischen) Gesundheit spielt, ist schon lange Thema psychologischer Forschung – und geht sogar weit darüber hinaus. Sozusagen als empirische „Studie“ ist das ethisch völlig unhaltbare Experiment von Friedrich dem Zweiten überliefert: Er habe Kinder beschränkt auf die physiologische Grundversorgung ohne weitere Beziehungsaufnahme aufwachsen lassen, um herauszufinden, was die menschliche Ursprache sei. Tragischerweise sind – wenn die Geschichte stimmt – alle Kinder frühzeitig gestorben. Heute können wir glücklicherweise ethisch korrektere Experimente durchführen, um herauszufinden, welche Rolle Vertrauen, Kooperation und eine positive Beziehung für uns Menschen spielt.
- Der Psychologe Rolf Loeber fand in einer umfassenden Studie mit 1500 Jugendlichen heraus, dass selbst erlittene Gewalt und fehlende menschliche Beziehung die beiden stärksten Einflussfaktoren auf die Aggression und Gewalt der untersuchten Jugendlichen waren. Zudem war es wichtig, dass die Jugendlichen in Banden wiederum Bindung und Beziehung fanden.
- Der Psychiater Marc Sageman kam bei der Untersuchung der Lebensläufe der 400 islamistischen Top-Terroristen zu einem interessanten Ergebnis: Über 70% gingen in Terrorgruppen, während sie außerhalb ihrer Heimat lebten. Über 80% hatten den Eindruck, von der Gesellschaft, in der sie lebten, ausgeschlossen zu sein. Und 86% wurden über persönliche Freundschaften rekrutiert! (Sagemen, M. (2004): Understanding Terror Networks. University of Pennsylvania Press.)
- Der Sozialpsychologe John Cacioppo und die Psychosomatikerin Janice Kiecolt-Glaser haben in je eigenen Studien gezeigt, dass Einsamkeit schon bei jungen Menschen das Risiko von Blutdruckerkrankungen und den Stresshormonlevel von Adrenalin und Noradrenalin erhöht sowie ein Stresssystem aktiviert, dass sich bei depressiven Patienten findet.
Diese Ergebnisse zeigen, dass wir abhängig sind von kooperativen, zugewandten menschlichen Beziehungen und Bindungen. Wird uns dieses Vertrauen und die damit einhergehende Kooperation versagt, erfolgt Aggression oder Depression. Abgesehen davon liegt es auf der Hand, dass wir Menschen im höchsten Maße von einer liebevollen Kooperation gerade zu Beginn unseres Lebens abhängig sind. Kein individueller Mensch würde ohne körperliche und emotionale Zuwendung und Unterstützung überleben. Damit steht am Anfang des Arterhalts des Homo Sapiens Vertrauen, Kooperation – und Bindung.
Autonomie und Selbstbestimmungstheorie
Ich erinnere mich noch genau, als meine beiden Söhne je das erste Mal im Brustton der Überzeugung sagten: „Das kann ich selbst.“ Und natürlich: „Ich bin der Bestimmer!“ Und umgekehrt: Welche Eltern kennen es nicht, wenn gemäß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik das Kinderzimmer mal wieder ein wunderbares Beispiel für Chaos abgibt – und die Kinder es gar nicht prickelnd finden, Entropiearbeit zu leisten, sprich: Das Zimmer aufzuräumen.
Die Self-Determination-Theorie (SDT) befasst sich als Meta-Theorie und Rahmenwerk mit individualpsychologischer Autonomie und ihrer Bedeutung für uns und unsere Gesundheit. Ihr zufolge gibt es neben dem Autonomiestreben und -erleben noch das Kompetenzerleben und soziale Eingebundenheit (Zugehörigkeit) als transkulturelle psychologische Grundbedürfnisse. Werden diese Bedürfnisse nicht ausreichend erfüllt, hat das negative Folgen für unsere (psychische) Gesundheit, ebenso wie mangelnde Bindung und Zugehörigkeit.
Dies konnte im Arbeitskontext mit den großen epidemiologischen Studien Whitehall I + II gezeigt werden. Mangelnde Autonomie im Arbeitsleben (Job-Demand-Control), also die Erlaubnis und das Vermögen, Arbeit zumindest in Teilen selbst zu bestimmen, haben einen signifikanten Zusammenhang zur Mortalität. Gerade im Arbeitskontext ist dieser Zusammenhang mittlerweile empirisch abgesichert. Was aus meiner Sicht übrigens recht trivial ist. Ich muss nicht alles selber bestimmen dürfen und wollen, aber wenn ich umgekehrt keinen Einfluss auf mein Arbeitspensum, -zeiten, -ort, -mittel und vor allem -inhalte habe und nur als Verrichtungsgehilfe Anweisungen erhalte, dann ist das weder für meine Motivation noch meine Gesundheit zuträglich.
Was bedeutet das für Ihr Unternehmen?
Wenn Ihre Organisation stark auf Kontrolle, Vorgaben und Bindung setzt, riskieren Sie, das Autonomiebedürfnis Ihrer Mitarbeitenden zu verletzen – mit allen Konsequenzen für Motivation, Engagement und Gesundheit. Die gute Nachricht: Sie müssen nicht Ihre gesamte Organisation umkrempeln. Schon gezielte Impulse in Führung und Kultur können die Balance von Bindung und Autonomie deutlich verbessern.
Wie das gehen kann, zeige ich im weiteren Verlauf dieses Beitrags. Und gerne auch in einem Gespräch mit Ihnen.
Autonomie und Mitarbeiterbindung im Standard-Arbeitsverhältnis
Arbeitgeber, die weiterhin durch formal-fixierte Hierarchien und die damit verbundenen Strukturen organisiert sind, fokussieren vorwiegend auf die Seite der Mitarbeiterbindung. Damit und durch ein mehr oder weniger explizites Regelwerk zur Entscheidungsfindung versuchen sie, Autonomie so weit wie möglich zu reduzieren. Wenn wir Bindung/Zugehörigkeit einerseits und Autonomie andererseits als diametral gegenüberliegende Polpaare verstehen, dann ist die menschlich angestrebte Balance aus Bindung und Autonomie zerstört. In einem Standardarbeitsverhältnis zappeln wir gewissermaßen wie auf einer Wippe mit den Beinen in der Luft und versuchen den Boden der Selbstbestimmung unter unseren Füßen zu erreichen.
Innerhalb traditioneller Hierarchien gelingt Selbstbestimmung zumeist nur, indem wir die Karriereleiter aufsteigen und mehr Entscheidungskompetenzen zugebilligt bekommen. Deshalb vermute ich, dass wir unser Autonomiebestreben auf unser Privatleben verlagern. Dort gibt uns keiner Anweisungen, wie und wo wir wohnen, was wir essen und wielange wir am Wochenende morgens ausschlafen. Wie wichtig diese Selbstbestimmung ist, zeigt sich mit einem recht simplen Gedankenspiel: Was würde passieren, wenn unsere Vorgesetzten auch über unser Privatleben bestimmen würden? Herr Zeuch, am Wochenende beginnen sie den wöchentlichen Putz am Samstag um 7 Uhr auf, am Sonntag frühstücken Sie um 9. Wer würde sich das wohl vorschreiben lassen?
Die auf Bindung fokussierte Struktur und Kultur zeigt sich in verschiedenen Instrumenten, die Arbeitgeber nutzen:
- Arbeitsvertrag
- Stellenbeschreibung
- Entscheidungskompetenzen
- Disziplinarrecht
- Abmahnung
Selbstbestimmung im Sinne von Agilität, Selbstorganisation oder Unternehmensdemokratie ist immer noch die Ausnahme. Und das hat neben gesundheitlichen Konsequenzen insbesondere auf die Motivation der Mitarbeitenden erhebliche Auswirkungen. Interessanterweise erhebt der Gallup Engagement Index die emotionale Mitarbeiterbindung der Arbeitnehmer:innen an den Arbeitgeber. Dabei ist das Ergebnis seit der ersten repräsentativen Erhebung 2003 mehr oder weniger stabil: Nur rund 15% der Befragten befinden sich in einer emotional positiven Mitarbeiterbindung, während rund 85% entweder schwach oder gar nicht emotional an den Arbeitgeber gebunden sind. Neben dem Gallup Engagement Index gibt es noch diverse weitere Untersuchungen, die die Zusammenhänge von Autonomie/Job-Demand-Control und Motivation sowie Gesundheit untersuchen.
Was Arbeitgeber machen können
Grundsätzlich ist es aus Sicht des Arbeitgebers sinnvoll, Mitarbeitende zu binden. Sie tragen (un)bewusstes Wissen und Erfahrung in sich, die insbesondere in wissensintensiven Berufen nicht einfach ersetzbar sind; sie haben sich ins Team und die Umgebung eingelebt; sie wissen um die expliziten und impliziten Spielregeln der jeweiligen Kultur, kurz: Sie sind ein verlässlicher und wichtiger Bestandteil der Organisation. Umgekehrt wird es aufgrund der bekannten Veränderungen zunehmend schwieriger, neue qualifizierte, gute und vor allem passende Kolleg:innen zu finden. Das Recruiting wird aufwändiger. Und wenn jemand gefunden wurde, muss die Person erst aufwändig eingearbeitet werden und wird die ersten Monate kaum dieselbe Leistung erbringen, wie jemand, der seit Jahren die Rahmenbedingungen der eigenen Arbeit kannte (Prozesse, Strukturen, Kultur…). All das kostet Zeit und Geld.
- Geschäftsführungen tragen die Verantwortung für das große Ganze und den Erfolg des Unternehmens insgesamt. Ein zentraler Aspekt ist dabei eine Organisationskultur, die zumindest dafür sorgt, dass die Balance von Autonomie und Bindung nicht dauerhaft vollends aus dem Gleichgewicht ist.
- HR-Leitungen befinden sich im Spannungsfeld zwischen Mitarbeiterbindung und -entwicklung (durch entsprechende Unterstützung), Personalgewinnung und strategischer Organisationsentwicklung. Das braucht ein Gefühl für psychologische Grundbedürfnisse wie die Balance aus Autonomie und Bindung sowie deren organisationale Konsequenzen.
- Interne OE-Fachleute gestalten Veränderung von innen. Wenn Sie auf Autonomie setzen, brauchen Sie nicht nur Methoden, sondern auch das Mandat, entsprechende Prozesse, Strukturen und Kultur mitzugestalten. Da beginnt bei einem klaren interne Auftrag und der anschließenden direkten Kommunikation zwischen OE und Geschäftsführung.
Umso wichtiger ist es für diese Personengruppen, den sinnvollen Bedarf nach Mitarbeiterbindung nicht zu übertreiben, um die Mitarbeitenden nicht paradoxerweise durch den Wunsch nach Bindung früher oder später zu vergraulen. Also stellt sich die wichtige Frage, wie das bewerkstelligt werden kann. Es heißt keineswegs, dass die ganze Organisation umgekrempelt werden muss. Die Mitarbeitenden müssen nicht zwangsläufig in die maximal mögliche Selbstorganisation entlassen werden. Es beginnt vielmehr damit, sich als Geschäftsführung den hier kurz skizzierten Zusammenhang erst einmal klarzumachen. Wer nur binden will, schafft die Grundlagen für die (innere) Kündigung, nicht bei allen Mitarbeitenden, vielleicht nicht einmal bei vielen, aber zu oft bei zu vielen. Danach müssen die Führungskräfte für dieses Problem sensibilisiert werden. Durch ihre regelmäßige Führung etablieren und reproduzieren sie die Führungskultur der Organisation und setzen damit den Standard bezüglich Autonomie und Bindung. Drittens schließlich besteht das Ideal darin, den individuellen Bedürfnissen der Mitarbeitenden nach ihrer jeweiligen Balance aus Autonomie und Bindung entgegenzukommen. Kurz zusammengefasst:
- Geschäftsführung: Bewusstwerdung der Problematik und Klärung, wie die Organisation auf das Bindungsproblem antworten soll.
- Führungskräfte: Sensibilisierung für das Thema und ihre wichtige Rolle dabei. Vermittlung der nötigen Führungskompetenzen.
- Mitarbeitende: Einbindung in eine ausbalancierte Führungskultur: Wieviel Autonomie und Bindung brauche ich?
Zum Abschluss ein einfaches Beispiel, kurz skizziert: Führungskräfte können den konsultativen Entscheid nutzen. Bevor sie eine Entscheidung treffen, die ihre Mitarbeitenden betreffen, können sie diese konsultieren und um deren Perspektiven bitten, anstatt einfach alleine zu entscheiden und die Mitarbeitenden anschließend vor vollendete Tatsachen zu stellen. Gut gemacht führt das dazu, dass sich die Mitarbeitenden gehört fühlen, anstatt übergangen zu werden. Sie können ihre autonomen Sichtweisen einbringen. Dabei muss natürlich ein sauberes Erwartungsmanagement betrieben werden, dass es nicht darum geht, jede Einzelperspektive sogleich umzusetzen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Optionen, die in zunehmendem Maß die Autonomie und Bindung in Balance bringen. Arbeitsverträge und Stellenbeschreibungen können ein gewisses Maß an Freiraum enthalten, Mitarbeitende und Teams können Entscheidungskompetenzen erhalten, um autonomer zu agieren und so weiter.
Wollen Sie Ihre Mitarbeiterbindung verbessern, indem Sie die Autonomie Ihrer Mitarbeitenden stärken?
Lassen Sie uns ins Gespräch kommen!
Herzliche Grüße
Andreas
Literatur
- Gonzales-Mulé, E.; Cockburn, B. (2017): Worked to Death: The Relationships of Job Demands and Job Control with Mortality. PERSONNEL PSYCHOLOGY 2017, 70: 73–112
- Loeber, R., and Farrington, D. P., Young homicide offenders and victims: Development, risk factors and prediction from childhood. New York: Springer, 2011.
- Sagemen, M. (2004): Understanding Terror Networks. University of Pennsylvania Press.
- Zeuch, A. (2015): Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten. Muhrmann
Bildnachweis
- Beitragsbild: Dr. Andreas Zeuch, ©2018
- Friedrich II., gemeinfrei
- Chefparkplatz: ©Andreas Zeuch