Am 26. März 2015 wurde in der Financial Times ein interessanter Artikel veröffentlicht, der tief blicken lässt: “The pros and cons of corporate democracy” Hinter dem harmlos weil rein beschreibenden Titel verbirgt sich ein Abgrund, der es in sich hat. Es ist betrüblich, denn der Autor Henry Mance arbeitet eine interessante Problematik und damit verbundene Frage heraus, die ich so noch nirgendwo sonst gelesen habe, schon gar nicht in der bisherigen Diskussion in Deutschland. Andererseits entlarvt er sich selbst mit einer erstaunlichen Metapher. Denn sie kommt gleichsam ohne Umweg direkt aus dem Schlauchthaus.
Erfolgreiche Unternehmensdemokratie
Beginnen wir mit einem konstruktiven, spannenden Aspekt des Artikels. Mance beginnt mit einem halbwegs ulkigen Multiplechoice Fragenkatalog an die Leser:innen, ob sie ihren Kollegen genug trauen a) um einen Regenschirm übers Wochenende auf dem Schreibtisch liegen zu lassen, b) um deren verdächtig grüne selbstgebackene Kekse zu essen oder c) um sie den Chef wählen zu lassen. Die Auflösung zu diesem Einstieg folgt sofort. Denn der Guardian neige zur Antwort c – zumal dort im März 2015 die neue Chefredakteurin durch die Belegschaft gewählt wurde. Die Mitarbeitenden hatten die Möglichkeiten aus 26 Kanditat:innen aus unterschiedlichen geografischen Regionen, Disziplinen und mit verschiedenen beruflichen Erfahrungen zu wählen. Nicht nur die Wahl sondern auch das Ergebnis war ein Novum in der Geschichte der Zeitung: Die damals neu gewählte Chefredakteurin Katherine Viner war die erste Frau in dieser Rolle in der 194 jährigen Geschichte der Zeitung.
Aber bei diesem durchaus interessanten Fall belässt es Mance nicht. Er bringt noch zwei weitere Beispiele: W.L. Gore als schon jahrelang bekannte “Innovations-Demokratie” und die zumindest in Deutschland weniger bekannte Sandwich- und Kaffee-Haus-Kette Pret A Manger, bei denen die Teammitglieder gemeinsam entscheiden, ob neue Mitarbeitende fortan weiter dort arbeiten sollen. Da es alle drei Unternehmen immer noch gibt, ist durch die mehr oder minder demokratischen Prozesse kein Chaos ausgebrochen, vielmehr scheint das jeweilige Vorgehen zu funktionieren.
Vorteile von Unternehmensdemokratie
Im dann folgenden zweiten Schritt leitet der Autor seinen argumentativen Rückwärtssalto mit einer gleichzeitigen 180 Grad Wende ein: Er zitiert Dan Cable, Professor an der London Business School, mit seiner Aussage, Unternehmensdemokratie wäre ein höheres Risiko bei höheren Chancen, da sie funktioniere aber extrem selten sei, weil sie eine wirklich andere Unternehmenskultur benötige. Soweit kann ich Dan Cable nur zustimmen, allerdings ist dies sicherlich kein Gegenargument. Aber dies ist erst der Anfang der beachtlichen argumentativen Umkehr.
Im dritten Schritt führt Mance zunächst die Argumente für Unternehmensdemokratie auf. Die MitarbeiterInnen können entweder über die Gewerkschaften wählen gehen (Streikoption) oder aber sie wählen gewissermaßen mit den Füßen ab (Kündigungsoption). Die Wahl des eigenen Chefs repräsentiere in diesem Zusammenhang eine besonders hohe Form des Engagements. Dieses Vorgehen erzeuge vermutlich deutlich angenehmere Gefühle bei der Arbeit als “endlose Einmachgläser voller Kekse, Treffen in der Stadthalle oder Gruppenreisen, um Bäume an einer Autobahn zu pflanzen.”
Nachteile von Unternehmensdemokratie
Aber die Gegenargumente wären wesentlich gewichtiger. Eine Wahl erzeuge eine große Verzerrung gegenüber externen Kandidaten, die nicht über einen Fanclub im Unternehmen verfügen würden. Externe wären nicht in der Lage, einen solchen Wahlkampf zu führen, wenn sie nicht die Mitarbeiterschaft gegen sich aufbringen wollten. Zur Illustration führt Mance die vage Behauptung ins Feld (“some argue”), das britische Bewerber bei Pret A Mangers Wahlsystem benachteiligt wären, da die Mitarbeiter größtenteils Ausländer sind. Faktisch würde der Prozess einer Wahl die falschen Fähigkeiten und Strategien vorziehen. Brillianz würde im Wettbewerb mit Freundlichkeit gewissermaßen auf den Rücksitz verdammt.
Und jetzt kommt der Witz: Truthähne würden auch nicht Weihnachten wählen. Ergo würden Belegschaften wohl kaum Führungskräfte wählen, die sich für eine Restrukturierung einsetzen. Wenn man, so Mance, davon ausgeht, dass es eine der ersten Aufgaben eines neuen Chefs sei, “den Tisch aufzuräumen”, dann wäre genau dies ein Problem. Mit anderen Worten: Die Mitarbeitenden wählen niemanden, der sie rausschmeißt. Wohl wahr. Die Analogie zwischen Mitarbeiter:innen und Truthähnen, die nur aufgezogen werden, um dann zu Weihnachten als Mahl auf dem Tisch zu landen, ist eine wahre Meisterleistung. Ein Tier, dessen einzige Funktion darin besteht, eines Tages geschlachtet zu werden, wird als Argument genutzt, um den sinnvollen Widerstand der Belegschaft gegen ihre Entlassung ohne ihre Mitsprache und ihr Mitdenken als ineffizient zu demaskieren. Zusammengefasst lautet also das Argument:
Der große Nachteil der Unternehmensdemokratie liegt darin, dass Mitarbeitende kein Top-Management wählen, dass Sie nach der Wahl entlässt.
Dieses Argument spricht wohl für sich selbst. Darüber hinaus gibt es aber noch ein paar andere wesentliche Aspekte:
- Unternehmensdemokratie ist genauso wenig mit der Wahl von Führungskräften gleichzusetzen wie mit Basisdemokratie. Eine demokratische Unternehmensverfassung wird häufig anders realisiert. Das zeigen die 12 Fallbeispiele in meinem Buch. Übrigens auch W.L.Gore, das Unternehmen, das Mance selbst mit aufführt.
- Ein tatsächliches Risiko der Wahlen von Kolleg:innen (Pret A Manger) besteht darin, unbequemes Querdenken zu unterdrücken, denn auch Teams unterliegen, wenn sie zu homogen zusammengesetzt sind, dem Risiko des Gruppendenkens. Dabei liegt eigentlich ein Vorteil von Demokratie gegenüber einfältigen top-down Führungsstrukturen gerade in ihrer Vielfalt.
- Es ist äußerst fraglich, dass die erste Aufgabe eines neuen Top-Managers darin bestehe, “den Tisch aufzuräumen”, wie Mance formulierte, sprich: Effizienzsteigerung und Kostensenkung durch Restrukturierung und Personalabbau. Das hängt unter anderem mit den Nachteilen einer nichtdemokratischen, einfältigen Problemdefinition zusammen (“Alle Macht für niemand”, S. 218f).
- Damit könnte also gerade jemand von außen besonders gute Wahlchancen haben, wenn er oder sie mit frischem Blick auf das Unternehmen zu geht und kreativer ist, als wie so oft die nächste Restrukturierung zu beginnen. Und was sollte daran brillant sein, die immer gleichen Lösungen auszupacken?
Herzliche Grüße
Andreas Zeuch
Literatur
- Mance, H. (2015): The pros and cons of corporate democracy. Financial Times
Bildnachweis
- Beitragsbild: Oscar Tellgmann, gemeinfrei
- Truthahn: Dimus, gemeinfrei
Ob nun als Truthahn geschlachtet oder als Festtags-Menü serviert: in solchen Fällen überbringt und realisiert den Küchenjob ohnehin ein CRO oder Interims Manager. Ein zu wählender Kandidat muss neben Charisma und Orga-Talent auch emotionale Charakterzüge mit sich bringen: ein Vergleich zur Bürgermeisterwahl sei erlaubt. Auch hier gewinnt nicht der Kandidat mit den besten Sachargumenten, sondern jener mit dem grössten Konsenz-Potenzial. Selbst oder gar weil, jeder weiss, dass es ein Weitermachen “wie immer” beim Wechsel nicht mehr geben wird.
Ansonsten ist heute Dein Buch angekommen, auf dessen Fallbeispiele ich ganz gespannt bin.
HI Jan,
danke für Deinen Kommentar! Ja, da steckt natürlich ein Problem drin – allerdings gibt es ja auch verschiedene Instrumente, um der Problematik zu begegnen, darüber findest Du auch erste Anregungen im Buch. Damit wünsche ich Dir nun viel Spaß – und hoffe, dass Du die eine andere Inspiration mitnehmen kannst!
Bei Fragen oder Gesprächsbedarf stehe ich natürlich gerne zur Verfügung!
Herzliche Grüße
Andreas