HHLA – ein Fall gescheiterter Unternehmensdemokratie? Fangen wir von vorne an. HHLA? Das ist die Hamburger Hafen und Lagerhaus Aktiengesellschaft. Im März 1885 als Hamburger Freihafen-Lagerhaus Gesellschaft gegründet und bis heute auf über 5500 Mitarbeiter*innen angewachsen. Ihr Kerngeschäft besteht heute aus den vier Bereichen Container (drei von vier Containerterminals des Hamburger Hafens), intermodaler Verkehr (Containertransport auf Schiene und Straße) und Immobilien. Das erste mal wurde ich 2014 auf das Unternehmen aufmerksam. Damals suchte ich noch Fallbeispiele für mein letztes Buch “Alle Macht für niemand” – und fand einen Artikel in dem Band “Zukunftsfähige Gesundheitspolitik im Betrieb”.
In dem dortigen Beitrag wurde die Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich psychischer Belastung im kleinsten Containerterminal der HHLA untersucht. Aus meiner Sicht war das, was in der Terminal Tollerort GmbH geleistet wurde, nicht gerade weltbewegend, aber doch immerhin ein richtiger Schritt in Richtung von mehr Partizipation. Denn immerhin “werden die Beschäftigten über Betriebsversammlungen und Gesundheitszirkel direkt an der Entwicklung von Vorschlägen und Lösungen beteiligt.” (Giepert 2010: 117) Das ist nicht unbedingt typisch und verweist auf ein gewisses Maß an Selbstorganisation und Partizipation zumindest in diesem Bereich. Inwieweit darüberhinaus über die gesamte HHLA die Unternehmensführung und -gestaltung mehr oder minder partizipativ erfolgt(e), ist mir nicht bekannt. Es klang eigentlich nicht so. Umso mehr wunderten mich ein paar Zeitungsartikel, über die ich vor geraumer Zeit gestolpert bin.
Anfang April 2016 erschien im Hamburger Abendblatt der Artikel “HHLA-Gutachten: Hafenarbeiter machen was sie wollen”, in dem allen Ernstes “Anarchie” diagnostiziert wurde. Nur einen Tag später musste sich die Lage schon dramatisch zugespitzt haben, denn nun war die Anarchie von einer Überschrift im Text des ersten Artikels bereits zum Titel geworden: “Anarchie! Die Macht der Hafenarbeiter am Burchardkai”. Etwas weniger dick aufgetragen erschien zeitgleich am 08. April 2016 ein Beitrag in der Welt: “Hamburger Hafenkonzern HHLA stockt Personal auf”, was nun deutlich weniger dramatisch klingt. Und überhaupt irgendwie anders. Last not least wurde das Thema dann Ende April auch noch für den Spiegel interessant, wiederum mit einer anderen Ausrichtung: “Deutschlands größter Hafenkonzern erstmals mit Chefin”. Soweit das mediale Blitzlicht.
In den Artikeln über die angebliche Anarchie, also einen herrschaftsfreien Raum ohne jegliche Hierarchie (“die heilige Ordnung”!) wurde über drei Aspekte berichtet: Erstens sei die Belegschaft jahrelang quasi führungslos gewesen. Zweitens hätte sich die Mitarbeiter*innen ganz offensichtlich wie die Inkarnation des Eigennutzen maximierenden Homo oeconomicus aufgeführt. Drittens hätte es keine festen Arbeitszeiten gegeben, sondern wer mit der Arbeit fertig war, sei gegangen. Etwas detaillierter klingt das in den Artikeln so:
Zu Eins: Das Beratungsunternehmen Metaplan wurde vom Vorstand beauftragt, die Probleme des Unternehmens zu untersuchen, da es wiederkehrende Schwierigkeiten bei der Containerabfertigung gab. Nach der Analysephase stellte Metaplan fest: Über viele Jahre sei der Containerterminal Burchardkai “sich selbst und seinen Beschäftigten überlassen” gewesen. “Deshalb hätten die Beschäftigten die Organisationszwecke und -ziele selbst definiert.” (Kopp 2016a) OMG!! Unerhört. Das klingt, als ob wir in Deutschland den Salafisten das Regieren überlassen hätten. Mit Verlaub – was soll der Satz sagen, außer, dass vermutlich sowohl Metaplan als auch Herr Kopp nur genau ein Möglichkeit sehen, wie Organisationszwecke definiert werden: Nämlich durch die GF, den Vorstand und/oder die Shareholder. Es mutet geradezu pervers an (→Verkehrung ins Gegenteil), wenn die Beschäftigten den Organisationszweck definieren. Genügend Unternehmen machen genau das und sind damit erfolgreich – nicht trotzdem, sondern deswegen.
Zu Zwei: Im selben Artikel wird das Metaplan-Gutachten weiter zitiert: “Containerumschlag, Gewinnerzielung und Beschäftigungssicherung sind für viele Beschäftigte nachgeordnete Organisationszwecke. An erster Stelle steht die Chance auf außerordentlich hohe private Einkommen bei maximalen Freiheitsgraden in der Freizeitgestaltung – und das alles bei relativ geringem Zeitaufwand.” Auch dieser Teil des Gutachtens wird vom Autoren nicht im geringsten hinterfragt: Wie ist es dazu gekommen? Wer genau hat da mitgewirkt? Bei einer AG wird doch nicht mir nichts, dir nichts plötzlich von heute auf morgen so etwas entstehen. Und warum hat der Vorstand da einfach so mitgemacht? Wenn die Beschäftigten den Organisationszweck definieren, heißt das doch nicht, dass der Vorstand plötzlich nichts mehr zu sagen hat. Die armen Herren Vorstände sind, so impliziert der Text, nachgerade auf die Zuschauertribüne verbannt gewesen. Warum sind denn die Betriebsabläufe dem “Machtbereich des Vorstands … entglitten” (Kopp 2016b)? Wie genau kam es zu dieser totalen Umkehr der üblichen Machtverhältnisse?
Zu Drei: Ein wohl maßgeblicher Teil der Anarchie bestand darin, dass “…die Terminal-Mitarbeiter nach Hause gehen, wenn bestimmte Umschlagmengen erreicht wurden – egal ob sie sechs oder nur vier Stunden brauchten.” (ebnd.) Auch zu diesem Punkt stellen sich jedem halbwegs kritischen Geist, der die Aufklärung ernst nimmt und den eigenen Verstand nutzt, ein paar Fragen: Erstens ist nicht im Geringsten klar, worin das Problem besteht, wenn die Mitarbeiter*innen nach der Zielerreichung nach Hause gehen. Nicht umsonst gibt es seit 2003 das Konzept der Results-only Work Environment. Sprich: Mitarbeiter*innen werden nicht mehr nach Arbeitsstunden sondern ergebnisbasiert bezahlt. Was nicht so ganz dämlich ist, denn die Arbeitszeit sagt nicht wirklich viel über das erzielte Ergebnis aus. Und warum sollte ich nach der Zielerreichung noch im Büro oder dem Containerterminal Däumchen drehen? Zweitens wäre tunlichst zu hinterfragen, woher die Umschlagmengen kommen? Wer hat die Ziele vorgegeben? In meinen Ohren klingt das nach einer relativ konservativen Zielvorgabe, vielleicht sogar von oben. Wissen wir aber nicht. Wäre aber essentiell, um das zu diskutieren. Mit anderen Worten: Fragen über Fragen.
Im Anarchie-Artikel einen Tag später zitiert Kopp wiederum das Metaplan-Gutachten: Die Mitarbeiter*innen hätten ihr “individuelles Einkommen oder die Freizeit maximiert” (Kopp 2016b). Unglaublich. Metaplan findet es also in dem Zusammenhang erwähnenswert, dass sich die Belegschaft oder ein Teil von ihr exakt so verhalten habe, wie es die Theorie des Homo oeconomicus vorsieht: rationale Eigennutzenmaximierung. Dieses Menschenbild des radikal rational auf Eigennutzen ausgerichteten Mitarbeiters ist dabei exakt der Grund für die klassischen, tayloristisch-fordalen Aufbau- und Ablauforganisationen. Genau deshalb gibt es command-and-control. Da dies offensichtlich nicht ausreichend ausgeführt wurde, kam es zu einem “Machtvakuum”, dass die Belegschaft weidlich ausgenutzt habe. Die einzige Lösung konnte folgerichtig nur darin bestehen, die klassischen Herrschaftsverhältnisse wieder herzustellen, das Pensum als Arbeitsmodell schleunigst abzuschaffen, um endlich zu einer traditionellen Ablauforganisation zu gelangen.
Ganz anders klingt das schon im Beitrag von Daniela Stürmlinger, erschienen in der Welt: Dort wird überhaupt erst mal thematisiert, dass es massive Störungen zwischen der Belegschaft und dem Vorstand gibt – was nicht wirklich verwunderlich ist. Diese Störungen hängen vielleicht auch damit zusammen, dass die Arbeitsbelastung in den letzten Jahren massiv gestiegen ist, von 4000 Containern pro Schiff 2008 zu 6500 zum Zeitpunkt der Eskalation. Und dann entsteht ein plötzlich ein völlig anderes Bild durch den Gesamtbetriebsrat Norbert Paulsen, der bei Kopp nicht einmal erwähnt wurde: “Es wird von oben herab dirigiert, und zwar mit der Brechstange.” (Stürmlinger 2016). Am Ende ihres Beitrags macht Stürmlinger über diese Aspekte hinaus die komplexe Gemengelage nochmals klarer. Sie verweist am Ende auch auf die strukturellen Probleme des Hafens bis hin zu Funklöchern, mit denen nicht nur die Mitarbeiter*innen der HHLA zu kämpfen haben. Was von diesen Aspekten, die bei Kopp keinerlei Erwähnung finden, im Gutachten von Metaplan steht, bleibt im Dunkeln. So wie Kopp es darstellt dürfen wir uns beruhigt zurücklehnen:
Was nicht sein darf, das nicht sein kann.
Herzliche Grüße
Andreas
Quellen
- Giepert, M. (2010): HHLA Container Terminal Tollerer GmbH (CTT): Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich psychischer Belastung. In: Giesert, M.: Zukunftsfähige Gesundheitspolitik im Betrieb. Bund-Verlag: 116-135
- Kopp, M. (2016b): Anarchie? Die Macht der Hafenarbeiter am Burchardkai. Hamburger Abendblatt, Ressort Wirtschaft, 08.04.2016
- Kopp, M. (2016a): Hamburg HHLA-Gutachten: Hafenarbeiter machen, was sie wollen. Hamburger Abendblatt, Ressort Wirtschaft, 07.04.2016
- Stürmlinger, D. (2016): Hamburger Hafenkonzern HHLA stockt Personal auf. Die Welt
Bildnachweis
- Beitragsbild: HHLA/Thies Rätzke
- Metrans Budapest: HHLA / Thies Rätzke
- Terminal Burchardkai: HHLA / Thies Rätzke