Widerstand gegen Transformation ist normal und gesund

Widerstand und Transformation

Widerstand gegen organisationale Veränderungen ist eines der beliebtesten Themen in Transformationsprozessen. Immer wieder werde ich gefragt, was man denn tun könne, wenn Mitarbeiter keine Lust auf den Wandel haben, wenn sie nicht begeistert dabei sind, passiv blockieren oder gar aktiv gegen den Wandel angehen. Und natürlich kommt auch die Frage auf, wie solche Menschen motiviert werden könnten. Letzteres lässt sich schnell und leicht beantworten. Gar nicht. Ich kann tun was ich will, ob das mein Gegenüber zu was auch immer motiviert, bleibt seine oder ihre Entscheidung. Zwangsläufig. Ich habe keinen Zugriff auf die neuronalen Schaltkreise und kann sie exakt so stimulieren, dass Begeisterung für die Transformation das Ergebnis ist. Die Vorstellung ist lächerlich. Um überhaupt eine Chance zu haben, den Widerstand co-kreativ aufzulösen, ist es hilfreich, ein paar Hypothesen zu haben, warum Mitarbeitende und Führungskräfte in den Widerstand gehen.

Hierarchie als Gewohnheit

Formal-Fixierte Hierarchie als Standardmodell und -narrativ der Organisationsführung
Formal-Fixierte Hierarchie als Standardmodell und -narrativ der Organisationsführung

Es geht mit der Familie los, noch lange vor dem Kindergarten. Wo finden wir dort schon einen fruchtbaren Nährboden für partizipative, demokratische und agile Erfahrungen? Wo ist die Familienkultur in einer gesunden Mitte zwischen Inthronisierung des Kinds (Helikopter-Eltern) oder Unterwerfung (so lange du Deine Füße unter meinen Tisch stellst…)? Welche Familien führen Dialogrunden durch, oder konsensieren die Frage, wo es im Urlaub hingeht, oder führen ans Privatleben angepasst Retrospektiven durch?

Wenn wir darüber hinaus nur kurz auf die Institutionen blicken, die wir im Laufe unserer Erziehung und (Aus)Bildung jahrelang täglich besuchen, dann ist Widerstand kein Wunder: Wieviele Kitas, Schulen, weiterführende Schulen, Berufsschulen, Hochschulen und Universitäten sind demokratisch und agil organisiert? Sprich: Wir werden von früh auf, bevor wir auch nur lesen und schreiben können, in formal-fixierten Hierarchien kultiviert und erzogen. DAS Standardmodell von Organisationen lautet: Top-Down, Hierarchie und command-and-control. Wenn wundert es da, dass die meisten Menschen das für ein Naturgesetz halten, unfähig, auch nur etwas anderes zu denken, ohne es gleich im Reflex des Erlebten und Erlernten lächerlich machen zu müssen oder zumindest massiv in Frage zu stellen?

Letztlich gilt: Wer nur lange genug in einer Organisation mit formal-fixierter Hierarchie, Anweisungen und disziplinarischen Maßnahmen gearbeitet hat, muss sich erfolgreich angepasst haben. Das ist keine Interpretation, sondern ein Faktum. Ohne diese Anpassung würde der Aufmüpfige früher oder später entlassen werden. Das wars dann mit dem mehr oder minder bewussten Organisationsrebellen, die eben doch alle die Grundregeln des Arbeitsvertrags einhalten müssen. Was die Angestellten dabei von der jeweiligen hierarchischen Aufbau- und Ablauforganisation halten, steht in den Sternen (bzw. wenn wir dem Gallup Engagement Index glauben dürfen, sind im Mittel der letzten 15 Jahre rund 85% nicht begeistert). Klar ist nur: Das Standardmodell, das Standardnarrativ erfolgreicher Zusammenarbeit wird akzeptiert  – und vor allem im täglichen Arbeiten reproduziert.

Fehlende Kompetenzen für agile und selbstorganisierte Arbeit

Aus der oben erwähnten hierarchischen Kultivierung leitet sich automatisch der zweite Grund für Widerstand gegen Transformationen ab: Woher sollen die Kompetenzen kommen, die Mann und Frau brauchen, um sich in einer agilen, selbstorganisierten, demokratischen Arbeitswelt gut zurecht zu finden? Wenn ich täglich über Jahrzehnte in fast allen Organisationen erlebt habe, wie Entscheidungen top-down getroffen werden und ich nur Erfüllungsgehilfe war, woher soll ich als Mitarbeiter*in die Kompetenzen zu partizipativer und agiler Führung und auch nur Neuer Arbeit im allgemeinen haben?

Es gibt diverse Kompetenzen und Eigenschaften, die besonders unter dem Label Neue Arbeit, Unternehmensdemokratie und Selbstorganisation – kurz: selbstbestimmter Arbeit – dringend nötig sind. Hier nur ein paar, auf die Schnelle:

  • Unsicherheitstoleranz: Streng betrachtet, war das schon immer nötig, denn auch vor 100 Jahren konnte niemand in die Zukunft blicken. Allerdings gibt es nachweislich eine Beschleunigung der Beschleunigung. Märkte sind schon lange nicht mehr so stabil, wie zu Beginn der Konzernokratie durch Ford und Standard Oil. Und das Maß der globalen Vernetzung ist heute vollkommen anders als ehedem. Die Zukunft wird zunehmend undurchschaubarer.
  • Neugier: Weil sich zukünftig der stete Wandel etablieren wird, ist die Eigenschaft der Neugier äußerst hilfreich. Wer Lust hat, Neues vielleicht nicht gierig, aber doch erfreut aufzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen, hat es wesentlich leichter, die Zukunft der Arbeit zu meistern. Dumm nur, dass unser Erziehungs- und Bildungssystem unsere Neugier nicht gerade fördert.
  • Wechseln zwischen Führen und Folgen: Wenn Führung nicht mehr durch feste Stellen formal-fixiert ist, sondern sich dynamisch an situative Erfordernisse anpasst, dann ist es dringend nötig, dass die Angestellten keinerlei Problem damit haben, heute zu führen und morgen zu folgen. Im Standardmodell wäre das ein Rückschritt, im Standardnarrativ der Unternehmensführung und -steuerung würden wir es als Versagen interpretieren, wenn jemand wieder “zurück in die Linie” geht.
  • Partizipative, dialogische Kommunikation: “Es gibt nichts Anstrengenderes als Demokratie”, meinte einst Ricardo Semmler, Inhaber und ehemaliger Geschäftsführer einer der bedeutendsten demokratischen Leuchtturm-Unternehmen. Klar, denn wenn ich meine Mitarbeitenden nicht mehr einfach anweisen kann, wenn ich sie nicht überzeuge, dann muss ich mit Ihnen in einen Dialog auf Augenhöhe gehen. Und diese kommunikativen Kompetenzen werden uns in der Regel nicht beigebracht.
  • Partizipative Methodenkenntnis: Zum Berufseinstieg kennen nur die wenigsten jungen Menschen Instrumente und Methoden partizpativer, demokratischer und agiler Führung und Steuerung. Konsent führt immer noch meistens zur Nachfrage: “Du meinst Konsens, oder?” Und dass es Ablauf- und Aufbauorganisationen gibt, die nicht mehr an einen Tannenbaum erinnern, ist ebenfalls im allgemeinen unbekannt.

Wenn also all das Mangelware ist, wie sollen sich die Angestellten dann produktiv und  konstruktiv einbringen? Sie versuchen sich irgendwie zurecht zu finden in der Zukunft der Arbeit, auf der neuen Spielwiese. Natürlich kann das gelingen, natürlich kann das erlernt werden. Es ist aber nicht selbstverständlich, sondern ein mitunter erheblicher Aufwand.

Schlechte Erfahrungen mit Change und Transformation

Auch in diesem Fall geht es um eine Gewohnheit, um bereits mehrfach Erlebtes, was teils deutliche Spuren von Resignation bis hin zu Ablehnung hinterlässt. Was soll ich denn von der hippen New Work Transformation halten, wenn ich als Mitarbeiter zum dritten, vierten, fünften Mal mit mehr oder minder weitreichenden Veränderungen bei meinem Arbeitgeber konfrontiert wurde, jeweils natürlich ohne dabei gefragt zu werden, ob ich das überhaupt für sinnvoll halte? Was, wenn bei all den bisherigen Veränderungen die Verlogenheit des Marketing Dauerbrenners “Der Wandel ist das einzig Stetige” nur allzu deutlich wurde, indem sich auf der Ebene des Top-Managements mal wieder rein gar nichts geändert hat?

Oder noch schlimmer: Was, wenn ich ein Überlebender eines Downsizing war? Wir wissen aus der Organisationsforschung, dass die Verbliebenen häufig geplagt sind von einem schlechten Gewissen. Dann ist der Wandel hin zu einer agilen, selbstorganisierten, demokratischen New Work Organisation keineswegs ein besonders attraktives Heilsversprechen. Denn natürlich wird auch diese Veränderung dazu führen, dass einige Leute gehen werden. Freiwillig oder unfreiwillig. Eine Quote von 10 – 20% ist keine Seltenheit. Da ist es durchaus angebracht, vorsichtig, zurückhaltend oder gar skeptisch zu sein. Unter den Vorzeichen eines zuvor erlebten Personalabbaus ist es nicht nur verständlich, sondern sogar gesund, nicht tumb “Hurra” zu schreien.

Außerdem sind mindestens die Hälfte aller Veränderungsprozesse ein Misserfolg, vielleicht sogar zwei Drittel. Wir können annehmen, dass die meisten Arbeitnehmer*innen mindestens einen Change erlebt haben, der für die Katz war. Warum sollte also die aktuelle Transformation wirklich etwas zum Besseren wenden und auch noch für die Belegschaft? Das ist eine gute Frage, völlig zu Recht, denn bei der Transformation geht es ja nicht nur um eine Veränderung innerhalb des Standardmodells und Standardnarrativs, sondern um einen substanziellen Wandel dieses Rahmenwerks selbst. Es geht um einen Paradigmenwechsel in der Unternehmensführung und -steuerung. Und solche Veränderungen sind nicht nur in der Organisationswelt, sondern auch in anderen Bereichen wie der Wissenschaft höchst anspruchsvoll (Lesetipp für alle, die es lieben, tief zu schürfen: Kuhn, T. (1996): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp).

Transformationen und New Work bedrohen die Identität der Betroffenen

Abschließend gibt es noch einen weiteren Aspekt, der sich aus den drei Thesen meines letzten Blogposts “Autonomie und Bindung. Warum wir selbstbestimmte Arbeit brauchen” ergibt:

  1. These 1: Menschen suchen und brauchen in ihrem Leben eine Balance aus Selbstbestimmung / Autonomie und Zugehörigkeit / Bindung.
  2. These 2: Arbeitgeber zerstören typischerweise (Mitarbeiter)Bindung, indem sie die Seite der Selbstbestimmung verstümmeln und Bindung massiv in den Vordergrund stellen.
  3. These 3: Arbeitnehmer suchen (zunehmend) Autonomie im Privaten als Ausgleich oder betäuben die tägliche professionelle Fremdbestimmung durch Konsum.

Sollte dieser argumentative Dreisatz stimmen, dann zerstören wir mit jeder New Work Transformation, mit jedem Veränderungsprozess hin zu Unternehmensdemokratie die über Jahre, mitunter Jahrzehnte entwickelte und aufrechterhaltene Balance aus Autonomie und Bindung bei den Angestellten. Die Work-Life-Balance, die zum zeitgemäßen aber diffusen Work-Life-Blending wird, verliert zwischenzeitlich ihre Funktion des Ausbalancierens zwischen Autonomie (Freizeit) und Bindung (Arbeit). Solange ich in der Arbeit auf Anweisung als Erfüllungsgehilfe arbeite, versuche ich (un)bewusst in der Freizeit durch vielfältige selbstbestimmte Entscheidungen meinem natürlichen Bedürfnis nach Autonomie nachzukommen.

Das Problem besteht nun darin, dass es eben diese privaten Entscheidungen sind, die einen guten Teil meiner Identität ausmachen, genauso wie mein bis dahin ausgeübter Beruf mit all seinen kulturellen Merkmalen von Top-Down. Wir “leben, um davon zu erzählen”, wie es Gabriel García Márquez mit seinem gleichnamigen Roman auf den Punkt brachte: Wir erzählen alle mehr oder minder regelmäßig von unserem professionellen und privaten Leben, den Kolleg*innen, Bekannten, Freund*innen,  Lebenspartner*innen und Kindern; wir erzählen vom ätzenden Chef, dem Irrsinn, der mal wieder vorherrscht, oder vom guten Patriarchen, der sich um alle seine Schäflein ernsthaft liebevoll kümmert, oder von der wahnwitzigen Bürokratie des Arbeitgebers, oder oder; und natürlich erzählen wir umgekehrt zum Ausgleich vom Hausbau, dem tollen Urlaub, dem genialen Festival, unserem Kochblog und so weiter und so fort. Das eine balanciert das andere, wenn wir auf einer Seite etwas fundamental ändern, können wir nicht mehr dieselben Geschichten erzählen, mit denen wir unsere Identität erzeugen und aufrechterhalten.

Vor knapp zwanzig Jahren machte ich während einer Therapiesitzung mit einer Krebspatientin mit einer üblen Letalprognose eine überaus lehrreiche Erfahrung, die genau dieses Phänomen des Identitätsverlustes bestens illustriert: Die Frau hatte mit knapp 60 Jahren voraussichtlich noch sechs Monate zu leben. Wir begannen eine Musiktherapie, um an diversen Baustellen ihres Lebens zu arbeiten. In der dritten Sitzung sagte sie mir, dass sie die Therapie beenden wolle. Ich stellte klar, dass ich das respektiere, aber dankbar wäre, wenn sie mir erklären würde, wie es zu der Entscheidung kam, da ich wissen wollte, ob ich irgendeinen Fehler begangen hätte. Sie stellte klar, dass es nicht im geringsten an mir oder unserer Zusammenarbeit läge. Wir würden erstaunlich schnell Fortschritte machen, das wäre eigentlich toll. Allerdings wisse sie nicht mehr, wer sie sei, wenn sie Ihre über Jahrzehnte gewohnten Probleme nicht mehr hätte.

Es gibt also viele gute Gründe, einer Transformation mit Widerstand zu begegnen.

 

Herzliche Grüße
Andreas

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: Afrank99, CC BY-SA 2.0
  • Organigramm: Sprenger, CC BY-SA 3.0
  • Buchcover Márquez: Fischer

 

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