Die Ironie im Betriebsverfassungsgesetz

Bildschirmfoto 2025-01-16 um 08.58.20

Da sag einer, die Juristerei wäre eine staubige Angelegenheit. Ganz im Gegenteil. Das Betriebsverfassungsgesetz hat einiges zu bieten. So könnte ein Absatz dieses Gesetzes beispielsweise zu der grotesken Absurdität führen, dass die Demokratisierung von Unternehmen eine Einschränkung oder sogar Unwirksamkeit dieses Gesetzes in einem Betrieb nach sich zieht. Bislang ist mir zwar kein Fall bekannt, bei dem das eintrat. Aber das heißt nicht, dass meine Überlegung per se falsch ist. Denn wo kein Kläger, da kein Richter. Beginnen wir mit dem Sinn des Betriebsverfassungsgesetzes.

Das Betriebsverfassungsgesetz

Das Betriebsverfassungsgesetz in BuchformMit diesem Gesetz (BetrVG) wird “die grundlegende Ordnung der Zusammenarbeit von Arbeitgeber und der von den Arbeitnehmern gewählten betrieblichen Interessenvertretung” (Wikdipedia) festgelegt. Als Grundlage dient dafür in Deutschland die Version des BetrVG, die zum 15.01.1972 in der Legislaturperiode des sechsten Bundestages ausgefertigt wurde und heute in der aktualisierten Version vom 20. April 2013 gültig ist. Es sorgt für einen Minimalstandard an Rechten seitens der Arbeitnehmer, damit die nicht als entpersönlichtes Humankapital beliebig behandelt werden können. In diesem Sinne kann jeder Arbeitnehmer auch heute noch dankbar sein für dieses Gesetz. Allerdings enthält es möglicherweise an einer Stelle eine höchstinteressante Wendung gegen die eigene positive Absicht:

In §5 (über die Arbeitnehmer) werden in Absatz 3 sogenannte “leitende Angestellte” definiert:

“Dieses Gesetz findet, soweit in ihm nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, keine Anwendung auf leitende Angestellte. Leitender Angestellter ist, wer nach Arbeitsvertrag und Stellung im Unternehmen oder im Betrieb

  1. zur selbständigen Einstellung und Entlassung von im Betrieb oder in der Betriebsabteilung beschäftigten Arbeitnehmern berechtigt ist oder
  2. Generalvollmacht oder Prokura hat und die Prokura auch im Verhältnis zum Arbeitgeber nicht unbedeutend ist oder
  3. regelmäßig sonstige Aufgaben wahrnimmt, die für den Bestand und die Entwicklung des Unternehmens oder eines Betriebs von Bedeutung sind und deren Erfüllung besondere Erfahrungen und Kenntnisse voraussetzt, wenn er dabei entweder die Entscheidungen im Wesentlichen frei von Weisungen trifft oder sie maßgeblich beeinflusst; dies kann auch bei Vorgaben insbesondere aufgrund von Rechtsvorschriften, Plänen oder Richtlinien sowie bei Zusammenarbeit mit anderen leitenden Angestellten gegeben sein.” (BetrVG, kursiv A.Z.)

… und  seine mögliche Selbstauflösung

Das Betriebsverfassungsgesetz hat eine lange Geschichte
Mai-Kundgebung 1947 in Essen.

Somit kann eine eingangs erwähnte absurde Situation entstehen: Wenn in einem Unternehmen beispielsweise Teams eigenverantwortlich Personal einstellen und entlassen oder wenn die Belegschaft insgesamt “Entscheidungen maßgeblich beeinflusst”, zum Beispiel durch eine kollektive Strategieentwicklung oder Gehaltsfestlegung, könnten diese Mitarbeitenden oder die gesamte Belegschaft als leitende Angestellte interpretiert werden. Das wäre zunächst  durchaus sinnvoll, da sie durch die beispielhaft geschilderten Wege tatsächlich in eine leitende Funktion gemäß BetrVG gekommen wären. Würde das dann aber nicht bedeuten, dass das BetrVG keine Anwendung mehr auf diese Angestellten finden würde, da es nicht für leitende Angestellte gilt? Sprich: In dem Moment, in dem bis dahin formal-juristisch betrachtet “einfache” Angestellte qua Unternehmensdemokratie in die Rolle von leitenden Angestellten kommen, gelten für sie nicht mehr die Mindeststandards, die durch dieses Gesetz definiert wurden.

So würde eine Belegschaft, die kollektiv mit der Geschäftsführung die Strategie entwickelt, gegebenenfalls nur noch einen eingeschränkten Kündigungsschutz haben. Die einzelnen Angestellten könnten dann eventuell ihre Weiterbeschäftigung, anders als diejenigen  Arbeitnehmer, die keine leitenden Angestellten sind, nicht durchsetzen. Da der Betriebsrat für leitende Angestellte nicht zuständig ist, müsste er bei einer Kündigung nicht angehört werden. Zudem würden die strengen Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes nicht mehr greifen, die betroffenen Personen, die durch die Demokratisierung von einfachen zu leitenden Angestellten wurden, könnten auch über die Höchstarbeitszeiten hinaus eingesetzt werden. Kurzum: Die Demokratisierung des Betriebs würde die rechtlich kodifizierte Mitbestimmung torpedieren.

Jetzt gilt natürlich erst einmal die im Teaser zitierte alte Weisheit, “wo kein Kläger, da kein Richter”. Im Streitfalle jedoch könnte es durchaus zu dieser verrückten Selbstauflösung oder zumindest Einschränkung des BetrVG kommen. Das ist aus meiner nichtjuristischen Laiensicht insofern besonders ironisch, da ja das Gesetz vor einer juristischen Auseinandersetzung eine relativ begrenzte Bedeutung hat. Es entfaltet seinen Sinn zwar bereits als Warnung vor etwaigen Streitigkeiten, aber seine eigentliche Bedeutung entsteht erst im Streitfalle selbst. Schließlich kann ich in meinem Unternehmen tun und lassen was ich will, auch wenn ich dabei alle möglichen Gesetze missachte oder breche. Solange sich darüber niemand beschwert, kann ich so lange weitermachen wie ich will. Und genau das passiert im Alltag leider immer wieder: Gesetze werden bewusst oder unbewusst ignoriert.

Ein Gesetz, dass für die Demokratisierung der Arbeitswelt sorgt, löst sich möglicherweise selbst auf, wenn die durch dieses Gesetz festgelegten demokratischen Minimalanforderungen deutlich übertroffen werden. Vielleicht sollte eine Überarbeitung in Betracht gezogen werden.

Herzliche Grüße
Andreas

 

Literatur
Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), Ausfertigungsdatum: 15.01.1972

Bildnachweis

  • Beitragsbild: ©Andreas Zeuch, Prompt für DALL·E durch Andreas Zeuch mit anschließender eigener Überarbeitung
  • BetrVG: Buchcover
  • Demonstration für Mitbestimmung: gemeinfrei

 

Comments (1)

Hallo Andreas,
da hast Du eine schöne logische Kette konstruiert, aber keinen schönen Gedanken formuliert.
Bei der Rechtsanwendung sollte ja immer der Schutzzweck des Gesetzes, der Wille des Gesetzgebers und die Verfassungskonformität der Auslegung beachtet werden.
Fraglich wäre, welche Abgrenzung sinnvoller sein könnte. In der Realität haben doch diejenigen, die das “unternehmerische Risiko” tragen, auch das meist das Letztentscheidungsrecht in personellen Angelegenheiten. Die Demokratisierung der Arbeitswelt im Sinne einer Stellvertreter*innendemokratie ist ja das Grundmotiv der betrieblichen Mitbestimmung. Kollektive Auswahlentscheidung wären eher Formen direkter Demokratie, die erfahrungsgemäß immer auch Probleme produziert, wenn nicht jede Stimme das gleiche Gewicht hat oder Intersubjektivitäten entstehen. Solange die kollektive Entscheidung ein Zugeständnis der Inhaber*innen übergeordneter Verfügungsrechte ist – das ja durchaus in der Erkenntnis begründet sein kann, so zu besseren Ergebnissen zu kommen – sehe ich für dargestellte Deutung wenig Raum. Wenn in Bezug auf alle Rechte und Pflichten Gleichheit aller Personen im “System Unternehmen” besteht, wäre deren Anwendung vielleicht sogar folgerichtig, da man kaum noch von abhängig Beschäftigten sprechen kann. Ein solches Unternehmen unterliegt eher nicht diesem Gesetz, weshalb man das Binnenverhältnis dann über etwas wie einen Gesellschafter*innenvertrag regeln sollte.

Gruß & Danke fürs Gedankenspiel
Peter

Leave a comment

X