Mitbestimmung neu erfinden

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Mitbestimmung: Das, was wir heute mit Selbstorganisation im Zusammenhang mit Agilität, Augenhöhe oder New Work beschreiben, läuft bekanntermaßen schon seit Jahrzehnten in etwas anderer Variation unter dem Begriff Mitbestimmung. Allerdings ist der im Gegensatz zum systemtheoretisch wissenschaftlichen Begriff der Selbstorganisation politisch und ideologisch aufgeladen, wie ich das schon in meinem Beitrag über die Beiden Begriffe Unternehmensdemokratie und Selbstorganisation dargestellt habe. Leider folgern daraus eher Nach- als Vorteile. Deshalb wird es Zeit, den eigentlich passenden Begriff der Mitbestimmung zu entstauben und neu aufzuladen, mithin: neu zu erfinden.

Das Eisenwalzwerk, 1872–1875, Adolph von Menzel

Gerade in Deutschland gibt es eine rege Tradition der unternehmerischen Mitbestimmung, so dass Deutschland eigentlich eine herausragende Rolle als Innovationsführer im Zusammenhang mit Mitbestimmung werden könnte. Davon jedoch sind wir meilenweit entfernt. Infolge einer bewegten, ideologisch gefärbten Diskussion und Auseinandersetzung stehen wir heute an dem Punkt, dass irrwitzigerweise die Mitbestimmung entgegen der Ergebnisse aus der unternehmerischen Praxis auf fragwürdige Weise in Misskredit gezogen wird: “Tatsache aber ist, dass die deutsche Mitbestimmung in der Praxis zu zeitraubenden und kostenträchtigen Abstimmungs- und schwerfälligen Entscheidungsprozessen führt, oft mit enttäuschenden Ergebnissen; sie ist starr und inflexibel und passt in ihrer jetzigen Form nicht mehr in die Zeit.” (So Olaf Henkel 1999, ehemaliger Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie)

Dies ist insofern außerordentlich fragwürdig, da gerade diejenigen Unternehmen, die Ihren MitarbeiterInnen eine Mitbestimmung und damit Selbstorganisation ermöglichen, die weit über die gesetzlich verankerten Rechte hinausgehen, das genaue Gegenteil erleben: Die Entscheidungsfindung wird eben gerade nicht verlangsamt, sondern vor allem in der anschließenden Umsetzung erheblich beschleunigt. Das ist auch nur reichlich logisch: Insbesondere weitreichende Entscheidungen werden von MitarbeiterInnen natürlich dann viel mehr getragen, wenn Sie bei der Entscheidungsfindung dabei waren und nicht einfach den Weg top-down gewiesen bekommen oder wenn sie zumindest die Möglichkeit haben, ihre Meinung dazu zu äußern, Alternativen vorzuschlagen und Einwände geltend zu machen. Nicht umsonst hat Professor Dr. Peter Kruse das herrliche “Gesetz” der Reziprozität von Entscheidungs- und Umsetzungsgeschwindigkeit in Unternehmen formuliert. Und das frei von jeglicher parteipolitischer oder gewerkschaftlicher Argumentationslinie. Einfach aus der Praxis gesprochen:

Je schneller eine Entscheidung getroffen wird, umso länger dauert ihre Umsetzung. (Prof. Dr. Peter Kruse)

Website Hoppmann Autowelt

Hinzu kommen noch andere positive Effekte institutionalisierter Mitbestimmung durch betriebliche Interessenvertretung. So zeigte der DGB Index 2010, dass 63% der Befragten aus Unternehmen mit Interessenvertretung (vulgo: Mitbestimmung) den Arbeitgeber wahrscheinlich nicht wechseln würden. Dies sagten aber nur 49% der Teilnehmer*innen aus Unternehmen ohne Interessenvertretung. Umgekehrt würden 21% der Unternehmen mit Interessenvertretung wahrscheinlich den Arbeitgeber wechseln, aber 32% bei Arbeitgebern ohne eine solche repräsentative Instanz. Der Anteil der Wechselwilligen, unzufriedenen Mitarbeiter*innen ist also gut 50% höher als bei den Befragten mit Mitbestimmung. Somit taugt die institutionalisierte Mitbestimmung als kraftvolles Instrument zur Mitarbeiterbindung. Was gerade in Zeiten eines arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsmarktes nicht ganz uninteressant sein dürfte.

Noch konkreter in einem Fallbeispiel: Seit mittlerweile bald 50 Jahren – fünf Jahrzehnte (!) – wirtschaftet die Martin Hoppmann GmbH mit ihren heute über 400 Mitarbeitern ausgesprochen erfolgreich. Nicht obwohl, sondern weil sie ab den 1970ern einen paritätisch besetzten Wirtschaftsausschuss hat, der grundsätzlich alle wichtigen unternehmensrelevanten Entscheidungen trifft, da er das oberste Entscheidungsgremium ist. In 40 Jahren kam es nicht einmal zu einer Situation, in der sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht einig wurden. Und das in dem hochkompetetiven und schwierigen Marktsegment Autohandel und -reparatur. Wenn es möglich ist, über fünf Dekaden in einem zunehmend schwierigen Umfeld nicht nur zu überleben, sondern sogar zu wachsen, dürfte Mitbestimmung als zwingender Faktor des Misserfolgs wohl ausscheiden. (Mehr zu Hoppmann und anderen spannenden Beispielen gibt’s in meinem letzten Buch “Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten“)

Selbstorganisation ist mit der Einsicht, dass zentralistisch geführte Unternehmen mit steigender Komplexität und Dynamik nicht angemessen umgehen können, eine längst in die Jahre – oder besser: Jahrzehnte – gekommene Sichtweise. Ein klitzeklein wenig abstrakt macht die Systemtheorie insbesondere in der Ausprägung durch den Soziologen Niklas Luhman und diverse Konstruktivisten deutlich, das sich gerade auch soziale Systeme wesentlich effektiver und effizienter durch Selbstorganisation steuern können. Und was sind Unternehmen anderes als soziale Systeme? Zumindest solange in dem Unternehmen nicht nur Maschinen, sondern auch noch mehr als ein Mensch arbeitet, sind selbst traditionell aufgebaute und geführte Unternehmen zumindest immer auch soziale Systeme. Und da gelten keine Weisheiten aus dem Maschinenbau, nur weil irgend jemand das Unternehmen gerne als Maschine sieht und beschreibt und damit alle vorhandene Komplexität leugnet. Sobald Menschen in die Betrachtung miteinbezogen werden müssen, kommen wir nicht umhin, auch menschliche Konstanten ins Kalkül der Unternehmensgestaltung und -führung miteinzubeziehen. Eine solche Konstante ist das menschliche Bedürfnis nach Selbstbestimmung, wie ich es bereits in dem Blogpost “Autonomie und Bindung. Warum wir selbstbestimmte Arbeit brauchen” erläutert hatte.

Mitbestimmung ist im Vergleich zur Selbstorganisation indes der menschlichere Begriff, in dem ein deutlich höheres Maß an konkreten menschlichen Absichten und Verhaltensweisen mitschwingen. Mitbestimmung hat auch rein begrifflich eine viel größere Nähe zum (entwicklungs-)psychologischen Begriff der Selbstbestimmung. Und die ist ein äußerst gesundes Bestreben, was spätestens deutlich wird, wenn ein Mensch abhängig und antriebslos ist und keinen Funken autonomer, intrinsischer Motivation zeigt. Im Kontext der Arbeit wurde die gesundheitliche Bedeutung von Mitbestimmung und das damit verbundene Gefühl der “Self-Control” in den bekannten großen epidemiologischen Studien Whitehall I + II gezeigt. Es gab seinerzeit sogar eine signifikante Korrelation zwischen Mit/Selbstbestimmung, messbar durch die jeweilige Karrierestufe mit zunehmenden Entscheidungsbefugnissen, und der Mortalität der Teilnehmer*innen! Überspitzt gesagt: Permanente Fremdbestimmung treibt Menschen früher ins Grab.

Last but not least findet sich immer öfter die Forderung nach “Unternehmertum” der Mitarbeiter, besonders beliebt in der fremdsprachlich oder neudeutschen Variante des Zungenbrechers “Entrepreneurship”. Wunderbar, genau das braucht es. Aber das geht nur, wenn die Mitarbeiter eben auch echte Mit-Unternehmer werden und mitbestimmen und die eigene tägliche Arbeit in Teilen selbstbestimmen dürfen und können. Unternehmertum, liebe Geschäftsführer*innen und Vorstände, hat einen Preis! Und der lautet: Ihr müsst Eurer Belegschaft mehr Freiheiten zugestehen, Mitbestimmung und auch Selbstbestimmung (vgl. auch “Selbstbestimmung. Mitbestimmung. Fremdbestimmung.”) Und zwar nicht nur, ob sie Ihren Bleistift rechts oder links auf dem Schreibtisch ablegen. Insofern plädiere ich für einen Neustart des Begriffs Mitbestimmung als eine Säule der Unternehmensdemokratie neben der Selbstbestimmung.

Mitbestimmung oder Partizipation ist überall dort gefragt, wo eine Entscheidung einen deutlichen Einfluss auf die Arbeit von Kolleg*innen hat und es für das System nicht zieldienlich wäre, wenn jeder selbst munter vor sich hin bestimmen kann. Sprich, überall dort, wo eine irgendwie geartete Koordination nötig ist, damit alle ihre Arbeit möglichst optimal und störungsfrei leisten können. In diesen Fällen macht es keinen Sinn, dass jeder seine eigene Entscheidung trifft ohne Abstimmung mit den Kolleg*innen. In diesem Sinn ist Mitbestimmung eine unbedingte Voraussetzung gelungener Selbstorganisation und Unternehmensdemokratie.

 

Herzliche Grüße
Andreas

 

Quellen

  • DGB Index 2010: DGB Index Gute Arbeit Spezial. Herausgeber: DGB-Index Gute Arbeit GmbH
  • Henkel, H.-O. (1999): Wettbewerb und Mitbestimmung. Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 3/1999.

Bildnachweis

  • Beitragsbild: pixabay, freie kommerzielle Nutzung
  • Eisenwalzwerk: Adolph von Menzel

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