“Darf ich vorstellen: Die Themensau: Talent! Ist neuerdings das Synonym für tolle fachliche Qualifikation. Obwohl es damit rein gar nichts zu tun haben muss!” Es handelt sich schlichtweg um Recruitierung, wie schon immer. Remember: Das Unternehmen sucht bestmögliche Qualität für maximalen Output! Die BewerberInnen suchen bestmögliche Arbeitsplätze für maximale Zufriedenheit! Die Herausforderung ist, diese beiden “eierlegendewollmilchsau” Erwartungen zu harmonisieren. Und die ist hoch. Aber hilft da eine Potenzialanalyse wirklich?
Die Unternehmensberatung The Boston Consulting Group befragte Führungskräfte nach den größten Schwächen im Unternehmen im Bereich Personalmanagement und welches sie als die wichtigste Herausforderung bis 2015 halten würden. Talentmanagement stand an oberster Stelle der 2008 publizierten Studie. Neun Jahre später erklärt das US-Magazin “Forbes” Retention Management zur größten HR-Herausforderung. So umfasst der Prozess des Talentmanagements fünf eigenständige, aber doch eng miteinander verknüpfte Aktivitäten: qualifizierte Mitarbeiter ermitteln, sie gewinnen, entwickeln, binden und Abgänge managen. Wer die besten Mitarbeiter haben und halten will, muss auch ein attraktiver Arbeitgeber sein. Alte Propaganda…alter Wein in neuen Schläuchen. Ist doch alles ganz einfach.
Warum tun die sich dann so schwer damit?
Das Alte Denken der Führungskräfte, des Managements, der Personaler und auch der Mitarbeiter kollidiert mit dem neuen Verständnis von Leadership, intelligenten und sich selbstorganisierenden Unternehmen. Mit zunehmenden Anforderungen nimmt die Komplexität zu, Arbeitszeiten wollen neu bedacht werden. Besonders im Rahmen der aktuellen Entwicklungen in unserer Arbeitswelt, der Digitalisierung und des demografischen Wandels, wurde es aus allen Ecken gerufen. Obendrüber huscht noch das Gespenst Fachkräftemangel.
Teamentwicklung auf dem Weg zur lernenden Organisation liegt im Fokus wie nie zuvor, fordert Transparenz und Führung auf Augenhöhe. Einsatzmöglichkeiten und Grenzen der agilen Arbeitsweise, strategisches Planen und operatives Tun im Projekt – und Produktmanagement mit Scrum, Kanban und ähnlichen Werkzeugen, die zu schnellen und effizienten Lösungen führen, verlangen neue Rollenmodelle. Die Fragen, wie lässt sich vermeintlich Unvorhersehbares kontrollieren, wie geht man mit Emotionen um, wenn Agilität wunde Punkte trifft oder wie definiert sich Leadership neu, erzeugen hohe Wellen der Herausforderungen, die elegant gesurft werden wollen. Der Druck, bei der Personalauswahl absolut sicher zu gehen, den oder die Richtige gefunden zu haben, ist immens. Auf einmal stieg die Potentialanalyse (PA) zu den eh schon vorhandenen Tests wie Pilze aus der Erde und gehören zwingend zum Portfolio der Unternehmensberater, Coaches und HR Abteilungen.
Damit der Bereich Personalentwicklung von vornherein erkennt, ob Bewerber passen, müssen diese bei dem Konzern X online eine klassische Potenzialanalyse ausfüllen. Darauf erfolgt nochmals ein Check der Balkendiagramme und der ermittelten Persönlichkeitstypen mit in Prozenten angegebenen Charaktereigenschaften. Ob viel oder wenig extro- oder introvertiert, ob logisch oder prinzipientreu, ob planend oder suchend, ob durchsetzungsfähig oder vorsichtig, ob Partylöwe, Kleptomane, (kein Scherz) Bücherwurm oder was die Auswertungen der Selbsteinschätzung noch so hergeben. Der Betrachter bildet sich seine Meinung und setzt das Label zur engeren Auswahl eines Kandidaten, der zum Gespräch eingeladen wird.
Digitalisierte Analyseverfahren aus der Kommunikationspsychologie mögen für potenzielle Bewerber auf eine vakante Stelle vielleicht als Einstieg gut funktionieren, spiegeln jedoch lediglich eine Momentaufnahme und sind reine Außenbetrachtungen. Sie haben nichts mit der individuellen Kernaussage der Begabung zu tun. „Sie sind ein Hilfsmittel“, sagte mir ein Personalchef „um ins Gespräch zu kommen“. Ein anderer Auftraggeber berichtet, dass das Team nun zwar weiß, welche „Farbe“ jeder einzelne darstellt – „ich bin ein Grüner“ und leise und zurückhaltend meldet sich „der Blaue“, aber was sie damit sollen, bleibt ihnen mehr oder weniger verschlossen. Hervorragend entwickelte Verfahren ermitteln sogar auf welcher Entwicklungsstufe man sich befindet.
Potenzialanalyse – ein überschätztes Tool
Um Funktion und Wirkung einer PA zu verstehen, habe ich im Laufe der letzten 10 Jahre diverse Formate ausprobiert. Das Ausfüllen zu unterschiedlichen Zeiten ergab – oh Wunder – unterschiedliche Aussagen. Mal war ich extrovertiert, mal nicht. Ich nahm auch an einem Kompetenztest mit anschließender Beratung teil, denn ohne würde das nicht funktionieren und ich überwies das Honorar auf das angegebene Konto. „Wie viele Instrumente spielst Du?“ war sogleich die erste Frage des Beraters. Denn mein Profil zeigte einen 100 % Balken für Musiktalent an. Als Schülerin hätte das damals vielleicht wegweisend sein können. Aber hätte ich denn auch die Fragen wie heute beantwortet?
Einerseits fand ich die Auswertungen erheiternd, fast wie so ein Horoskop aus der Boulevardpresse, das täglich neu aus der Schublade der Redaktion gezogen wird.
Andererseits fühlte es sich entwürdigend an. Reduziert und stigmatisiert auf einige Merkmale, die meine Talente darstellen sollen. Sogar Zukunftsaussichten werden mir offeriert. Wenn ich an dieser oder jener Schwäche feilen würde, dann… Seitenlanger Erklärungstext, blutleer und auch schnell vergessen.
Meine fachlichen Qualifikationen und die Analysen, die den Status Quo aus einer Momentaufnahme ermitteln und befinden, wofür ich qualifiziert bin, dienen dem Recruiter zur Bewertung. Sympathisch oder nicht talentiert oder nur bedingt fähig, wird sofort in seinem Hirn mit seinen subjektiv gemachten Erfahrungen, die zu seiner Wahrheit wurden, gescannt. Als Individuum habe ich Glück, wenn es passt. Wer kann schon von sich behaupten, objektiv zu sein? Selbst die Mitarbeiterin einer renommierten Beratungsgesellschaft, die seit 40 Jahren auf dem Markt ist, bestätigt mir diese Aussage. „Aber immerhin kann man mit den Analysen z.B. gleich 1000ende Studenten erfassen. Viele Führungskräfte nutzen den Test privat, um sich selbst besser einschätzen zu können. Allerdings funktionieren die Auswertungen nur im Zusammenhang mit einem Einzelberatungsgespräch.“
Potenzialanalysen hören sich technisch und kompetent an, sind schließlich wissenschaftlich fundiert und liefern schnellen Output. Der Fragenkatalog bedient vorwiegend Verhaltensweisen die der analytischen, linken Hirnhemisphäre zugeordnet sind. Die Hirnforschung bestätigt, dass erst die Integration beider Hirnhemisphären den ganzen Menschen mit all seinen Fähigkeiten, Talenten und Begabungen ausmacht. Die rechte Hirnhemisphäre öffnet tiefer liegende Bereiche unseres Selbst und erweitert unser Bewusstsein. Das trägt dazu bei, dass wir etwas schnell kennen lernen, von dem wir nicht wussten, dass wir es wissen.
Der universelle Wunsch nach Einzigartigkeit
Es ist anzunehmen, dass nicht jeder eine Persönlichkeitsentwicklung gemacht oder diverse Coachings genommen hat, um mehr von sich selbst, seinem instinktiven individuellen Selbst kennen zu lernen. Machen wir uns aber klar, dass zumindest diese fünf Selbstbilder beim Ausfüllen einer PA mitlaufen: Diverse Realitäten, Ideale oder Forderungen kreisen durchs Hirn.
1. Wie sehe ich mich?
2. Wie möchte ich sein?
3. Wie möchte ich von anderen wahrgenommen werden?
4. Wie glaube ich, das mich andere wahrnehmen möchten?
5. Wie glaube ich, von anderen wahrgenommen zu werden?
Wie die Natur gehört auch der Mensch zu den komplexen Systemen. Das menschliche Hirn ist ein komplexes individuelles System und keine Maschine. Permanent gleicht es die von außen durch die Sinne hereinkommenden Informationen mit gespeicherten Wissen, Erfahrungen, Emotionen und Überzeugungen ab. Komplexe Systeme sind weder berechenbar noch organisierbar. Wer versucht, diese durch Fragebögen auf einfache lineare Ursache – Wirkung Schemata zu reduzieren, wird dem absolut nicht gerecht. Es ist sogar Ursache für viele Probleme.
Aufgrund von Sozialisierung, Autoritätengläubigkeit, Bildungssystem & Überzeugungen, sind wir es gewohnt uns anzupassen, denn Andersartigkeit wird oft als Bedrohung erlebt. Druck, Anforderungen, Erwartungshaltungen und die Angst vor Fehlern schüchtert uns ein. Nur nicht anecken oder auffallen, beständig gute Leistungen und Zensuren bringen, obwohl Begabungen sich nicht zwingend in guten Noten spiegeln! Auch wer weiß, was er gerne macht, ist geneigt, sich ein Erklärungsmodell dafür parat zu legen, dem dann doch nicht nachzugehen, „weil man damit sowieso kein Geld verdienen würde.“ Verleugnungen werden zu Vermeidungen und irgendwann ist der innere Druck seelisch, physisch und emotional nicht mehr zu kompensieren und der Mensch wird krank. Die Zahlen der Krankenstände in Unternehmen sind erschreckend hoch, so dass Unternehmen wiederum versuchen durch ihr betriebliches Gesundheitsmanagement entgegen zu wirken. Wer dazu tiefer eintauchen möchte, schaue sich die Expertisen der Gallup Studien und der Krankenkassen an.
Selbst die Entwicklung von noch präziseren Verfahren, noch besseren Computerprogrammen, noch detaillierteren Analysen bleiben statisch und sind kontraproduktiv, den Menschen in seiner Ganzheit, in seinen vielfältigen Dimensionen zu erfassen. Situationen im Arbeitsalltag sind definitiv nicht vorhersehbar und eine Analyse bezieht niemals den ganzen Menschen mit ein. Die (weit verbreitete) Konzentration auf das Beheben von Schwächen macht nur sehr eingeschränkt Sinn. Es ist einigermaßen unwahrscheinlich, dass eine behobene Schwäche zu einer auszeichnenden Fähigkeit wird. Wahrscheinlicher ist, dass Mittelmass entsteht − und davon gibt es wahrhaftig genug!
Wie also dran kommen an die wertvollen Talente?
Innehalten: Zeit für Reflexion und Objektivität Über die Fragen „Wer bin ich?“ und „Wo will ich hin?“ wird die Selbstreflexion über die individuellen Talente angestoßen und das persönliche Bewusstsein aktiviert. Genau dieses Bewusstsein halte ich für den Schlüssel eines erfolgreichen, selbst bestimmten und zukunftsfähigen (Berufs-)Weges. Ich bin überzeugt, dass es nichts zu optimieren und auch nichts zu suchen gibt, was uns optimiert. Jeder Mensch trägt mindestens eine Begabung in sich, die in seiner DNS verankert ist und befähigt, leicht und selbstverständlich eine bestimmte Wirkung in einem bestimmen Kontext zu erzielen. Das ist essentiell und wirkt aus uns selbst heraus und völlig selbstverständlich in jeder unserer Begegnungen. Es ist für uns so selbstverständlich, dass wir es noch nicht einmal benennen können. Diese Begabung sich bewusst zu machen, bedeutet, sie trainieren zu können, ihr einen Feinschliff zu verpassen und sie vielmehr in den Mittelpunkt zu stellen. In Kombination mit verbrieften Qualifikationen erzielt jeder damit den größtmöglichen Mehrwert. Für sich selbst und andere.
Sapere aude – die Gedanken des großen Philosophen Immanuel Kant aus der Zeit der Aufklärung fallen mir dazu ein, was ungefähr so viel heißt wie:
Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.
Selbstreflexion ist ungewohnt. Ja, was spricht dagegen, sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen, aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, dem üblichen Bild, dem Klischee und dem sicheren Terrain auszusteigen? Es ist definitiv an der Zeit in einer aufgeklärten, demokratischen und humanistischen Gesellschaft, den linkshirndominanten Kreislauf zu durchbrechen. Lassen wir Licht in die Bruchstellen hinein, entlassen die Themensau per Definition und entdecken unsere Talente in der Selbstreflexion.
So wird es gelingen, ein leistungsstarkes Klima zu erschaffen in dem der Mensch auf einmal ausprobieren und experimentieren kann, Undenkbares und bisher Verbotenes gewünscht und gewollt ist! Mit dem Bewusstsein für „Wie managen wir unser Zusammenspiel anstatt unsere Organisation?“ oder „Wie sozial kompetent sind wir als Einzelne? Was wollen wir? Was können wir? Was können wir tun?“
Herzliche Grüße
Christiane
Die Serie über Recruiting
- Teil 1: AssessmentCenter war gestern!
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- Beitragsbild: Christiane Amini
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