Ich hatte ja keine Ahnung, was da auf mich zukam: Fast zwei volle Tage Vortragsmarathon, und zwar so derart gnadenlos aneinandergereiht, dass man diese Show am treffendsten nur als pädagogisches Armageddon der Lean Bewegung beschreiben kann. Ein heldenhaftes intellektuelles Sperrfeuer gegen die Verdummung einer Bewegung durch Methodenreduktionismus. Jeder hat diese irrwitzige Absage an Veranstaltungsdesign-Correctness sicher anders erlebt, aber zumeist erklangen hinterher begeisterte Stimmen. 16 Redner am ersten und 14 am zweiten Tag, nur unterbrochen von einer fortlaufenden Management-Satire. Keine offiziellen (Kaffee)Pausen, keine interaktiven Methoden, Barcamp ist wieder sowas von out, ihr glaubt es nicht. Denn: Noch nie, und ich meine das exakt so, wie ich es schreibe: noch nie kam ich in einen auch nur vergleichbaren kommunikativen Flow mit den anderen TeilnehmerInnen und ReferentInnen und habe so viele bewegende und erfüllende Begegnungen gehabt.
Als ich das erste mal von der Idee hörte, war ich wie vermutlich der eine oder andere auch, etwas überrascht. Was? Keine Pausen? Ein Vortrag nach dem anderen? Nichts Interaktives? Wir alle wissen doch, dass das überhaupt rein gar nicht “gehirngerecht” ist. Hüther, Spitzer und Co. würden die Hände über Ihren Köpfen zusammenschlagen, blankes Entsetzen in den Augen ob dieser impertinenten Ignoranz gegenüber unseren neurologischen Hohepriestern. Und noch nicht mal Namensschildchen für die rund 300 TeilnehmerInnen. Wie sollte man und frau ins Gespräch kommen, wenn man und frau gar nicht wissen, wie der oder die Gegenüber heißt? Da waren originelle Pick-ups gefragt, um das eisige Schweigen zu brechen.
Alleine die alte Feuerwache als Location war schon ein Statement, dass hier wohl nicht das 999. Barcamp droht, schließlich gab es mehr oder minder nur vor der Bühne und dahinter. Ok, ja, ein Eingang mit Garderobe und tatsächlich auch abgetrennte, normale Toiletten. Aber das wars dann auch. Wer gerade keinen Vortrag hielt oder keinem zuhören wollte, hing an der Theke rum, an einigen Stehtischen, im Raucherzelt draußen mit Livestreaming des Bühnengeschehens oder im Cafe der Feuerwache nebenan. Auch wenn man es nicht glauben will, aber die Rechnung ging tatsächlich auf. Überall entstanden spannende Gespräche und angeregter Austausch, mit alten Kollegen, Bekannten und ehemaligen sowie zukünftigen Kunden.
Die ganze Veranstaltung war, ob gewollt oder nicht, ein großes Experiment in Sachen Selbstorganisation. Da es keine vorgegebenen Mittags-, Kaffee- und Abendpausen gab, war jeder gezwungen, auf den eigenen Rhythmus zu achten und die eigenen Bedürfnisse angemessen zu würdigen. Durchaus interessant, wie hier durch eine massive und gnadenlose Reizüberflutung infolge permanenter Vorträge das Selbstorganisationspotenzial von 300 TeilnehmerInnen freigelegt wurde. Für die gute Stimmung brauchte es dann auch keine sophistischen Smoothies oder veganen Variationen am Buffet.
So bunt die Palette der Vortragenden war, so reich war die Variationsbreite bei den TeilnehmerInnen. Vom Einzelberaterkollegen über Vorstände und Geschäftsführer von (kleinen) mittelständischen Unternehmen bis hin zu Senior Managern diverser Konzerne – natürlich aus allen möglichen Branchen. Die übliche BeraterInnenschwemme blieb aus, ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, in einer kollegialen Supervision zu sein. Dazu passte dann auch die tiefenentspannte Moderation vom Veranstalter Ralf Volkmer, der in einer verführerischen Schottenhose, mit weißem Hemd und gelber Fliege unmissverständlich klarstellte, dass dies eine Freakveranstaltung ist und nichts für Business as Usual Konservative.
Wie in vielen anderen Disziplinen, gilt auch hier: Nach der LATC(17) ist vor der LATC(18): Vom 08. bis zum 09. März 2018 findet im Maimarkt Club die nächste LeanFreakShow statt. Natürlich haben die ersten Referenten auch schon zugesagt und werden wieder dabei sein. Ich kann jedem, der an alternativen Formen der Unternehmensführung und -gestaltung insteressiert ist, die Veranstaltung nur wärmstens empfehlen. Das sollte aus den Zeilen bis hierher langsam klargeworden sein. Ich selbst bin garantiert kein Lean-Experte und habe doch so viel mitgenommen, wie kaum auf einer anderen Veranstaltung, sowohl fachlich als auch an neuen und wiedererstarkten alten Kontakten. Wer noch eine zweite Meinung zur Veanstaltung braucht, kann auch noch den Bericht von Nicole Bußmann lesen, Chefredakteurin bei ManagerSeminare: “#LATC2017 in der Rückschau: Lean meets demokratisch“, der für meinen Geschmack gut gelungen ist.
Herzliche Grüße
Andreas
Bildnachweis
- Beitragsbild: Learning Factory GmbH
- Stephanie Borgert & Mark Lambertz: © Dr. Andreas Zeuch
- Andreas Zeuch: © Silke Luinstra
Hallo Andreas, vielen Dank für diese äußerst gelungene Zusammenfassung. Die Beschreibung “pädagogisches Armageddon der Lean Bewegung” ist sensationell! Beste Grüße, Marlene