Warum Intuition zu Agilität und Selbstorganisation passt

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Dies ist der zweite Teil über professionelle Intuition und ihren Wert für agiles Arbeiten. Es gibt, wie ich im letzten Beitrag zeigte, verschiedene Erklärungsmodelle, wie wir Intuition verstehen können. Das große verbindende Element zwischen diesen Modellen ist das Phänomen der Selbstorganisation. Darunter können wir alle Modelle zusammenfassen, sie finden unter diesem Dach das gemeinsame große Ganze.

Intuition ist informationelle Selbstorganisation

Der Begriff der Selbstorganisation ist nicht mehr neu (siehe auch den Wiki Eintrag über Selbstorganisastion). Er reicht über 30 Jahre zurück und wurde in den 70ern von verschiedenen Wissenschaftlern geprägt (Eigen 1971, Jantsch 1975 u.a.) Aber er bietet heute eine bestenfalls ansatzweise erkundete Möglichkeit, Intuition besser zu verstehen und zu einem professionellerem Umgang zu finden (Zeuch 2006).

Wenn wir Intuition erleben, haben wir das Gefühl, dass uns ein Bild vor Augen kommt, uns ein Gefühl beschleicht oder eine innere Stimme spricht und zwar ohne, dass wir dies in irgend einer Weise bewusst hervorgerufen hätten. Es geschieht einfach. Aus der Sicht der im letzten Beitrag vorgestellten Theorien zu unbewusster Wahrnehmung und Informationsverarbeitung ist dies kein Wunder: Ohne gezielte Absicht nehmen wir die uns umgebende Welt unbewusst war. Die so aufgenommenen Daten werden dann – wiederum absichtslos – unbewusst weiterverarbeitet. Das heißt, sie werden in den entsprechenden neuronalen Netzwerken mit bereits vorhandenen Informationen, bzw. Wissensbeständen verknüpft. Ohne ein steuerndes Ich, das überhaupt nur Notiz davon nimmt, entstehen neue Informationen und neues Wissen in unserem Unbewussten. Im Falle einer durch uns bewusst gesuchten Problemlösung brüten wir über der Problembeschreibung und –analyse oder wir umkreisen dieses Problem und versuchen es Kraft unseres Verstandes und unserer Erfahrung zu durchdringen. Auch dann kommt wiederum dieser absichtslose Mechanismus ins Spiel: Unterhalb unserer Bewusstseinsschwelle arbeitet es parallel zu unserer bewussten Problemlösung. Und wenn wir eine Pause einlegen oder abends schlafen gehen, brodelt es im Unbewussten weiter, mitunter die ganze Nacht lang. Im Schlaf erhalten wir dann – schon wieder ohne die Herrschaft unseres Ichs – traumhafte Informationen. Sollten wir uns morgens erinnern, haben wir wiederum nur die Möglichkeit, mit diesem Traummaterial zu arbeiten oder es zu vergessen.

Libets Experiment: (0) Ruhe, bis (1) das Bereitschaftspotential gemessen wird, (2) der Proband wird seiner Entscheidung bewusst und merkt sich die Position des roten Punktes und (3) handelt.
Libets Experiment: (0) Ruhe, bis (1) das Bereitschaftspotential gemessen wird, (2) der Proband wird seiner Entscheidung bewusst und merkt sich die Position des roten Punktes und (3) handelt.

Bei dieser Betrachtungsweise stellt sich schließlich die interessante Frage, wer eigentlich der Urheber einer intuitiven Entscheidung oder Handlung ist. Da wir die Intuition nicht kontrolliert hervorrufen, sondern sie nur bewusst empfangen können, haben wir lediglich die Möglichkeit eines Veto: Wenn uns die Intuition nicht geheuer ist, können wir sie wieder vergessen. Wir sind nicht gezwungen, uns in ihrem im Sinne zu entscheiden oder zu handeln. Interessanterweise gibt es hier eine Parallele zu einem umstrittenen Experiment von Benjamin Libet (1979 u. 1983): Versuchspersonen sollten spontan den Entschluss fassen, einen Finger der rechten Hand oder die ganze Hand zu beugen. Sie waren während dessen mit einem Elektromyogramm verkabelt, das elektrische Impulse (Aktionspotentiale) im Muskel misst. Normalerweise weist ein gesunder, bewusst ruhig gehaltener Muskel keine Aktivität auf. Bei Libets Experiment zeigte sich jedoch, dass ein sogenanntes „Bereitschaftspotential“ durchschnittlich ca. eine halbe Sekunde vor dem Willensentschluss im noch ruhenden Muskel gemessen wurde. Libet zog damals die Schlussfolgerung, dass der Willensentschluss von unbewussten Prozessen unseres Gehirns vorbereitet wird – und somit nicht vollkommen frei ist. Gemäß Libet hätten wir die einzige Freiheit, ein Veto gegen ein gestartetes Bereitschaftspotential einzulegen. Natürlich gab es verschiedene Einwände gegen dieses Experiment und seine Schlussfolgerung, unter anderem von Karl-Heinz Brodbeck (2006). Ein Folgeexperiment, in dem die verschiedenen methodischen Kritiken aufgegriffen und der Versuchsaufbau entsprechend verändert wurde, bestätigten indes die Grundaussagen von Libet (Haggard und Eimer 1999). Der deutsche Professor für Verhaltensphysiologie, Gerhard Roth, fasst dies so zusammen: „Der Willensakt tritt auf, nachdem das Gehirn bereits entschieden hat, welche Bewegung es ausführen wird.“ (Roth 2003, S. 523). Die damit verbundene Diskussion, ob es Willensfreiheit gibt oder nicht, führt hier zu weit, ist aber ein interessanter Aspekt, der eine bescheidene Haltung gegenüber unserer Identität und unserem willentlichen Handeln nahe legt.

Der selbstorganisierende Charakter unserer Intuition zieht noch einige andere Implikationen nach sich, zum Beispiel sprunghaft Muster- oder Zustandswechsel. Abstrakt gesprochen verändert sich ein selbstorganisierendes System durch eine grundsätzliche Abfolge von Ordnung – Chaos – Ordnung oder von Stabilität – Instabilität – Stabilität. Diese Zwischenphasen des instabilen Chaos sind nötig, um eine kreative neue Ordnung zu schaffen. Raucher, die zum Nichtraucher wurden, gingen genau durch eine solche instabile Phase des Übergangs. Das System kann jederzeit zurückkippen in den alten Zustand: Der Raucher steckt sich die nächste Zigarette in den Mund, zündet sie an und inhaliert tief. Im Zusammenhang mit Intuition bedeutet das für uns die Herausforderung, Instabilität auszuhalten. (Kruse 2004) Normalerweise nehmen wir dies nicht so wahr, sondern eher als eine vage Ahnung, ein Nachspüren, ein Nichtwissen, was genau als nächstes passieren wird, wie wir uns entscheiden oder handeln werden. Diese Struktur trifft nicht auf alle intuitiven Momente zu. Unser Auto plötzlich abzubremsen nehmen wir nur als Impuls wahr. Anders hingegen die Geschichte von Kekulés Traum. Nach einer intensiven Phase des Forschens (nach Poincaré die „Preparation“) folgte die Inkubation und schließlich die Illumination. Wenn wir die Modelle von Poincaré und den Phasenübergängen in der Selbstorganisation in Beziehung setzen, kann die Inkubationsphase als kritische Instabilität interpretiert werden. Kekulé wusste nicht mehr weiter, hatte kein Ergebnis, verstand nicht, worin die Lösung liegt. Das entscheidende Moment war das Loslassen von der bewussten Problemlösung, so dass sich die Selbstorganisation ganz entfalten konnte. Die Folge war eine Intelligenz, die weiter reichte als das bewusste Wissen, das durch ein (scheinbar?) willentliches Ich gesteuert ist. Kekulé profitierte von der Weisheit seines Unbewussten, auf das er willentlichen keinen Zugriff hatte.

Wir werden bewusst und unbewusst stark beeinflusst durch unsere bisherigen Erfahrungen. Diese bereits gemachten und gespeicherten Erfahrungen können wir als einen „Attraktor“ für die Einordnung neuer Erfahrungen verstehen. Das Konzept des Attraktors spielt in der Selbstorganisation eine wichtige Rolle und kann folgendermaßen beschrieben werden: Stellt Euch eine Landschaft vor, die aus Tälern und Hügeln besteht. Die Täler sind dabei die Attraktoren, die die Zustandsveränderung eines Systems (z.B. einer Person) in Form einer Kugel anziehen. Die Täler sind die Ordnungs- oder Stabilitätszustände, auf die wir automatisch zustreben. Die Hügel stellen die instabilen Phasen dar, von denen sich das System in Richtung Tal weiterbewegt, bis es wieder stabil ist. Es bedarf einer gewissen Anstrengung, aus dem Tal aufzusteigen auf die Hügel (der Raucher, der aufhört zu rauchen). In diesem Bild sind unsere gesammelten Erfahrungen die Täler, in die die Kugel hinabrollt. Wenn nun aber eine neue Erfahrung nicht zu den bereits vorhandenen und teils unbewusst gespeicherten Erfahrungen passt, kann es zu Fehlinterpretationen kommen. Ganz praktisch wurde dies zum Beispiel in der ärztlichen Entscheidungsfindung im Rahmen von Diagnose-Stellungen erforscht. Wenn ein Arzt eine bestimmte Krankheit häufig diagnostiziert hat, neigt er dazu, vergleichbare Symptome bei einem neuen Patienten mit der ihm besonders bekannten Diagnose intuitiv in Verbindung zu bringen – auch wenn es sich faktisch um eine andere Krankheit handelt (Speich 1997). Hier zeigt sich also die Kehrseite unserer Erfahrungen und unseres Unbewussten.

Schlussfolgerungen

Aus dem Versuch, Intuition durch das Konzept der Selbstorganisation zu beleuchten, lassen sich verschiedene Hinweise für einen professionellen Umgang mit Intuition im Zusammenhang mit agilem Arbeiten ableiten:

  1. Wir haben einen guten Grund, Vertrauen in unsere Intuition zu entwickeln: Sie steht in bester Tradition zu äußerst erfolgreichen selbstorganisierenden Prozessen, die keinerlei Kontrolle von außen bedürfen. Angefangen bei unserer pränatalen Entwicklung bis hin zur „Selbstorganisation des Universums“ (Jantsch 1992) hat dieses Phänomen erstaunliche Ergebnisse produziert. Es ist eine 14 Milliarden Jahre anhaltende Erfolgsstory (Owen 2006).
  2. Gleichzeitig sollten wir unserer Intuition gegenüber wohlwollend kritisch sein, denn sie kann uns durch unsere eigenen Erfahrungen in neuen Situationen auf den Holzweg schicken. Fehler in natürlichen, evolutionären Selbstorganisations-Prozessen tilgt die Natur einfach wieder. Wir haben die Möglichkeit, die Parallele zwischen fehlerhafter Selbstorganisation in der Natur und unserer selbstorganisierenden Intuition zu erkennen. Wir müssen nicht warten, bis wir auf die Nase gefallen sind.
  3. Wir sollten eine intelligente Balance Entwickeln aus „harter“ Arbeit, in der wir uns in die Themen reinschaufeln, die unsere Aufgabe sind und aus Loslassen, wenn wir nicht mehr weiter wissen. Es lohnt sich, uns in Fragen, die entstehen reinzugraben, diese Fragen von allen möglichen Seiten zu beleuchten und sie dann auf uns wirken zu lassen. Dann haben wir die Chance, unsere Weisheit zu nutzen und zu wirklich neuen Ergebnissen zu kommen. Die großen Denker und Künstler haben dies vorbildlich vorgelebt. Sie können unsere Mentoren sein.
  4. Es lohnt sich zu erkennen, dass nicht unser „ich“ entscheidet, sondern das dieses „ich“ Teil eines größeren „selbst“ ist, das all unsere (un-)bewussten Anteile umfasst. Wir werden dann weniger von egoistischen und mithin narzisstischen Absichten getrieben, sondern von der Einsicht, dass wir Teil eines umfassenden Ganzen sind.

 

Herzliche Grüße
Andreas

 

Denkstoff: Literatur 

  • Agor, W.H. (1986): The logic of intuitive decision making. New York, Westport, Conneticut, London: Quorum Books.
  • Benner, P. (1982): From novice to expert. American Journal of Nursing, March 1982: 402-407
  • Brodbeck, K.-H. (2006): Die Differenz zwischen Wissen und Nicht-Wissen. In: Zeuch, A. (Hrsg.) (2006): Keine Ahnung?! Nichtwissen in Unternehmen.
  • Ciompi, L. (1997): Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
  • Damasio, A.R. (1997): Descartes‘ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: dtv
  • Damasio, A.R. (2000): Ich fühle also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. München: List
  • Eigen, M. (1971): Self-Organization of Matter and the Evolution of Biological Macromolecules. Naturwissenschaften, 58: 465-523
  • Gershon, M. (2001): Der kluge Bauch. Die Entdeckung des zweiten Gehirns. München: Goldmann
  • Gross, R. (1976): Die Intuition in der ärztlichen Praxis und Forschung. In: Gross, R.: Zur klinischen Dimension der Medizin. Stuttgart: Hippokrates (S. 129-134)
  • Haggard, P. u. M. Eimer (1999): On the relation between brain potantials and the awareness of voluntary movements. Experimental Brain Research 126: 128-133
  • Jantsch, E. (1975): Design for Evolution: Self-Organization and Planning in the Life of Human Systems. New York: Braziller
  • Jantsch, E. (1992): Die Selbstorganisation des Universums. München: Hanser Verlag
  • Kruse, P. (2004): Erfolgreiches Management von Instabilität. Offenbach: GABAL
  • Libet, B. et al. (1979): Subjective referral of the timing for a conscious sensory of experience. Brain 102: 193-224
  • Libet, B. et al. (1983): Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity (readiness-potential). Brain 106: 623-642
  • Malik, F. (2001): Aus dem Bauch  – gegen die Wand. Handelsblatt, 26.10.201, K3
  • Owen, H. (2006): Open(ing) Space für Nichtwissen. In: Zeuch, A. (Hrsg.) (2006): Keine Ahnung?! Nichtwissen in Unternehmen.
  • Poincaré, H. (1973/1910): Die mathematische Erfindung. In: Ullman, G. (Hg.): Kreativitätsforschung. Köln: Kiepenheuer und Witsch: 219-229.
  • Polanyi, M. (1985/1966): Implizites Wissen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
  • Roth, G. (2003): Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt: Suhrkamp
  • Speich, R. (1997): Der diagnostische Prozess in der inneren Medizin: Entscheidungsanalyse oder Intuition? Schweizerische medizinische Wochenschrift 127: 1263-1279
  • Zeuch, A. (2004): Training professioneller intuitiver Selbstregulation. Hamburg: Dr. Kovac
  • Zeuch, A. (Hrsg.) (2006): Management von Nichtwissen in Unternehmen. Carl-Auer-Verlag, Heidelberg.
  • Zeuch, A. (2006): Die innere Firma. Nichtwissen und selbstorganisierende Intuition. In: Zeuch, A. (Hrsg.) (2006): Management von Nichtwissen in Unternehmen. Carl-Auer-Verlag, Heidelberg
  • Zeuch, A. (2010): Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen. Wiley

Bildnachweis

  • Beitragsbild: © Dr. Andreas Zeuch
  • Libet Experiment: Createaccount, CC BY-SA 3.0

 

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