Wann ist eine Organisation “demokratisch”? Zwei Antworten sind typisch: Erstens Basisdemokratie, sprich alle kochen mit, also genau genommen: Alle entscheiden was gekocht wird, wieviel davon, wo die Zutaten besorgt werden, gehen einkaufen, fangen gemeinsam an, die Ingredienzien zu putzen und zu schnippeln, kochen, dünsten, pochieren, backen, braten; drapieren anschließend zusammen alles hübsch auf dem Teller, den sie den Gästen bringen, die sie zuvor gemeinsam angesprochen haben, um sie in ein Restaurant zu locken, dass sie zuvor in trauter Runde gepachtet und eingerichtet haben. Nun ja, was davon zu halten ist, brauchen wir vermutlich nicht lange diskutieren.
Zweitens wird mit Unternehmensdemokratie gerne die Wahl von Führungskräften assoziiert. Das scheint bei einigen Unternehmen gerade in Mode zu kommen, gibt es doch medial prominente Vorreiter, die Führungskräftewahl, das Management by Election – sagen wir – wenig zurückhaltend als das neue New Work Credo in möglichst vielen Organisationen implementieren wollen. Aha. Wahlen also. Aber wie demokratisch sind Wahlen eigentlich? Und wie funktional und zielführend?
Demokratie gleich Wahlen?
Eine immer aufs neue erfrischende, ungemein überraschende Kritik an Unternehmensdemokratie liegt darin, einen Kategorienfehler festzustellen: Ein politischer Begriff wird in einen organisationalen, betriebswirtschaftlichen Kontext übertragen. Das geht natürlich gar nicht. Schließlich dürfen wir auch keine militärischen Begriffe wie Operationen, Taktik und Strategie in die Wirtschaft transferieren, ein solches WarWording kommt niemals vor. Aber, so muss ich gestehen, in reuiger Haltung einem Kotau nahe: Ja, der Begriff der Unternehensdemokratie ist natürlich, offensichtlich und gänzlich unmissverständlich der gesellschaftlichen Demokratie entlehnt. Und was zeichnet unsere Demokratie aus? Ja. Exakt. Treffer versenkt: Freie Wahlen! So steht’s auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948: “Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muss durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleich Wahlen … zum Ausdruck kommen.” Strike.
Wer also Arbeit mithin Organisationen demokratisieren will, muss, ja: MUSS mit dreifachem Ausrufezeichen entsprechende Wahlen einführen. Schließlich steht es doch genau so in einem der wichtigsten Dokumente der Menschheitsgeschichte. Allerdings sei mir eine klitzekleine Frage erlaubt: Waren Wahlen eigentlich die grundlegende Idee einer demokratischen Verfassung? Der Blick in die Geschichte könnte unter Zurückstellung aller größter Bedenken hilfreich sein: Der Begriff hat, wie Ihr wisst, griechische Wurzeln: δημοκρατία „Herrschaft des Staatsvolkes“; von δῆμος dēmos „Staatsvolk“ und κρατός kratós „Gewalt“, „Macht“, „Herrschaft“. Also werfen wir einen kurzen Blick auf die griechische Godfathers der Demokratie und wie sie die Herrschaft des Volkes verwirklichten (das bekanntermaßen nur eine sehr eingeschränkte Auswahl an Menschen umfasste, so lästige humanoide Anhängsel wie Sklaven oder gar Frauen gehörten natürlich nicht dazu, aber das ist eine andere Geschichte…).
Losen statt wählen
Wie wurden nun die vier maßgeblichen griechischen Demokratie-Institutionen besetzt? Man höre und staune:
- Volksversammlung (Ekklesia): Rund 6000 Bürger, die sich über Selbstanmeldung in die Regierung einbrachten.
- Rat der 500 (Boule): Die Mitglieder wurden unter den Bürgern ausgelost.
- Volksgericht (Heliae): Aus einem Pool von rund 6000 Bürgern wurden jeden Morgen mehrere Hundert Jurymitglieder – ausgelost.
- Magistraturen (Archai): 600 Beamte wurden unter den Bürgern ausgelost und nur 100 Spitzenbeamte gewählt.
In Summe machte somit das Losverfahren rund 75% der Besetzung von Regierungsfunktionen aus. Lediglich rund ein Viertel der Regierenden wurde gewählt. Dieses Vorgehen führte zu einer im Vergleich zu heute unglaublich breiten Beteiligung der Bürger: “50 bis 70% der Bürger über dreißig Jahre sind einmal Ratsmitglied gewesen.” (Reybrouck 2017: 74) Aristoteles merkte dazu an: “Grundlage der demokratischen Verfassung ist die Freiheit … Von der Freiheit nun aber ist zunächst ein Stück, dass das Regieren und regiert werden reihum geht.” Eine interessante Sicht. Besonders scharfsinnige Geister könnten jedoch behaupten: wohin das geführt hat, sehen wir an der aktuellen wirtschaftlichen Lage der siechen Griechen. Nun ja, ich erspare mir, dieses potentielle Argument zu widerlegen. Statt dessen stellt sich eine wichtige Folgefrage: Wie ging es denn weiter mit dem Losverfahren als zentralem Mechanismus, um Führung zu etablieren? War das eine griechische Ausnahmeerscheinung in der Geschichte der Demokratie? Nein, keineswegs.
Norditalienische Städte arbeiteten auch wieder damit: Bologna (seit 1245), Vicenza (1264), Novara (1287), Pisa (1307), aber vor allem Venedig (1268) und Florenz (1328). Gerade die letzten beiden nutzten es über Jahrhunderte und inspirierten im Laufe der Geschichte Städte des heutigen Spaniens (Gerona, Barcelona, Saragossa) und sogar Frankfurt am Main. Das Losverfahren war also keineswegs ein Irrtum der Geschichte. Ganz im Gegenteil war es ein zentraler Bestandteil erfolgreicher geografisch kleiner, eher urbaner Staaten. Montesquieu kommentierte also auch:
“Wahl durch Los entspricht der Demokratie, Wahl durch Abstimmung der Natur der Aristokratie.” (a.a.O.: 83)
Diderot und d’Alembert erklärten umgekehrt, dass das Losverfahren für die Aristokratie von Nachteil wäre, deshalb solle lieber abgestimmt werden. Und Rousseau stellte fest, dass das Los “eher der Natur der Demokratie” entspricht.
Damit nicht genug. Der machtpolitische Dreh erfolgte in der Französischen und Amerikanischen Revolution. Die Gründerväter der beiden Republiken misstrauten unmissverständlich dem Volk und wollten nichts weiter, als eine auf Erbfolge beruhende Aristokratie in eine gewählte Aristokratie verwandeln. Es ging darum, eine Elite an die Macht zu bringen, die dem Rest des zum Regieren zu blöden Volks die Richtung weist. (Vgl. a.a.O.: 86-98). Das vielleicht eindrücklichste Beispiel lieferte Boissy d’Anglas, der Vorsitzende des Konvents. Seine Sichtweise passt wie die Faust aufs Auge der Elitekritiker, hier als Foto aus dem Buch, einfach weil es so unfassbar ist, dass die Wurzeln dieser antidemokratischen, finanziellen Eliteregierung bis in die französische Revolution und ihre Wirren zurückreichen:
Das erklärt so Manches, mit dem wir uns aktuell befassen und rumschlagen dürfen. Und mindestens mit diesen Aussagen von D’Anglas und Montesquieu wird hinsichtlich unserer gesellschaftspolitischen Demokratie klar:
Die Entscheidung für Wahlen und gegen das Losverfahren war also keineswegs ein revolutionärer Fortschritt, sondern vielmehr ein Schritt zurück entgegen der Entwicklung demokratischer Machtverhältnisse. (Andreas Zeuch)
Der Musterbruch: Chef-Wahlen
Und all das, dieser Schritt soll das neue, gelobte Land demokratischer Organisationsgestaltung sein? Das Mekka der Unternehmensdemokratie? Ich erlaube mir einen Hauch des Zweifels. Nicht weil ich davon ausgehe, dass hinterfotzige Manipulationen am Werke sind. Die Befürworter und Vermarkter der neuen Führungsideologie meinen es vermutlich aufrichtig gut, mal abgesehen von der nicht ganz plausiblen Idee, warum eine Form der Demokratisierung über alle Organisationen ausgekübelt zum New Work Heil führen soll. Aber das ist wohl eher einer Vertriebsperspektive geschuldet. Ansonsten spricht im ersten Moment einiges für die Wahl von Führungskräften. Schließlich habe ich das selbst nach Interviews mit Hermann Arnold und Marc Stoffel von der Haufe umantis AG ausgeführt (Vgl. Zeuch 2015: 117-119)
- Klärung der Führungszusammenarbeit (Reflexion von Wählern und Gewählten, was erreicht werden soll)
- Macht zur Abwahl
- Persönlichkeitsentwicklung (Nach der Wahl müssen sich nicht bzw. abgewählte Personen damit auseinandersetzen)
- Führungskräfteentwicklung (Erleben, was folgende Führungskräfte machen und davon lernen)
- Ein neues Karrieremodell (wider die Kaminkarriere, mal führen, dann folgen, oszillieren zwischen den Funktionen)
Das klingt doch eigentlich ziemlich gut, oder? Fand ich auch, vor allem als ich das erste Mal von Führungskräftewahlen las. Ja, das hatte mich schwer beeindruckt. Denn schließlich klingt es überaus logisch, dass gewählte Führungskräfte eine ganz andere Basis der Legitimation durch das Unternehmensvolk haben, als wenn ihnen einfach die Chefs ungefragt vor die Nase gesetzt werden. Und wenn dann die Führungskraft demokratisch gerechtfertigt ist durch ordentliche, geheime Wahlen, dann hat sie doch auch einen ganz anderen Rückhalt bei den MitarbeiterInnen, oder etwa nicht? Doch schon, mag man oder frau im ersten Moment meinen. Und wohl genau deshalb beeindruckt es MitarbeiterInnen, wenn das erste Mal, gerahmt von einem starken, emotionalen Ritual, die Führungskräfte gewählt werden. Das ist ganz ohne Zweifel eine erhebliche Veränderung der bisherigen formal-fixierten Hierarchie. Allerdings gibt es dann doch das eine oder andere Problem bei der Geschichte.
Probleme mit den Chef-Wahlen
Populismus
Durchaus zu Recht stellt sich nämlich erstens die Frage, ob die Wahlen nicht zu eben jenen populistischen Entwicklungen führen, die wir aktuell in der gesellschaftlichen Demokratie verfolgen können, die wie ein Buschfeuer eine Schneise durch die vertrocknete Welt der Demokratie brennen. Wer wird als Teamleiter gewählt, als Abteilungsleiter oder CEO? Der oder die mit einem “Wahlprogramm”, dass für die WählerInnen unangenehme Entscheidungen beinhaltet, oder wird es eher umgekehrt sein: Wer für die WählerInnen angenehmes verspricht, wird Chef. Wir wissen es noch nicht wirklich. Zwar ist die Wahl von Führungskräften nur halb so originell und neu, wie es aktuelle Spieler des New Work Feldes gerne verkaufen, schließlich hatte zumindest schon die Wagner Solar GmbH und Co. KG seit ca. Mitte der 1970er ihre Abteilungsleiter gewählt (Vgl. Zeuch: 187-196). Aber vor allem haben wir in Summe noch viel zu wenige Experimente dieser Art erlebt. Und bei Wagner hat die Führungskräftewahl zu zwei erheblichen Problemen geführt:
Ja-Sagertum
Ein kurzer Ausschnitt eines Gesprächs mit einem Mitarbeiter und einem der Geschäftsführer dieser Firma illustriert ebenso pointiert wie eindrücklich, was ich mit der Überschrift meine:
Mitarbeiter: Zumindest hat er am wenigsten widersprochen. Muss man klipp und klar so sagen. Damals waren wir ja noch relativ überschaubar in der Abteilung, wir waren nur sechs Leute.
Geschäftsführer: Konnte auch daran liegen, dass er am schlechtesten Nein sagen konnte.
Mitarbeiter: Ja, ja. Und er ist es dann auch weiter geblieben.
Auf mich macht das nicht den Eindruck, als ob die jeweils beste Kompetenz für die aktuelle Situation die Motivation für eine Wahl waren. Dabei ist ja genau das ein typisches Argument, um Wahlen gegenüber dem Losverfahren den Vorzug zu geben. Durch die Wahl sollen diejenigen in Führung gehen, denen das Wahlvolk die größte Kompetenz zuspricht.
Expertokratie
Es wurden immer die gleich gewählt. Die Macht zur Abwahl, auf die Hermann Arnold auch im Gespräch mit mir verwies, war nur noch eine theoretische Option. Faktisch wurden immer dieselben Abteilungsleiter in ihren Rollen bestätigt. Aber nicht, und dann wäre das Ganze ja ein prima Sache, weil die WählerInnen so rundum überzeugt und glücklich mit Ihren Führungskräften waren. Nein, sie hatten lediglich das Gefühl, dass die sich ein Expertise erarbeitet hatten, die andere Personen nicht aufweisen konnten. Die Demokratie verkam also zur Expertokratie – genau das, wovor unser ehemaliger Bundespräsident Roman Herzog uns gewarnt hatte (Herzog 1998). Es waren die immer Gleichen, die die operativen und taktischen Entscheidungen trafen und auf diesen Ebenen das Unternehmen führten und gestalteten. Diese beiden Schwierigkeiten, Ja-Sagertum und Expertorkratie wurden zu einem großen Problem bei Wagner.
Einfältigkeit
Wenn es zu einer Expertokratie kommt, in der Führungskräfte wieder und wieder gewählt werden, droht zudem Einfalt statt Vielfalt. Der immer gleiche Führungsstil und die zwangsweise immer gleichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster derselben Führungskraft beinhalten die Gefahr, dass sich im Laufe der Jahre thematische und interaktionelle (Führungs-)Muster bilden, die nicht gerade förderlich für ein innovatives Klima sind. Nicht umsonst nimmt die Innovationskraft von Unternehmen im Laufe der Jahre ab, bis irgendwann expertokratische Strukturen entstanden sind, die regelrecht innovationsfeindlich sind, wie Clayton Christensen in seinem Buch “Innovator’s Dilemma” erläuterte und belegte.
Elitebildung
Letztlich hängt mit der drohenden Expertokratie auch noch das Risiko einer Elitebildung zusammen. Immer wieder gewählte Führungskräfte entfernen sich mit der Zeit von “normalen” MitarbeiterInnen. Sie sind dauerhaft in Führung und damit kontinuierlich in anderen Machtsphären, als der Rest der Belegschaft. Das überrascht wenig, wenn wir in Betracht ziehen, dass die Entscheidung für Wahlen im Zuge der amerikanischen und französischen Revolution mit genau diesem Ziel eingeführt wurden. Mit fortwährenden Wiederwahlen stehen die Chancen zur Entstehung einer mikropolitischen Elite nicht schlecht. Die Entscheidungsgewalt konzentriert sich bei den immer gleichen Personen.
Resumé
Mir geht es nicht darum, Führungskräftewahlen grundsätzlich abzulehnen. Es geht nicht darum, den Versuch, verkrustete Strukturen formal-fixierter Hierarchien aufzulösen, gleich wieder in die Tonne zu treten. Vielmehr wäre es wichtig, ein Konzept zur Besetzung von Führungsrollen, über das wir nicht allzuviel sagen können, kritischer zu hinterfragen und mit mehr Umsicht und Vorsicht einzusetzen. Mir fehlt die kritische Reflexion des Zusammenhangs zwischen Wahlen und der weltweit problematischen Entwicklung gesellschaftlicher Demokratie. Offensichtlich sind die Führungskräftewahlen von den gesellschaftspolitischen Wahlen inspiriert. Und genau deshalb tut es not, diesen Mechanismus besser zu durchleuchten und zu verstehen.
Die mit den Wahlen verbundenen Hoffnungen und Absichten teile ich: Weg von zementierten Führungsstrukturen, hin zu mehr Partizipation und Selbstbestimmung. In diesem Sinne sind Experimente nicht nur erlaubt, sondern sogar nötig. Damit wir damit langfristig erfolgreich werden, bedarf es allerdings gründlicher Recherchen und Reflexionen empirischer Befunde. Denn eines ist klar: Wenn solche Experimente scheitern, droht eine langfristige Kontaminierung des Versuchs, eine Organisation zu demokratisieren. Dann triumphieren die Zweifler und Skeptiker und danach ist die Idee mit- und selbstbestimmter Arbeit erst mal hinfällig.
Herzliche Grüße
Andreas
Quelle
- Herzog, R. (1998). Demokratie darf nicht zur Expertokratie verkommen. Rede Bei Der Generalversammlung Der Görres-Gesellschaft.
- Reybrouck, D.V. (2017): Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Wallstein
- Zeuch, A. (2015): Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten. Murmann
Bildnachweis
- Beitragsbild: ©Arnaud Jaegers, unsplash, lizenzfrei
- Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: Cover, gemeinfrei
- Venedig: Giovanni Badoer, gemeinfrei
- Trump beim Amtseid: ©White House Photographer, gemeinfrei
Ich glaube auf unserer Fahrt ins Kloster nach Südtirol sprachen wir über den Mangel an gewolltem Zufall, damals im Zusammenhang mit vergangenheitsbasierten personalisierten Empfehlungen im Online-Werbe-Wildwuchs.
Vielen Dank, dass du den Gedanken so zurück in meine Wahrnehmung bringst. Zufälle wollen, Musterbruch systematisieren fordert und fördert Eigenverantwortung.
Ich wünsche mir, dass viele Firmen solche Ansätze in ihren Alltag übertragen.
Stimmt, ich erinnere mich. Und ja, wir sollten Zufälle kultivieren. Danke für deine Rückmeldung.
[…] https://www.unternehmensdemokraten.de/waehl-den-chef-fortschritt-oder-rueckschritt/ […]
[…] und andererseits reichlich trivial, dass ich es einfach lesen musste. Das insbesondere, da die Wahl von Führungskräften seit einiger Zeit als ein grundlegendes Instrument zur Demokratisierung von Arbeit oder der […]