Empathie: Nachdem ich im Sommer 2016 nach Berlin umgezogen bin, begann ich, meine Netzwerke nach Kontakten in meiner neuen Wahlheimat zu durchstöbern. Und so bin ich wieder auf Dr. Eva Köppen gestoßen, die ein durchweg spannendes Profil aufweist: langjährige Forschung im Stanford Design Thinking Research Program, Forschung zu Transformationsprozessen in internationalen Organisationen, freiberufliche agile Coach und Design-Thinking-Strategin im IT- und Forschungsbereich, Lehraufträge an Berliner Hochschulen und nicht zuletzt die durch sie mitgegründete Initiative “Politics for Tomorrow”. In diesem Gespräch fokussieren wir uns auf die Verbindung von Unternehmensdemokratie und Empathie, basierend auf Ihrer Dissertation “Empathy by Design. Untersuchung einer Emphathie-geleiteten Reorganisation der Arbeitsweise”.
Andreas: Eva, wie bist Du ausgerechnet auf dieses Thema für Deine Doktorarbeit gekommen?
Eva Köppen: Kennst Du den Film “Work hard – play hard”? Da sagt ein junger Job-Bewerber: “Ich werde mich im Empathiefeld noch weiterentwickeln müssen.” Das hat gleich mein soziologisches Interesse geweckt: Was macht ein Begriff, den man im lebensweltlichen Bereich verortet, im Wirtschaftsfeld? Parallel dazu stellte ich fest, dass im Design Thinking, eine von IDEO und der Stanford University populär gemachten Kreativmethode, Empathie eine extrem wichtige Rolle spielt. Als ich dann begann, der Sache auf den Grund zu gehen, bemerkte ich, dass Empathie im Organisationskontext offenbar en vogue ist. Es gibt jede Menge Ratgeberliteratur für empathic leader, empathische Mitarbeiter, empathische Firmen. Ich wollte herausfinden: Welche Art von Empathie-Verständnis formiert sich hier und wie wirkt es sich auf die Menschen aus?
Andreas: Wie hängt Empathie mit Unternehmensdemokratie, Partizipation und Mitbestimmung zusammen?
Eva: Ich denke, Empathie ist die Haltung, die der Partizipation und der demokratischen Mitbestimmung zugrunde liegt. In partizipatorischen Willensbildungsprozessen sollten verschiedene Perspektiven gehört und anerkannt werden, bevor man zu einer gemeinsamen Entscheidung kommt. Das setzt Empathie auf unterschiedlichen Ebenen voraus. Wenn ich als Führungskraft verkünde, dass ich in der Firma Mitbestimmung und Partizipation leben will, dann aber keinen empathischen Modus des Zuhörens finde, spüren die Mitarbeiter das sehr schnell. Wenn “gelebte” Demokratie im Unternehmen mehr sein soll als nur ein Feigenblatt, muss man Raum, Methoden und Prozesse dafür schaffen. Als eine solche Strategie habe ich mir Design Thinking in der Praxis angeschaut. Durch die starke Empathiebetonung im Design Thinking konnten tatsächlich einige demokratische Strukturen in die alltägliche Arbeit eingeführt werden. Wenn jede MitarbeiterIn im Team durch Design Thinking dazu aufgefordert ist, den anderen Kollegen empathisch zu begegnen und zuzuhören, dann bröckeln alte Hierarchiestrukturen und es werden auch jene Stimmen gehört, die sonst von Alphatieren übertönt werden. Einige Mitarbeiter berichteten mir während meiner Feldforschung von konstruktiven Resonanzerfahrungen mit ihren Kolleginnen und dem Aufbrechen althergebrachter Hierarchien. Vom Befehlsprinzip zum Verhandlungsprinzip, sozusagen. Allerdings liefert eine solcherart praktizierte Empathie im Team auch die Basis zu neuen Formen der Kontrolle, die von den Subjekten teilweise als negativ und einschränkend erlebt werden.
Andreas: Das finde ich interessant – inwiefern kann solche praktizierte Empathie zu neuen Formen der Kontrolle führen?
Eva: Das Leitbild der Empathie lehnt zwar explizite Machtausübung und konkrete Befehle ab. Es bietet aber gleichzeitig die Möglichkeit impliziter Kontrolle über die Emotionalisierung der Angestellten. In der Soziologie gibt es den Begriff der “normativen Kontrolle”. Das sind Weisen der “von Innen” kommenden Kontrolle. Diese werden nicht mehr länger über explizite Machtausübung, sondern über implizite Werte und kulturelle Faktoren vermittelt. Dahinter steht unter anderem meine Beobachtung, dass meine Interviewpartner häufig eine Selbstverpflichtung hinsichtlich ihrer Empathie formulierten, die stark an dem Wunsch ausgerichtet ist, die inneren Bedürfnisse des Nutzers zu kennen und sich nach ihnen auszurichten. Das Team erkennt die Bedürfnisse des Nutzers auf empathische Weise. Sie werden im Idealfall zur Grundlage der Produktherstellung. Beim „user research“ wird somit durch die empathische Übernahme der Nutzerperspektive eine Form des Antriebs durch normative Kontrolle (Gabriel, 2008) erzeugt.
Wenn ein Team empathisch zusammenarbeitet, gibt man automatisch viel von sich preis. In Form von Check-ins und anderen kleinen Tools zur Empathie-Entwicklung im Team zeigt man viel von sich. Da sind die MitarbeiterInnen in ihrer ganzen Persönlichkeit gefragt. Während meiner Studien habe ich einige Menschen getroffen, die sich dadurch kontrolliert fühlen. Tatsächlich kommt dem empathischen Team eine gesteigerte Machtfülle zu. Teilweise gingen die Befugnisse des Teams gegenüber widerspenstigen KollegInnen über die des Vorgesetzten hinaus – indem einfach ein Laptop zugeklappt wurde oder Ähnliches. Sowas könnte sich eine Chefin heutzutage gar nicht mehr erlauben. Durch die geforderte Offenlegung von persönlichen Perspektiven wird ein transparenter Raum geschaffen, in dem professionelle Distanz keine Rolle mehr spielt. In diesem von Privatheit geprägten Raum der sozialen Sphäre wird der schützende Abstand, der bislang durch eine professionell-distanzierte Mitarbeiteridentität bestand, aufgegeben. Die Beschäftigten nehmen sich innerhalb dieser empathischen Sphäre aufs Neue als angreifbar wahr.
Andreas: Das ist in der Tat höchst interessant! Das würde ich gerne noch vertiefen. Zum ersten Punkt, der normativen Kontrolle durch empathische Übernahme der Nutzerperspektive. Theoretisch verstehe ich das. Aber wer kontrolliert da wen konkret? Die Nutzer ja wohl kaum. Und zweitens zu Instrumenten wie Check-In: Sicher, das kann passieren, würde für mich aber darauf verweisen, dass dieses (und eventuell auch andere Instrumente/Methoden) eben noch nicht zur Kultur der Organisation passen oder dilettantisch eingesetzt werden. So funktionieren Check-Ins und ähnliche Instrumente grundsätzlich nur auf freiwilliger Basis, eben damit kein Gefühl von Kontrolle entsteht. Wenn derartiges passiert, dann ist der Check-In ja geradezu ins Gegenteil verkehrt worden.
Eva: Deine erste Frage war: “Wer kontrolliert da wen?” Vollkommen richtig sagst Du, dass es der Nutzer selbst zumindest nicht sein kann. Der Nutzer, der durch Interviews oder Beobachtungen in den Blick genommen und bspw. in Form von Personas aufbereitet wird, ist ein Medium, durch dass die normative Kontrolle stattfindet. Letztlich sind es Unternehmensinteressen, die sich auf tiefere Weise in Mitarbeitenden verankern lassen als dies bei bisherigen Formen der Kontrolle der Fall war. Auf diese Weise lassen sich Menschen noch stärker für die Firmenzwecke einsetzen, weil die Kontrolle “von innen” kommt: Sie wollen ja selbst das Beste für ihre Nutzer also setzen sie sich auch mit ganzem Herzen dafür ein.
Das ist übrigens ein Aspekt, der ganz neutral gedeutet werden kann und nicht zwangsläufig kritisiert werden muss. Das kommt dann vielleicht darauf an, ob man generell eine kapitalismuskritische Haltung inne hat oder ob man Begriffe wie Macht und Kontrolle als notwendige Funktionsweisen unserer Gesellschaft ansieht.
Ich habe in der Praxis die Erfahrung gemacht, dass eine negativ erlebte Form des empathischen User Research stark davon abhängt, um welche Art von Projekt es sich handelt. Ich habe bspw. ein Projekt zum Bau eines Kinder- und Jugend-Hospiz begleitet. Da war es gefühlsmäßig sehr herausfordernd, Empathie mit Patienten und Angehörigen zu entwickeln. Gleichwohl hat das niemand im Team als negative Form der normativen Kontrolle empfunden. Anders ist es in Bereichen, die von den Mitarbeitern möglicherweise generell als weniger sinnstiftend erachtet werden.
Zu Deinem Gefühl, dass der Zweck des Check ins in sein Gegenteil verkehrt wird: Ja, das konnte ich sehr häufig beobachten, dass Dinge, die eigentlich gut gemeint waren, nicht funktioniert haben, weil sie unprofessionell durchgeführt wurden oder weil nicht genügend Raum und Zeit dafür da war. Dann fällt es Menschen generell schwer, empathisch zu sein oder auch Empathie im Arbeitskontext als etwas Sinnstiftendes zu empfinden: Wenn der Kontext dazu nicht gegeben ist.
Andreas: Das leuchtet mir ein, danke für die Verdeutlichung. Zum Abschluss noch eine Frage, mit der Du Dich richtig austoben kannst, vermute ich jetzt mal. 2016 wurde in der Wirtschaftswoche ein interessanter und für viele sicherlich provokanter Artikel über die zehn Nachteile der Empathie veröffentlicht (Empathie: Die zehn Nachteile des Mitgefühls):
- Empathie laugt aus.
- Empathie macht einsam.
- Empathie erzeugt Abwehr
- Empathie behindert Frauen.
- Empathie manipuliert
- Empathie grenzt aus.
- Empathie begünstigt Korruption.
- Empathie ist kein fairer Ratgeber.
- Empathie wird überschätzt
- Empathie fehlt der Verstand.
Was meinst Du dazu? Wobei Du jetzt nicht alle zehn Kritikpunkte durchdeklinieren brauchst, vielleicht einfach diejenigen, die Dir spontan am wichtigsten sind.
Eva: Das ist ein spannender Artikel und einige dieser Themen finden sich auch in meinem Buch wieder. Was sich deutlich zeigt ist, dass viele Jahre lang ein Diskurs etabliert wurde, der Empathie als etwas moralisch Gutes darstellt. Wirft man einen genaueren Blick auf das Thema, zeigen sich Widersprüche und einige unintendierte Nebeneffekte der Empathie.
Was mich nur immer wieder überrascht ist das Empathie als etwas Gefühliges dargestellt wird. Stichwort “Empathie fehlt der Verstand.” Im Artikel wird Mitgefühl über den gesamten Text synonym verwendet zu Empathie. Hier würde ich mit dem Soziologen Richard Sennett eine definitorische Grenze ziehen: Empathie ist ein sehr bewusst gewählter Zugang zum anderen, eher rational gesteuert. Mitgefühl hingegen kann mich spontan überkommen, auch vorbewusst. Viele AutorInnen und ForscherInnen arbeiten hier begrifflich ungenau. Oder aber Psychologen und Soziologen haben sehr unterschiedliche Definition von Empathie.
Der Aspekt “Empathie behindert Frauen” ist im Artikel auch eher ungenau beschrieben. Schließlich bedeutet empathisch sein nicht, dass daraus eine Konsequenz folgt. Ich kann versuchen, mich empathisch in einen Terroristen hineinzuversetzen. Daraus muss noch nicht folgen, dass ich Mitleid mit ihm habe oder ihn in seinem Tun unterstütze. In meiner Studie habe ich eher festgestellt, dass das Thema Empathie aber in der Tat noch nicht führungsrelevant ist. In der Organisation, die ich untersucht habe, kommen die Entscheidertypen weiter und nicht die empathischen Team-Leader.
Abschließend würde ich sagen: Der Empathie-Begriff ist mit Vorsicht zu genießen und stellt mit Sicherheit keine Lösung für all unsere Probleme dar. Dennoch ist das bewusste und neugierige Zuhören, das Aufsaugen fremder Lebenswelten, das Zueigen machen unterschiedlicher Erfahrungsweisen eine Fähigkeit, die wir viel mehr nutzen sollten. Das trainiert unsere Fantasie für andere Lebensformen und verschafft uns ein breiteres Vokabular für all die Weisen, in denen Menschen ihr Leben leben können. Nicht um andere manipulieren zu wollen, sondern um liberale Grundwerte zu leben und dazuzulernen. Und das Dazulernen ist ist im Unternehmenskontext viel wert – entweder um gute Produkte zu schaffen oder um eine gute Führungspersönlichkeit zu sein.
Andreas: Das ist absolut plausibel. Zum Schluss würde ich aus meiner Erfahrung nur noch anmerken: Empathie ist hochgradig relevant für Führung, insbesondere wenn sich eine Organisation partizipativ und demokratisch aufstellen will. Eva, Danke für das spannende Gespräch!
Herzliche Grüße
Andreas
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