Vor einigen Jahren wurde ich in die Restrukturierungsphase eines mittelständischen Medizintechnikunternehmens eingeladen. Vordergründig sollte ich Umsatz und Rendite stabilisieren und die Gesamtverantwortung für die Absatzorganisation übernehmen. Nach kurzer Zeit entpuppte sich der Auftrag aber als einer, der nicht nur auf den Absatz abzuzielen hatte; es war eine handfeste Führungs- und Mitarbeiterkrise zu erkennen.
Die Ausgangslage
Zum Unternehmen. Mittelständler, geführt durch ein angestelltes Management. Die Inhaberfamilie hielt sich vornehm zurück und überließ den vermeintlichen Profis die Arbeit. Das Unternehmen war groß genug, um trotz schwacher Renditelage die Familie und deren Entourage auf hohem Niveau leben zu lassen. Man hatte sich eingerichtet, ein behagliches Laissez-faire stellte sich ein. Die Produkte waren hochwertig, erklärungsbedürftig und leider auch ein wenig in die Jahre gekommen. Damit erodierten die Preise nur unauffällig, aber stetig.
Zurück zu der oben genannten Führungs- und Mitarbeiterkrise. Diese war, ohne zu übertreiben, dramatisch. Langjährige Mitarbeiter hatten bereits gekündigt oder standen kurz davor, das Unternehmen zu verlassen. Manchmal mag Fluktuation ein gern gesehener Begleitumstand einer Restrukturierung sein, in diesem Fall entwickelte sich der Abgang der Mitarbeiter, hier insbesondere der Vertriebsmitarbeiter, zu einer mittelschweren Katastrophe, da diese mit nur wenig Zeitversatz nahezu unmittelbar in Kunden- und damit Umsatzverluste mündete.
In dieser Situation kam ich in das Unternehmen und orientierte mich. Nach recht kurzer Zeit war deutlich zu erkennen, dass es eine diametrale Wahrnehmung der Situation seitens Mitarbeiter und Management gab. Beide beschuldigten sich gegenseitig und zu meinem Erstaunen laut und öffentlich, für die Misere verantwortlich zu sein. Das Band zwischen oben und unten war zerrissen.
Nicht selten ist in solchen Situationen mein Reflex, nach Personen (unabhängig von ihrer hierarchischen Position) zu suchen, den ich die Misere anzulasten imstande wäre. Nicht selten ist dies auch gut und gerne zu realisieren.
Nun mögen diese Worte verstörend wirken und bedürfen daher der Erläuterung. Nach meiner Erfahrung treten Führungskrise und nachgelagert unerwünschte Mitarbeiterabwanderungen dann gerne auf, so einzelne Mitarbeiter (auch hier wieder unabhängig von deren hierarchischen Position) ein deutliches Fehlverhalten an den Tag legen (Diebstahl, „innere“ Korruption, Sabotage, sexuelle Belästigung, cross-hierarchische sexuelle Fraternisierung, massiver Schlendrian, etc.) und dieses Verhalten nicht geahndet wird. Der moralische Kompass dieser Firmen wird dabei insbesondere dadurch beschädigt, dass jeder das Fehlverhalten sieht, auf Konsequenz und Sanktion wartet, diese jedoch nicht kommen. Dies führt zu weiterem Fehlverhalten und verstärkt dieses. Die moralische Entkernung führt dann nach und nach zu einem Verlust an Umsatz und Marge.
Wenn man nun aber einzelne Personen, die sich im Zentrum dieses Fehlverhalten befinden oder auf relevante Art und Weise mit diesem in Verbindung stehen, zur Räson ruft oder im notwendigen Falle aus dem Unternehmen entfernt, passiert etwas ganz Erstaunliches. Das Unternehmen atmet auf. Es fühlt sich bereinigt, auf den Gängen lässt sich unisono ein deutlicher Seufzer „Endlich!“ vernehmen.
Nun mag man sich fragen, ob es sich bei der o. g. moralischen Entkernung um ein Symptom oder eine Ursache handelt. Ich vermag dies abschließend nicht zu beantworten. Ich vermute jedoch sehr stark, dass es sich originär um ein Symptom handelt, welches nach und nach zu einer Ursache wurde. Wichtig ist nach meiner Erfahrung, dass massiv (sozial) schädliches Verhalten konsequent geahndet wird; die Gefahr der Intoxikation ist sonst allzu groß.
Der Auftrag
So suchte ich auch in diesem Falle nach der Wurzel des Unternehmensübels, konnte dieses aber nicht an gewohnter Stelle finden. Denn es lang an ganz anderer Stelle begraben. In vielen Gesprächen mit den Beteiligten fand ich den wunden Punkt in einer konsequenten Reihenfolge von nicht nachvollziehbaren Entscheidungen hinsichtlich der Auswahl des Mittelmanagements im Falle von Neubesetzungen. Und diese waren oft nötig, da sich in den letzten Jahren kaum ein Mittelmanager ein Jahr hatte halten können. Die Ursache: Eklatante Fehlentscheidungen hinsichtlich der ausgewählten Personen sowie eine dann doch im Hintergrund ablaufende Einmischung der Eigentümerfamilie. Vulgo: G´schaftlhuberei und Seilschaften dominierten die Einstellungspolitik.
Damit ergab sich als Kernfrage dieses Restrukturierungsprojektes, wie man zum einen eine Professionalisierung der Personalarbeit bei gleichzeitiger Annäherung von Management und Mitarbeitern erreichen konnte. Es galt Nüchternheit zu leben und Brücken zu bauen.
Nach einigen Tagen des Grübelns und vielen weiteren Gesprächen schlug ich dem Management und den Mitarbeitern ein eher ungewöhnliches Vorgehen vor. So sollten beide Parteien gleichzeitig und miteinander die Auswahlkriterien des zukünftigen Stelleninhabers bestimmen. Das hierfür notwendige Meeting setzte ich auf Freitag, 17.00 Uhr, und als Konklavemeeting an. Keiner verlässt den Raum, bis der weisse Rauch den Schornstein verlassen hätte, bis man sich gemeinsam auf die anzulegenden Auswahl- und Bewertungskriterien geeinigt hätte – und wenn dies bedeuten würde, dass man ohne Unterbrechung bis Montag zusammensitzen würde. Das Meeting war bis 24.00 Uhr angesetzt, die Feldbetten waren aufgeschlagen. Fortsetzung des Meetings um 08.00 Uhr, weiter bis 24.00 Uhr, ad infinitum. Es bestand zu keinem Zeitpunkt ein Zwang zum Mitmachen, jedoch nahm man sich damit auch die Möglichkeit zur Mitsprache.
Wie Sie sich unschwer vorstellen konnten, bedurfte es nicht des Wochenendes. Gegen 23.30 Uhr war Schluss. Mitarbeiter und Management hatten zum ersten Mal miteinander, anstatt neben- und gegeneinander gearbeitet, beide Interessensgruppen partizipierten an der Entscheidungsfindung.
Ich war jedoch noch nicht fertig mit meinem Massnahmenbündel. In einer zweiten Aktivität, auch diesmal wieder als wochenendliches Konklave angelegt, bat ich beide Gruppen zum Tanz, diesmal mit dem Ziel sich auf gemeinsame qualitative Ziele zu einigen. Dies war um einiges anspruchsvoller, ich musste meine Zermürbungstaktik bis in den späten Sonntagnachmittag hineinziehen. Doch auch hier erreichten wir gemeinsam das erwünschte Ergebnis, die Definition der qualitativen Ziele.
Nun kamen wir zum dritten Element, mit dem ich Brücken bauen und zugleich die Führungskrise beenden wollte. Es galt den Vertriebsleiter zu finden, der die o. g. Anstellungskriterien zu erfüllen imstande wäre. Frei nach dem Motto: Gemeinsame Kriterien sind schön – doch wer entscheidet, ob diese erfüllt sind.
In einer stürmischen Sitzung konnte ich beiden Gruppen eine richtungsweisende Entscheidung abtrotzen. Die Mitarbeiter durften sich ihren Chef aussuchen, das Management hingehen die Quantität der Ziele festlegen. Meine Entscheidung, mit einem gemischten Ansatz aus Partizipation und Hierarchie zum Ziele zu kommen, hatte zum Erfolg geführt. Das dahinterliegende Credo: Freiheit und Verantwortung sind zwei Seiten einer Medaille und sind miteinander vergesellschaftet. Nicht umsonst hat Frankl den Bau einer Verantwortungsstatue initiiert…
In der Retrospektive zeigten sich die Maßnahmen erfolgreich. Die Mitarbeiter bekamen IHREN Chef, das Topmanagement einen Vorgesetzten, der IHRE Ziele erreichte. Mitarbeiterfluktuation und Umsatz entwickelten sich positiv.
Das Fazit: Hierarchie und Partizipation können als Kampfbegriffe verwendet werden. Es geht jedoch auch anders. Beide Begriffe lassen sich Ausdruck eines mit Menschenverstand und Augenmaß gelebten Miteinanders verstehen. Beide Seiten mussten lernen aufeinander zuzugehen und von ihren Maximalforderungen abzurücken. Eigentlich ganz simpel, oder?
Herzliche Grüße
Bodo Antonic
Aus dem Leben eines Interimmanagers: Fall #1
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