Mit diesem Beitrag beginnen wir eine neue Serie: Im Fokus. Hier stellen wir spannende und inspirierende Menschen vor, die in der einen oder anderen Weise wichtige Beiträge für die Erneuerung unserer Arbeitswelt leisten. Dabei spielt es für uns keine Rolle, ob diese Menschen selbstständig oder angestellt tätig sind. Wichtig ist uns nur eine kontinuierliche und glaubwürdige Auseinandersetzung mit den Herausforderungen neuer Arbeit. Wir beginnen mit dem deutschen Wahlösterreicher Christian Rüther, der aus unserer Sicht einer der besten Kenner der alternativen Organisationsmodelle Soziokratie, S3 (Soziokratie 3.0) und Holacracy ist.
Andreas: Lieber Christian, herzlichen Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast für dieses Interview. Am Anfang sollten wir Dich und Deine berufliche Person kurz unseresn Leser*innen vorstellen, auch wenn Dich schon so manche kennen, aber sicher nicht alle: Wer bist Du, woher kommst Du und wohin gehst Du?
Christian: Ich kann mal ein paar Selbstbeschreibungen versuchen: professioneller Weltverbesserer, Soziokratie-Missionar, Christ ohne Konfession, freier Mitarbeiter Gottes, zertifizierter GFK-Trainer (Gewaltfreie Kommunikation), Unternehmens-Muse und sozialer Architekt, politischer Aktivist und freier Wissensverteiler. Im Moment bin ich etwas in der Transformations- und Findungsphase. Mein Hauptschwerpunkt ist weiterhin die KonsenT-Moderation und Soziokratie, dazu kommt noch a bissi Gewaltfreie Kommunikation. Ich möchte als sozialer Architekt dazu beitragen, dass Mit-Arbeiter zu Mit-Unternehmern werden und mit viel Freude zur Arbeit gehen und möglichst viel selbst entscheiden können (Subsidaritätsprinzip). Irgendwann möchte ich auch politisch aktiv werden, aber das wird noch ein paar Jahre dauern. Im Moment interessiert mich sehr die christliche Mystik und ein zeitgemäßer Zugang zu einer Art Patchwork-Christsein, aber das gehört nicht so ganz in dieses Interview. Wer sich für mehr interessiert, findet auf meiner Website Weiteres.
Andreas: Danke Dir, das klingt nach einer spannenden Entwicklung. Dann drück ich schon mal die Daumen für die Transformationsphase. Wie war das denn in Deiner Erwerbsbiografie: Warst Du schon immer selbstständig? Wenn ja, wie kam es? Wenn nein, wo warst Du angestellt und was waren dort Deine Erfahrungen und was hat Dich dann in die Selbstständigkeit gebracht?
Christian: Ich komme aus einer Beamtenfamilie. Meine Vater war Beamter, mein Großvater väterlicherseits, zwei meiner Onkels sind bei der Polizei, meine Schwester ist Beamtin und mein Neffe geht jetzt auch den Weg. Insofern bin ich etwas aus der Art geschlagen, obwohl ich auf dem Weg dorthin war. Ich habe Lehramt Deutsch/Geschichte studiert, allerdings schon früh gemerkt, dass ich nicht in diesem System arbeiten möchte. Mein Studium hat sicherlich so lange gedauert, weil ich nicht wusste, was ich stattdessen machen wollte. Ich hatte die Gewaltfreie Kommunikation gelernt und dachte mir: “Wenn ich die Zertifizierung dort schaffe, werde ich Trainer!” Zum Glück klappte es und ich war dann “Lehrer” für Erwachsene in einem anderen Setting. Damit hat meine Selbstständigkeit begonnen, also nicht sonderlich romantisch, sondern eher pragmatisch. Direkt nach dem Abitur habe ich eine Banklehre bei der Deutschen Bank gemacht in den frühen 90er Jahren. Das war sehr lehrreich und fein, mal weg von der Schule in das Erwerbsleben in einem größeren sozialen Kontext. Ich arbeite viel allein als EPU, das passt, allerdings wächst auch der Wunsch, mich da sozial zu verbinden mit Gleichgesinnten, gemeinsam etwas aufzubauen. Wesentlich waren noch vier sehr aktive Jahre in der Gemeinwohl-Ökonomie, wo ich zwei kleine Teams moderiert und mit-organisiert habe. Da habe ich erlebt, dass die Prinzipien der Soziokratie wirklich funktionieren. Daher bin ich etwas verwöhnt und möchte nur in einer Organisation mit-arbeiten, in der ich auch mit-entscheiden kann.
Andreas: Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Die mangelnde Partizipation, die ich während meiner Angestelltenzeit erlebte, war ja einer der maßgeblichen Gründe für meine Selbstständigkeit der letzten 16 Jahre.
Ich habe Dich ja vor ein paar Jahren als beeindruckenden Experten in Sachen Soziokratie und damit auch Holacracy kennengelernt. Du hattest mich seinerzeit, als ich an meinem letzten Buch arbeitete, zu dem Thema unterstützt. Wie bist Du eigentlich auf die Soziokratie gekommen und was war der Auslöser, dass Du begonnen hattest, Dich so intensiv damit zu beschäftigen?
Christian: Ich bin seit 2005 zertifizierter GFK-Trainer und die Mutterorganisation das Center for Nonviolent communication (CNVC), das von Marshall Rosenberg gegründet wurde, hatte schon 1-2 Jahre später mit der Soziokratie experimentiert und leider nicht ganz implementiert. So war das Thema in der GFK-Szene zumindest angekommen. Isabell Dierkes hat dann Pieter van de Meche vom Soziokratiezentrum in den Niederlanden zu einigen Seminaren nach Deutschland eingeladen. Eine GFK-Kollegin aus Wien war total begeistert und dann habe ich da fünf Tage in München besucht und wurde angesteckt. Zu der Zeit gründete sich das Soziokratiezentrum in Deutschland und ich durfte mitmachen…
Für mich ist die Soziokratie die perfekte Ergänzung oder Alternative zur GFK auf der Ebene von Gruppen und Organisationen: Wie finden wir Lösungen, die für alle passen?
Es ist ein sehr pragmatischer und teilweise auch technischer Zugang, der eine gute Orientierung liefert und für alle lernbar ist und einfach funktioniert, wenn man/frau sich an die Struktur hält. Das hat mich damals begeistert und erfreut mich heute immer wieder, wenn ich sehe, dass es klappt.
Andreas: Was war denn für Dich persönlich die bislang größte Herausforderung im Zusammenhang mit der Soziokratie?
Christian: Auf der Kundenseite gab es zwei Projekte oder Moderationen, die besonders herausfordernd waren.
Zum einen ein Alt-68-Wohnhausprojekt mit basisdemokratischen Hintergrund. Eine Sitzung habe ich sehr streng moderiert, fast schon diktatorisch z.B. “Wir sind jetzt 25 Leute. Wenn jeder was sagt, sind morgen noch nicht fertig. Bitte nur Wortmeldungen, die etwas Neues bringen!” Ich habe sehr rigoros auf die Struktur geachtet und wir haben zwei Beschlüsse getroffen und einen gut vorbereitet. Da gab es einen schwerwiegenden Einwand, weil es zu schnell ging und einige nochmal drüber schlafen wollten. 🙂 Nachher waren einige sehr zufrieden und gleichzeitig muss es für sie wie der Besuch eines Parallel-Universums gewesen sein, weil nachher haben sie wieder ihre alten Strukturen und Gewohnheiten gepflegt.
Das andere war ein ständig wechselndes Team, das darüber entscheiden sollte, ob es mit der Soziokratie weitergeht. Jetzt war die Gruppe auch zu groß und nach der ersten Meinungsrunde gab es kein einheitliches Bild. Ich war zu sehr auf den Geschäftsführer fixiert und wollte mit ihm einen Vorschlag erarbeiten, aber das wäre in der Pause auch schief gegangen. Wenn du nicht weiter weißt als Moderator, mach ne Meinungsrunde. Und das habe ich dann getan. Da habe ich gemerkt, wie wichtig bei neuen Themen die zweite Meinungsrunde ist und dass ich der Gruppe vertrauen kann.
Das Vertrauen in die Struktur hilft sehr, auch in schwierigen Situationen.Auf der anderen Seite reicht das allein nicht aus und die Soziokraten sind auch nur Menschen. Es gab von Holland aus eine internationale soz. Dachorganisation das TSG. Dort saßen fast ausschließlich etablierte Soziokratie-Berater jenseits des 60. Lebensjahres mit einer bestimmten Vorstellung, wie die Soziokratie verbreitet werden sollte. Da war es selbst mit dem schwerwiegenden Einwand schwer, etwas Neues in die Welt zu bringen oder die Strukturen zu ändern, weil die erste und zweite Generation von Soziokraten so starr war. Das hat sicherlich auch dazu geführt, dass z.B. Sociocracy 3.0 sich entwickelt hat als eine Antwort jenseits des offiziellen Systems und auch Sofa http://sociocracyforall.org/
Gleichzeitig reicht die Struktur allein nicht aus. Es braucht offene Menschen im System, sowohl auf der Führungsebene als auch bei den Mitarbeitern. Es braucht die Bereitschaft, die eigenen Vorstellung auch loszulassen, für den Moment, um gemeinsam eine Lösung zu finden, die uns in Richtung unserer
Vision bringt. Das ist in der offiziellen internationalen Soziokratie-Struktur nicht gelungen.
Auf der Kundenseite gab es einige Implementierungsprojekte die an dem fehlendem Vertrauen oder Verständnis der obersten Führungskraft gescheitert sind. Einige waren von Anfang an hin und her gerissen, ob es funktionieren kann, andere zu unsicher gegenüber der zweiten Führungsebene, wieder ein anderer zu sehr Patriach, als dass er wirklich loslassen und vertrauen konnte.
Jetzt arbeite ich gerade in zwei Projekten, in denen der Geschäftsführer und die Bereichsleiterin 100% dahinter stehen, auch wenn es weh tut. Das tut gut und führt zum Erfolg. Es ist ein 10.000 Meter-Lauf, kein Sprint und kein leichtes Unterfangen, weil wir so sehr an die hierarchische Struktur gewohnt sind und es in den Knochen steckt. Auf beiden Seiten. Als Führungskraft und als Mitarbeiter. Also die Struktur allein reicht leider doch nicht aus.
Andreas: Danke Dir für diesen ersten Einblick in Deine berufliche Praxis. Da bekomme ich wieder mal den Eindruck, dass die Methode alleine eben nicht alles ist.
Christian: Genau, aber ohne klare Methode oder zumindest ein gutes Prozessdesign ist jar nischts da. Mensch und Methode gehören zusammen oder es braucht Menschen mit einem offenen Geist und der Bereitschaft zu lernen und flexibel zu sein.
Andreas: Dem pflichte ich bei, insofern wir Methode im ursprünglichen Sinn einfach als einen Weg hin zu einem Ziel betrachten. Ich glaube dabei aber nicht, dass die Methode einen Namen haben muss, geschweige denn ein Trademark á la Holacracy. Denn das führt schnell zum Weiterbildungstourismus unter Ausschaltung des eigenen kreativen Verstands, selber eigene Wege – sprich: Methoden – zu finden.
Jetzt würde ich den Blick mit Dir gerne auf eine Frage lenken, die im Kontext neuer Organisationsmodelle und Arbeitsformen immer wieder aufkommt: Braucht es eine reife Belegschaft, um nachhaltig Selbstorganisation, New Work und so weiter zu etablieren? Du sagtest eben ja, dass es offene Menschen im System brauche.
Christian: Jein :-). Wichtig ist eine möglichst reife oberste Führungskraft, die dahinter steht, zumindest am Anfang.Das hatte ich oben schon beschrieben. Ansonsten ist es wichtig, dass die Mitarbeiter offen genug dafür sind und es Räume zum Lernen gibt. So kommt es zu einer Nachreifung oder Entwicklung auf der kulturellen und persönlichen Ebene, je nachdem wo die Kultur oder Menschen vorher standen. Für eine nachhaltige Selbstorganisation, also eine langfristiges Funktionen braucht es sicherlich reife Menschen, eine passende, gelebte Kultur und ein ausgereiftes System, das jetzt je nach Unternehmen auch angepasst und maßgeschneidert ist. Das braucht Zeit und Entwicklung auf allen Ebenen.
Andreas: Was verstehst Du denn dann unter Reife bei einzelnen Personen und Organisationen? Was sind Deine Erfahrungen bezüglich des Zeithorizonts bei Transformationen, den Du angesprochen hast? Ich erleben da leider immer wieder eine gewisse Ungeduld seitens der Auftraggeber…
Christian: Vielleicht passt Mindset besser als Reife, weil “Reife” so hierarchisch klingt und leicht abwertend verstanden werden kann. Bei einer Organisation haben wir seit gut einem Jahr die KonsenT-Moderation. In einer Meinungsrunde macht der Geschäftsführer 2-3 Vorschläge, wie das Problem gelöst werden könnte. Ein Bereichsleiter sagt später im Nachklang: “Ja, wenn die Geschäftsführung das so sieht, dann müssen wir das auch so machen!” Dieser Bereichsleiter ist noch im Mindset der Hierarchie und da ist noch nicht angekommen, dass wir auf Augenhöhe entscheiden, das Argument oder die gute Lösung zählt und nicht von wem der Vorschlag kommt. Das hierarchischen Denken ist unterschiedlich stark in unseren Zellen drin und daher braucht auch der Prozess der Reifung oder der Mindset-Transformation viel Zeit. Je nach Ausgangslage zwischen 2-10 Jahre :-). Wie oben schon gesagt, es ist ein 10.000 Meter-Lauf oder Marathon…
In einem anderen Projekt, eine sehr hierarchischen NPO, haben sie ca. zwei Jahre gebraucht, um sich mal über verschiedene alternative Organisationsmodelle zu informieren und ihren nächsten Schritt zu planen. Jetzt haben sie eine Kreisstruktur mit KonsenT implementiert und nach zwei Jahren wird evaluiert. Wir sind jetzt im ersten Jahr und die alten Strukturen sind immer noch jenseits der Kreise und in den Köpfen/Herzen der Menschen. Es braucht viele positive neue Erfahrungen, damit das Vertrauen in die neue Struktur wachsen kann. Beide Geschäftsführer stehen wirklich mit dem Herzen hinter der Neuausrichtung und dennoch braucht es Zeit…
Zur persönlichen Reife, jetzt bleib ich doch bei dem Wort, gehört auch eine gewissen soziale und kommunikative Kompetenz oder Lernbereitschaft. Es geht darum, schwierige Dinge anzusprechen, den Mut aufzubringen, meine Wahrheit zu sagen und immer auch eigene Anteile zu sehen, also zu schauen: “Hey, was hat das mit mir zu tun und wie kann ich dazu beitragen, dass es jetzt im Sinne des großen Ganzen gut funktioniert.”
Andreas: Oh ja, schwierige Dinge angemessen ansprechen, das ist eine zentrale Fähigkeit für gelungene Transformationen. Wir sprechen da in Anlehnung an eine Grazer Kollegin von der Radikalen Besprechbarkeit. Sie ist bei unserem priomy CultureCheck eine der maßgeblichen Dimensionen, um den Stand der Selbstorganisation in einem Unternehmen zu erkunden.
Zum Abschluss: Was wünscht Du Dir für die Zukunft der Arbeit und was für Dich?
Christian: In Zukunft sollte Arbeit mehr Freude machen und wirklich zum gesellschaftlichen Wandel beitragen. NewWork ist für mich ein Anfang in eine gute Richtung, hin zu mehr Sinn, Partizipation, Menschlichkeit und eine ausgewogene Balance zwischen Erwerbsarbeit und den restlichen Freuden des Alltags. Ich wünsche mir, dass es nach dem Aufbruch auch ans Eingemachte geht, an die Macht. Also dass Entscheidungen delegiert oder gemeinsam im KonsenT getroffen werden und dass auch die Mit-Arbeiter formell zu Mit-Eigentümern werden, sie die Früchte ihrer Arbeit auf der Eigentümer-Ebene genießen können.
Für mich persönlich wünsche ich, dass ich noch mehr Klarheit für meinen beruflichen Weg bekomme. Es geht stark in Richtung “Sexy Soziokratie”: Wie kann ich die Kraft und Schönheit dieses Weges noch sichtbarer machen und anziehender. Dazu gehört auch das Verstaubte und Sperrige zu ersetzen. S3 ist da auf einem guten Weg… Da mag ich gerne weiter forschen und praktisch experimentieren. Und natürlich immer wieder das innere Glück spüren, das mich derzeit recht häufig besucht.
Andreas: Vielen Dank Christian für Deine Zeit und Bereitschaft, hier bei uns über Dich zu sprechen. Wir bleiben natürlich weiter in Verbindung und wünschen Dir alles erdenklich Gute für die Zukunft.
Herzliche Grüße
Andreas
Literatur
- Rüther, C. (2019): Gruppenenentscheidungsverfahren für Teams. Zeitschrift für Organisationsentwicklung, 2/2019
- Rüther, C. (2018): Soziokratie, Holakratie, S3, Frederic Laloux “Reinventing Organizations” und “New Work. Kostenlose PDF Version des Buches.
Bildnachweis
- Beitragsbild: ©Johanna Weisshuhn, Nutzungsrecht Christian Rüther, mit freundlicher Genehmigung
- Bilder im Text: ©Aleksandra Pawloff, Nutzungsrecht Christian Rüther, mit freundlicher Genehmigung