Zunächst wünschen wir Euch allen für das neue Jahrzehnt alles Gute, tolle Entwicklungen, fruchtbare Erkenntnisse, inspirierende Überraschungen und zunehmende Freude bei der Arbeit. Zum Einstieg nicht nur ins neue Jahr, sondern gleich in die 20er Dekade teile ich ein paar Gedanken zum neuen Jahrzehnt mit Euch.
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts
Wer nach den wichtigsten Herausforderungen unseres Jahrhunderts sucht, findet verschiedene Kandidaten. Wie nun genau die jeweiligen großen Menschheitsaufgaben in eine Reihenfolge ihrer Dringlich- und Wichtigkeit gebracht werden, ist wohl nur schwer objektivierter. Zumal natürlich die großen Aufgaben auch auf vielfältige Weise miteinander zusammenhängen und negative wie positive Rückkopplungen über verschiedene Dauern aufweisen. Den menschlich verursachten Klimawandel, den wir, wie Ihr Euch denken könnt, als gegeben ansehen, führt zum Beispiel zu Landverlust, der wiederum zu weiterer Migration führen wird. Letztere wird wiederum durch das weitere Wachsen der Weltbevölkerung beschleunigt. Damit steigen auch die Herausforderungen einer globalen Wasserversorgung. Und so weiter und so fort.
Somit erhebe ich mit der folgenden, kurzen Liste der großen Herausforderungen keinerlei Anspruch an Vollständigkeit. Des Weiteren ist die Reihenfolge keine Aussage über die Dringlich- und Wichtigkeit.
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Klimawandel & Artensterben
- Landverlust & Migration
- Bevölkerungswachstum & Ernährung
- Wasserversorgung
- Einkommens- & Vermögensschere
- Demokratieabbbau & internationaler Rechtspopulismus
- Geostrategische Neuordnung & atomares Risiko
- Digitale Transformation & Neue Arbeit
1. Klimawandel & Artensterben
Ich werde hier nicht lange argumentieren, warum ich von einem menschlich verursachten Klimawandel ausgehe. Jeder halbwegs vernünftige Mensch kann sich durch abertausende wissenschaftliche Ergebnisse wühlen und sich selbst davon überzeugen. Eines scheint mir aber auch gegenüber den Klimaskeptikern ein wichtiges Argument: Selbst wenn wir probeweise die klimatischen Entwicklungen und ihre Folgen ernsthaft in Frage stellen, müssten wir zwei mögliche Risiken gegeneinander abwägen: Einerseits die Folgen unserer Maßnahmen gegen den Klimawandel wie die Mobilitäts- und Energiewende, die Transformation industrieller Landwirtschaft in eine klimaverträgliche Bodenbewirtung und dergleichen mehr. Andererseits die Folgen des Verzichts auf diese Maßnahmen und das damit einhergehende Risiko eines sich potentiell beschleunigenden Klimawandels.
Das unfassbar Dämliche am ganzen rechtspopulistischen Klimawandel-Skeptizismus besteht nicht nur in der ignoranten Faktenleugnung, sondern dass dort die eben erwähnten Risiken erst gar nicht gegenüber gestellt werden, was leider nicht nur Rechtspopulist*innen versäumen, sondern auch liberale Politiker*innen. Wir können nicht nur das Risiko von Arbeitsplatzverlusten mantrahaft wiederholen, wenn beispielsweise ein früher Austritt aus der fossilen Energiegewinnung umgesetzt würde, sondern wir müssen dieses Risiko den möglichen Folgen gegenüberstellen, wenn wir nicht auf den Klimawandel reagieren und mehr oder minder weiter machen wie bislang. Soviel zu der überaus differenzierten und intelligenten liberalen Darlegung, dass wir nicht „unbesonnen“ auf den Klimawandel reagieren dürften.
Nicht minder fraglich ist die Technikgläubigkeit, die sich besonders gerne bei demselben letzteren politischen Personenkreis findet, bei uns also bei der FDP. Als ob dort noch nie jemand etwas vom Reboundeffekt gehört hätte. Dass neue Technologien oder Lösungsversuche teils nicht nur keinen Fortschritt in Sachen Klimawandel bringen, sondern das Ganze sogar noch schlimmer machen können (Backfire-Effekt), scheint bei den Damen und Herren nicht angekommen zu sein. Das einfachste Beispiel ist der Ausbau von Straßen mit weiteren Spuren, um Staus aufzulösen – was im Allgemeinen dazu führt, dass der Verkehr zunimmt und es früher oder später wieder zu Staus kommt. Womit der Kraftstoffverbrauch nicht reduziert, sondern in Summe gesteigert wird, denn jetzt sind deutlich mehr Autos auf den Straßen, als noch mit ein oder zwei Spuren weniger. Das zeigt aktuell wieder eine neue Studie aus den USA: “Zwischen 1993 und 2017 wuchs die Kapazität der Freeways in den 100 größten städtischen Gebieten der USA laut einer Untersuchung der Organisation “Transportation for America” (T4A), die sich für ein besseres Straßen- und Transportsystem in den USA einsetzt, um 42 Prozent. … Die Bevölkerung dieser Ballungsräume wuchs im gleichen Zeitraum laut T4A nur um 32 Prozent. Trotzdem stieg die Anzahl der durch Staus jährlich verlorenen Stunden laut T4A von 1993 bis 2017 um 144 Prozent.” (N.N. (2020) Spiegel Online).
Drittens argumentieren Klimaskeptiker mit einem überaus brillanten und sozialen Freiheits- und Toleranzbegriff. Wie muss mensch gestrickt sein, um es ernsthaft für eine nennenswerte Freiheit zu halten, mit 270 über deutsche Autobahnen rasen oder jeden Tag sein Fleisch verspeisen zu dürfen. Abgesehen davon, verschweigen die Protagonisten klimazerstörerischen Verhaltens wohlfeil, dass sie nicht die Eigentümer der Ressourcen sind, die sie für ihren eigenen egomanen Lustgewinn verbrauchen oder zerstören. Mein Argument ist an dieser Stelle immer wieder dasselbe: Sobald wir über Gemeingüter reden, braucht niemand mit einer dummdreisten Pseudotoleranz daherkommen und behaupten, er wäre Vegetariern, Fahrrad- oder Langsamfahrern gegenüber tolerant, ergo hätten die gefälligst sein Verhalten auch zu tolerieren. Dem gegenüber kann es nur eine klare Absage geben. Weder ich noch sonst wer muss Raserei oder Massentierhaltung tolerieren, denn sie vernichten mehr Gemeingüter, als Menschen, die diesem Hedonismus nicht fröne, wie ich schon früher in meinem Beitrag Tempolimit, Fleischkonsum und falsch verstandene Freiheit klarstellte.
Genau an dem Punkt kommt die Unternehmensdemokratie ins Spiel: Denn es geht ihr um viel mehr, als einfach nur die Arbeit durch Selbstorganisation effektiver und effizienter zu gestalten; es geht ihr auch um mehr, als das natürliche Recht auf Selbstbestimmung organisational zu realisieren. Es geht eben auch darum, die hier äußerst kurz skizzierte ökologische Komponente organisationalen Handelns im Sinne des Gemeinwohls zu organisieren. Und diesen Prozess stetig zu verbessern.
2. Demokratieabbau & internationaler Rechtspopulismus
Wieviele Staaten präsentieren sich stolz als Diktatur? Oder als totalitäres System, das all seine Bürger*innen 24/7 überwacht und bestraft, sobald sie sich nicht den geforderten Normen gemäß konform verhalten? Ich kenne nicht allzuviele. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Auch teils diktatorisch agierende Staatsführer á la Erdogan gerieren sich mit allergrößter Selbstverständlichkeit als Hüter der Demokratie. Das war nicht immer so. Heute jedoch gehört es zum guten politischen Ton, demokratisch organisiert zu sein und den Bürger*innen zumindest auf dem Papier das Recht einzuräumen, die eigene Regierung zu wählen. Nur so erscheinen sie in ihren jeweiligen Regierungsfunktionen legitimiert, gerade auch in den Augen anderer Regierungen und Staatsangehöriger.
Kurzum: Demokratische Staatsformen haben seit der Gründung der englischen, amerikanischen und französischen Demokratie kontinuierlich zugenommen. Einerseits scheint die Demokratie also ein politisches Erfolgsmodell zu sein.
Andererseits erleben wir eine wachsende Unterhöhlung von Demokratien weltweit im Zusammenhang mit international auftretendem Rechtspopulismus: Brasilien (Bolsonaro), Deutschland (Höcke, Gauland etc.), Frankreich (Le Pen), Italien (Salvini), Niederlande (Wilders), Österreich (Kurz/Strache), Polen (Kaczynski), Ungarn (Orban), USA (Trump), etc. Mittlerweile werden auch die USA, die sich selbst mit allergrößter Selbstverständlichkeit als internationale Demokratiepolizei inszenieren, von der Economist Intelligence Unit in deren Demokratieindex als unvollständige Demokratie geführt, ebenso wie Frankreich (Demokratieindex 2018). Es stand also schon einmal besser um die weltweite Demokratie, der Demokratieindex 2017 kam zu den schlechtesten Ergebnissen seit 2010. Die letzte Dekade seit dem war nicht gerade eine ermutigende positive Entwicklung.
Dies wird glücklicherweise kontrastiert von einer international zu beobachtenden, wachsenden politischen Beteiligung bei den jeweiligen Staatsangehörigen: Die Demokratiebewegung in Hongkong, die international fast schon explodierte F4F, XR und andere, Proteste und Demonstrationen in Südamerika (Argentinien, Chile, Ecuador, Venezuela etc.) und so weiter. Natürlich sind die Anlässe oft höchst problematisch (siehe zum Beispiel Klimawandel und Artensterben), aber es gehen zunehmend mehr Bürger*innen auf die Straße, um ihren Unmut und ihre Forderungen sichtbar zu machen und dafür einzustehen – auch wenn die jeweiligen Vorgehensweise nicht selten ihrerseits schwierig sind.
In diesem großen Zusammenhang sehe ich die Demokratisierung der Arbeit. So, wie demokratische Teilhabe und Partizipation im gesellschaftspolitischen Kontext wichtiger wird, so plädiere ich dafür, abhängige Arbeitsverhältnisse, wie wir sie als Norm heutiger Arbeitsbedingungen kennen, zu hinterfragen. Denn in diesen Arbeitsverhältnissen werden systematisch ansonsten breitflächig gewünschte demokratische Grundrechte wie Meinungsfreiheit ausgehebelt und fundamentale Gestaltungsmechanismen, wie die demokratische Legitimation von Macht, anders behandelt. Aus meiner Sicht klafft eine problematische Lücke zwischen der allgemeinen Entwicklung hin zu mehr Demokratie, während innerhalb dieses gesellschaftspolitischen Systems Organisationen weiterhin größtenteils gemäß des Konzepts der heiligen Rangordnung (hierarchia) organisiert werden.
3. Einkommens- und Vermögensschere
Bereits vor elf Jahren erschien die deutsche Ausgabe des großartigen Buchs „Gleichheit ist Glück“ des Wirtschaftshistoriker Richard Wilkinson und der Anthropologin und Epidemiologin Kate Pickett: „In einem Statistikkraftakt belegen sie die Zusammenhänge der Einkommensungleichheit mit den unten aufgeführten Bereichen. Dazu untersuchten sie die Daten von 23 wohlhabenden Ländern wie Australien, Deutschland, Großbritannien, Israel, Japan, Norwegen, Portugal, Schweden, Schweiz und den USA. Tatsächlich hat die Einkommens(un)gleichheit eines Landes einen viel größeren Einfluss auf eine Menge Faktoren als der banale Wohlstand. Konkreter: Die Einkommensungleichheit steht in kausalem Zusammenhang zu folgenden Bereichen:
- Gemeinschaft, Vertrauen und soziale Beziehungen
- Seelische Gesundheit und Drogenkonsum
- Gesundheit und Lebenserwartung
- Fettleibigkeit
- Schulische Leistung
- Teenagerschwangerschaften
- Gewalt
- Gefängnis und Bestrafung
- Soziale Mobilität“ (Zeuch 2012)
Und diese Unterschiede wurden seitdem – sehr, sehr vorsichtig und konservativ betrachtet – nicht verringert. „Seit dem Jahr 2005 schwanke die Ungleichheit in den verfügbaren Haushaltseinkommen auf einem nahezu unveränderten Niveau und sei nach aktueller Datenlage im Jahr 2017 auch nicht signifikant höher gewesen als im Jahr 2009. Auch die Verteilung des Nettovermögens sei stabil.“ (rai/dpa2020) Wobei dieses Ergebnis des Instituts der deutschen Wirtschaft durchaus in Frage gestellt werden kann. Zu einem anderen Ergebnis kommt zum Beispiel das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Deren Studie von 2019 verwies auf eine zunehmende Einkommensschere.
Das ist allerdings definitiv keine gute Nachricht. Denn somit haben wir weiterhin alle mit Ungleichheit assoziierten Probleme, die Wilkinson und Pickett nachgewiesen haben. Diese finanzielle Ungleichheit finden wir auf zwei Ebenen: Einkommen und Vermögen. Was Letzteres betrifft, hat die Unternehmensdemokratie nur bedingt Antworten. Nämlich nur dann, wenn die Eigentumsverhältnisse so geregelt sind, dass alle Personen der Belegschaft zumindest die Möglichkeit haben, Anteile am Unternehmen zu erwerben. Oder wenn das Unternehmen durch die Konstruktion eines (sozialen) Stiftungsunternehmens sich selbst gehört.
Dafür bedeutet Unternehmensdemokratie für die (Un)Gleichheit des Einkommens jedoch eine für alle faire Einkommenssituation. Das heißt natürlich nicht, dass alle nur ein Einheitsgehalt beziehen dürfen, so wie das zB bei der Firma Faust Translations sárl in Luxemburg der Fall ist. Dort erhalten sogar die Geschäftsführer dengleichen Betrag wie (fast) alle Angestellten, denn zwei Mitarbeitende erhalten mehr als die Geschäftsführer. Was aber auf jeden Fall in einem demokratisch verfassten Unternehmen verpönt wäre, sind die exorbitanten Spannen zwischen den durchschnittlichen Gehältern der Mitarbeitenden und dem Topmanagement, wie wir es als Regel aus börsennotierten, multinationalen Konzernen kennen.
Somit kann die Unternehmensdemokratie also auch in diesem sehr wichtigen Bereich für den Zusammenhalt einer Gesellschaft einen substanziellen Beitrag leisten.
Herzliche Grüße
Andreas
Literatur
- Demokratieindex (2018)
- Demokratieindex (2017)
- Lichterbeck, P., Ismar, G. (2019): Massenproteste, Gewalt, Tote – was ist los in Südamerika. Tagesspiegel
- rai/dpa (2020): Vermögen und Einkommen bleiben gleich ungleich. Spiegel Online
- N.N. (2020): Warum breitere Straßen nicht gegen Stau helfen. Spiegel Online
Bildnachweis
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- Friedhof ausgestorbener Tiere: ©Shizao, CC BY-SA 3.0
- Stau: pixabay 2020, lizenzfrei
- Erdogan: ©US Department of State, gemeinfrei