Führungskräftewahl: “Chefsessel für alle.” Eine Replik

Führungskräftewahl - ein erfolgreiches Konzept der Unternehmensdemokratie?

Führungskräftewahl: Am 16. September erschien in der Rubrik Wirtschaft der Süddeutschen Zeitung der interessante Artikel “Unternehmensdemokratie: Chefsessel für alle” (erfreulich dabei auch: Endlich wurde das Thema nicht groteskerweise in die Rubrik “Karriere” eingeordnet). Die verantwortliche Journalistin Felicitas Wilke hatte sich für diesen Artikel auch bei mir zu einem Interview gemeldet, da sie wissen wollte, wie ich die Situation bei Haufe-umantis mit dem Ende der Führungskräftewahlen einschätze. Hier nun meine Replik auf die verschiedenen dort zitierten Sichtweisen der anderen Gesprächspartner*innen.

Es ist wenig überraschend, dass Haufe-umantis nun, nach einer langen, intensiven Medienkampagne für ihre Führungskräftewahl dieses Experiment beendet. Denn sie sind nicht die ersten, die damit am Ende mehr Nach- als Vorteile hatten. Auf einige der Probleme des Konzepts der Führungskräftewahl wies ich schon 2017 in meinem Beitrag “Wähl den Chef. Fortschritt oder Rückschritt?” hin. Die kollektive Intelligenz zeigt: Es gibt indes noch mehr Probleme, als ein Einzelner sie im Vorfeld vermutete.

Ausgangspunkt: Führungskräftewahl

Der Ausgangspunkt für Wilkes Beitrag war die ehemalige Führungskräftewahl bei dem schweizstämmigen Softwareentwickler Haufe-umantis. Dieses Unternehmen hatte ich bereits 2015 in meinem letzten Buch “Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten” in einem eigenen Fallbeispiel ausführlich beschrieben (ebnd.: 106-123).  Joachim Ratzinger, Verwaltungsrat des Unternehmens, Managing Director der Businessgroup Corporations bei Haufe Group sowie einer der Geschäftsführer der Haufe Lexware GmbH & Co. KG stellt klar, das dies “… ein paar Jahre lang super funktioniert (hat), weil die potenziellen Führungskräfte sich wirklich Gedanken über ihr Programm und ihre Ziele gemacht haben.” (Wilke 2020). Und so war auch die konzeptionelle Argumentation vom damals bereits gewählten CEO Marc Stoffel sowie seines Vorgängers und Initiators der Führungskräftewahl, Hermann Arnold, durchweg plausibel:

Haufe-umantis ist eines der ausführlichen Fallbeispiele in meinem letzten Buch.

1. Klärung der Führungszusammenarbeit. Der Prozess, der vor der Wahl ausgelöst wird, führt dazu, dass sich Kandidaten und Wähler gleichermaßen Gedanken darüber machen müssen, was sie wie erreichen wollen. … Sie gehen raus aus der Passivität in eine aktive Führungsmitgestaltung. Alle Beteiligten werden also dazu gebracht, sich mit der Qualität der Führungszusammenarbeit auseinanderzusetzen.

2. Macht zur Abwahl. Wählen können heißt immer auch abwählen können. … Im Unternehmen hat die Möglichkeit der Abwahl wichtige Konsequenzen, erläutert Arnold: »Allein dass ich weiß, einen schlechten Vorgesetzten im Laufe des nächsten Jahres abwählen zu können, erlaubt vielen Leuten, viel besser mit einem schlechten Vorgesetzten umzugehen. Es ist leichter, wenn man weiß, dass die Führung temporär ist.«

3. Persönlichkeitsentwicklung: Der Prozess nach der Wahl führt zu weiteren wichtigen Vorteilen: Wahlkandidaten, die die Wähler nicht überzeugen konnten, oder Führungskräfte, die in ihrem Amt nicht bestätigt wurden, müssen sich mit diesem Ergebnis auseinandersetzen.

4. Führungskräfteentwicklung: Hermann Arnold kann aus seiner eigenen Erfahrung berichten, was passiert, wenn man sich aus einer ehemaligen Führungsposition zurück in die Linie begibt. »Ich leite dieses Team. Dann gehe ich zurück in das Team, wenn es jemand anderes leitet. Es ist spannend, was da bei mir passiert ist.« …

5. Ein neues Karrieremodell: Das normale Karrieremodell ist die Kaminkarriere … Es ist völlig undenkbar, unter einem Mitarbeiter, den man eine Zeitlang geführt hat, wieder in die Linie zurückzugehen, um sich nun seinerseits von ihm führen zu lassen. Wenn dies einmal passiert, wird es als schwere Niederlage interpretiert. Dieses absurde Muster wird durch die Führungskräftewahl durchbrochen.” (Zeuch, A. (2015): 117ff)

Diese Idee der Führungskräftewahl wurde das erste Mal 2013 bei der Wahl des neuen CEO umgesetzt, als Hermann Arnold sich aus dieser Rolle zurückziehen wollte. Später wurde die Wahl der Spitzenführungsposition ausgeweitet auf die Wahl aller Führungskräfte und wurde nun 2019 beendet. Aber warum eigentlich?

Von der Führungskräftewahl zum Advice-Prozess

“Vor etwa einem Jahr hat die Firma den Advice-Prozess eingeführt. Haben Mitarbeiter eine Idee, müssen sie sich nur mit ihrer Führungskraft oder mit Kollegen absprechen, die mit dem Thema betraut sind. Solange niemand ein klares Veto einlegt, können sie ihre Idee direkt umsetzen. Die Geschäftsführung muss nicht zwingend eingebunden werden, es sei denn, es ist gesetzlich so vorgeschrieben.” (Wilke 2020). Somit wurde das demokratische Wahlprinzip durch deutlich direktere demokratische Selbst- und Mitbestimmung ersetzt. Die Beschäftigten müssen nicht mehr bis zur nächsten Wahl warten, um die Geschicke des Unternehmens mitzugestalten.

Joachim Rotzinger erläuterte die Hintergründe dieser wichtigen Änderung aus der Sicht des Unternehmens: Die Führungskräftewahl habe erstens dazu geführt, dass “… schwelende Konflikte nicht mehr direkt (geklärt), sondern auf die nächste Abstimmung verschoben (wurden) – gewissermaßen als Racheakt an der Wahlurne.” (ebend.). Zweitens konnte nicht mehr klar differenziert werden, wer denn eigentlich zur Wahl berechtigt ist. Denn die Mitarbeiter*innen von Haufe-umantis arbeiten über eigenen Unternehmensgrenzen hinaus auch mit Kolleg*innen aus anderen Unternehmen der Haufe-Gruppe zusammen. Was ist also mit diesem Personenkreis? Darf der wählen oder eher nicht? Eine durchaus fordernde Fragestellung. Wobei hier anzumerken wäre, dass andere Unternehmen diesbezüglich für sich eine klare Antwort gefunden haben, wie zum Beispiel Premium-Cola, bei denen alle Stakeholder wie Zulieferer und Kunden mitentscheiden dürfen. Was bis heute nicht zur Insolvenz geführt hat. Ein erweitertes Wahlrecht kann also durchaus funktionieren.

Prof. Dr. Michaela Moser von der Internationalen Hochschule IUBH ergänzte, es sei wohl kaum Altruismus, der zur Demokratisierung führe. Es läge vielmehr an zweierlei: Erstens brauche es nach der Verlagerung von Standardaufgaben ins Ausland oder nach deren Automatisierung die “Expertise vieler, die komplexe Aufgaben lösen müssen.” Und das schaffe schließlich “keine Führungskraft alleine.” (Wilke 2020). Zweitens seien Mitarbeiter*innen “anspruchsvoller und selbstbewusster (geworden).” (ebnd.) Laut Moser wollen sie “nicht mehr nach Befehl und Gehorsam arbeiten, sondern selbst ihren Beitrag leisten.” (ebnd.). Diese Argumentation ist indes fragwürdig: Zu 1) Komplexität ist nicht erst seit der Verlagerung von Standardaufgaben oder deren Automatisierung ein Problem, dass durch kollektive Intelligenz besser zu lösen ist, als durch das einsame Führungsgenie. Zu 2) Die Generalisierung, Mitarbeiter*innen wollten im Allgemeinen mehr Selbst- und Mitbestimmung ignoriert, dass es immer noch genügend Menschen gibt, die genauso weitermachen wollen wie ehedem. Was dann auch in den meisten Transformationsprozessen eine zu lösende Herausforderung ist. Und selbst bei der vielzitierten Generation Y und deren angeblich typischem Wunsch nach Selbstbestimmung und -verwirklichung finden sich auch ganz andere Wahrheiten – wie ein deutlich gestiegener Run auf den öffentlichen Dienst – weil er Sicherheit verspricht, statt Freiheit.

Roman Herzog, Bundespräsident 1994-1999

Ein ganz anderes Risiko und Problem wurde indes von keinem der anderen Gesprächpartner*innen zu Sprache gebracht: Expertokratie. Diesen Begriff habe ich von unserem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog entliehen und nehme damit auch Bezug auf seinen Gedanken, dass die Demokratie nicht zur Expertokratie verkommen dürfe (Herzog 1998). Sprich: Dass die wesentlichen Entscheidungen durch mehr oder minder anerkannte Experten alleine getroffen werden sollten. Das dies eine ganz reale Problematik ist, zeigte ich ebenfalls schon in “Alle Macht für niemand” am Beispiel der gescheiterten Unternehmensdemokratie der ehemaligen Wagner Solar GmbH & Co. KG. Denn dort wurden schon lange vor Haufe-umantis und seiner früheren exorbitanten Medienkampagne über die großartigen Vorzüge der eigenen Führungskräftewahl die Abteilungsleiter*innen gewählt. Und immerhin hatte es Wagner bis zu einem der führenden Hersteller von Solarenergie in Europa geschafft und war mehr als dreimal so groß wie (Haufe)umantis bei der Einführung seiner Führungskräftewahl.

Dann aber gab es bei Wagner ein anderes Problem als bei Haufe-umantis: Die eben erwähnte Expertokratie. Einer der damaligen Geschäftsführer, den ich 2014 interviewte, erklärte: “»Es ist im Laufe der Zeit bei diesen Wahlen zu erstaunlich wenig Veränderungen gekommen. … Es kann damit zusammenhängen, dass diese Funktionen im Unternehmen im Laufe der Zeit Spezialisierungen wurden. … Bei den Wählern könnte möglicherweise eine Sicht entstanden sein, dass es fachlich keine vernünftigen Alternativen gibt.«” (Zeuch, A. (2015): 191) Uns so war es dann zumindest auch beim CEO Marc Stoffel, der bis 2020 immer wieder in seine Rolle gewählt wurde und sich dann von sich aus auf eine familiäre Weltreise verabschiedet hat. Inwiefern Expertokratie bei Haufe-umantis ein ähnliches Problem wie bei Wagner war, lässt sich auf die Entfernung eine eigene Analyse natürlich nicht sagen. Fakt ist: Haufe-umantis ist seit der ersten Wahl Stoffels zum CEO kräftig gewachsen, was indes viele Gründe haben kann. Und zweifelsfrei nicht das einzige Erfolgskriterium ist.

Kritik an der Unternehmensdemokratie

Aber natürlich gibt es auch kritische Stimmen zur Demokratisierung der Arbeit. Einer der prominentesten Vertreter wurde auch von Wilke interviewt: Stefan Kühl. Indes sind seine Kritikpunkte mittlerweile längst nicht mehr so weitreichend, wie ehedem (zB Kühl 2018). Grundsätzlich zweifelt Kühl, das dahinter mehr stecke “als eine gut funktionierende Marketingstrategie.” Der Grund dafür ist gemäß Kühl simpel: Solange das Unternehmen nicht Eigentum der Belegschaft ist, würde der Begriff der Unternehmensdemokratie nicht greifen. Denn wenn es wirtschaftlich kritisch wird, würde das Kapital entscheiden, also die Eigentümer. Keine Frage: Das kann so sein. Und war es sicherlich auch in so manchen Fällen. Aber dazu ist dreierlei anzumerken:

Erstens: Das kann so sein, muss aber nicht. Das ist genauso wie mit einem Duschvorhang. Den kann mensch verschimmeln lassen, muss aber nicht. Und so ist gerade die wirtschaftliche Krise mit der drohenden Insolvenz bei einer monströsen Inflationsrate die Geburtsstunde der Unternehmensdemokratie bei Semco gewesen. Zudem hat ein ungezählter Berg von anderen demokratischen Unternehmen seine Demokratie in bisherigen Krisen nicht über den Haufen geworfen. Aus der Möglichkeit lässt sich kein logisch zwingender Mechanismus ableiten.

Zweitens: Und selbst wenn das passiert sind außerhalb der Krise demokratischer geführte Unternehmen eben immer noch: demokratisch. Sprich: Es ist nicht plausibel, warum die Vorzüge der Partizipation in prosperierenden Zeiten, die Kühl selbst auch eingesteht (“Ja, findet Kühl.” (ebnd.)) verschwinden sollten, nur weil sie nicht in einer entsprechenden Eigentümerstruktur verankert sind. Außerdem bedeutet die Führung durch die Eigentümer*innen oder deren Agent*innen keine Unternehmensdiktatur, so wie das unser Kollege und Autor Bodo Antonic in einem inspirierenden Beitrag über partizipatives Interimmangement erläuterte. Es ist lediglich eine Einschränkung der Partizipation, aber nicht deren Auflösung.

Drittens: Wenn Demokratie nur dann Demokratie ist, sofern alle Systemmittel analog zu den Betriebsmitteln in der Hand der Bürger*innen liegen, ist aufgrund dieser Eigentumsstruktur auch unsere zivilgesellschaftliche Demokratie ein Trugbild. Denn wem gehören denn alle staatlichen Mittel? Wem gehören die Straßen, Eisenbahnnetze, Bürgerämter, Ministerien usw. usf.? Und wer trifft in einer Krise wie gerade die (wirtschaftlichen) Entscheidungen eines Lockdown? Haben jetzt die Coronazweifler* und -leugner*innen plötzlich Recht und wir befinden uns längst in einer Merkel-Diktatur? Selbst in den staatlichen Einrichtungen besteht ja auf der Systemebene der Organisationen zumeist keine Organsiationsdemokratie. Aktuell machen die Ministerien vermutlich gerade erst die ersten zaghaften Schritte in diese Richtung. Und doch wird wohl außer den erwähnten Anhängern verzweifelter Verschwörungsmythen jeder die Bundesrepublik als Demokratie anerkennen, wenngleich mit ebenso zweifelsfrei vorhandenen Schwächen. Und niemand jenseits faschistischer Gesinnung will eine Top-Down Autokratie ohne Partizipationsmöglichkeiten.

Interessant finde ich indes Stefan Kühls Erfahrung, dass sich einige Unternehmen nicht in die Karten schauen lassen wollen, dass es leichter sei “Geheimdienste zu beforschen” als (demokratische) Unternehmen. Da machen wir indes mit unserem CultureCheck aktuell ganz andere Erfahrungen. Die bisherigen Unternehmen waren und sind dankbar, ein unabhängiges Feedback zum Stand Ihrer Selbstorganisation bekommen zu haben. Und ja, es sind bislang nur vier (Überblick über die erfolgten CultureChecks). Aber unsere Pipeline füllt sich weiter und ein Ende ist nicht in Sicht. Somit können wir unternehmensdemokraten auch diese Erfahrung nur zur Kenntnis nehmen – und sie mit unseren kontrastieren.

 

Herzliche Grüße

Andreas

 

Literatur

  • Antonic, B. (2020): Partizipatives Interimmangement. Blog der unternehmensdemokraten
  • Herzog, R. (1998): Demokratie darf nicht zur Expertokratie verkommen. Rede bei der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft.
  • Kühl, S. (2018): Der Mythos des demokratischen Unternehmens. Weiterbildung 2/2018:  24-27
  • Wilke, F. (2020): Unternehmensdemokratie: Chefsessel für alle. Süddeutsche Zeitung, Ressort Wirtschaft
  • Zeuch, A. (2017): Wähl den Chef. Fortschritt oder Rückschritt? Blog der unternehmensdemokraten
  • Zeuch, A. (2020): Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten. Muhrmann

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: unsplash, lizenzfrei
  • Alle Macht: Eigenes Buchcover
  • Roman Herzog: ©Euku, CC BY-SA 3.0

 

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