Im September 2019 veröffentlichten Hanjo Gergs und Arne Lakeit auf der Leanbase ihren lesenswerten Artikel Netzwerke brauchen Hierarchie. Wie schon der Titel klarstellt, erläutern die beiden in ihrem Beitrag, warum Hierarchie weiterhin auch in der neuen Arbeitswelt wichtig ist. Vieles ist schlüssig dargestellt und auch aus meiner Sicht korrekt und sollte in der aktuellen Debatte viel mehr reflektiert werden. Aber bei weitem nicht alles. Einige Argumente verfangen nicht wirklich und manche Aspekte formal-fixierter Hierarchien wurden nicht mitbedacht.
Im Kern geht es Gergs und Lakeit darum, dass “… der Begriff der Netzwerkorganisation gegenwärtig jedoch in utopischer Weise entproblematisiert [wird].” (a.a.O.) Dem stimme ich genauso zu, wie die beiden unmissverständlich klarstellen, dass Ihr Beitrag kein flammendes Plädoyer gegen Netzwerke und neue Arbeits- und Organisationsformen missverstanden werden soll: “Wir bestreiten nicht, das möchten wir hier nachdrücklich hervorheben, dass Netzwerke in modernen Gesellschaften und deren Organisationen eine immer wichtigere Rolle spielen.” (ebnd.) Soweit die allgemeine Verortung. Schauen wir uns nun die einzelnen Aspekte an.
Der Beitrag beginnt mit einer kleinen Parade von Veröffentlichungen der letzten Jahre, die (angeblich) das Ende der Hierarchie ausrufen. Wenn dies im Titel der zitierten Literatur schon ausgerufen wird, wie “Hierarchie – das Ende eines Erfolgsrezepts” (Frei 2016) oder “Game Changer – Das Ende der Hierarchie” (Struck 2016), dann mag das zutreffend und somit äußerst fraglich sein. Ich freue mich zwar, dass auch mein letztes Buch “Alle Macht für niemand” (Zeuch 2015) erwähnt wird, aber dass es in diese Reihe gestellt wird, ist die erste nicht haltbare Aussage. Denn ich stelle explizit klar, dass Hierarchie nicht einfach aus der Organisationswelt zu tilgen ist: “In der Organisationsforschung zeigte sich immer wieder, dass Versuche, Hierarchien dauerhaft abzuschaffen, misslangen. Wurden formale Hierarchien abgebaut, bildeten sich neue, informelle Hierarchien.” (a.a.O.: 27) Zudem geht es mir um eine Dynamisierung der zwar sperrig, aber exakter bezeichneten formal-fixierten Hierarchie. Insofern distanziere ich mich meinerseits ausdrücklich, in die Reihe derjenigen gestellt zu werden, die diesen Unfug behaupten oder herbeipalavern wollen.
Die erste und größte Einschränkung: Rechtliche Regulation
Am fundamentalsten sind die rechtlichen Hürden der angeblichen Enthierarchiesierung oder erwünschten Hierarchiefreiheit. Diesbezüglich muss mensch unter einer präpsychotischen Realitätsverleugnung leiden, wenn der völlige Abbau von Hierarchie ausgerufen oder gefordert wird, denn dies ist alleine aufgrund unseres Gesellschaftsrechts in den meisten Fällen ausgeschlossen.
Zu den gesellschaftsrechtlichen Einschränkungen und Vorgaben gesellt sich noch unser Arbeitsrecht, über das wir mit Versuchen, die Arbeits- und Organisationswelt neu gestalten wollen, auch nicht einfach hinweg gehen können. Genau deshalb haben wir ja auch im Rahmen unseres virtuellen Lernraums VirtSpace zwei VirtShops (virtuelle Workshops) in der Themenkategorie Recht: Neue Arbeitswelt. Mit Arbeitsrecht kreativ gestalten. und Agile MItbebestimmung. Wird der Betriebsrat zum Scrummaster? Kurzum: Die Gestaltung der Zukunft der Arbeit, wie sie aktuelle Begriffe und Konzepte wie Agilität, Kollegiale Führung, New Work oder Unternehmensdemokratie entwerfen, werden sich in diesem Rahmen bewegen müssen.
Und genau das ist dann auch einer der Gründe, warum sich Hierarchie “… durch ein beachtliches Maß an Resilienz auszeichnet.” (Gergs & Lakeit 2019) Natürlich gibt es keinen “… endgültigen Sturz der hierarchischen Ordnung in den Unternehmen …” (ebnd.) Wie auch, kein Unternehmen ist ein rechtsfreier Raum. Insofern ist es mir schleierhaft, was das mit Resilienz eines Konzepts zu tun haben soll oder warum es sich in den Augen der beiden Autoren um eine “eigentümliche Beständigkeit” handele, wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen Hierarchie zwingend vorschreiben. Wäre es rechtlich möglich, Organisationen ohne formal-fixierte Hierarchie aufzubauen, dann könnten wir eine mögliche Resilienz der Hierarchie als Hypothese aufstellen und empirisch untersuchen.
Desintegration und Leistungsschwund
Ein wichtiger Aspekt ist das ” … hierarchielose Organisationen zu Desintegration und damit zu einem starken Rückgang ihrer Leistungsfähigkeit tendieren.” (ebnd.) Die, wie schon erläutert, sachlich falsche Bezeichnung der Hierarchielosigkeit verstehe ich als Pointierung flacher Hierarchien und setze diese Aussage somit zu letzteren in Bezug. Eigentlich könnten wir dieses Argument schon mit einer einfachen Tatsache aushebeln: Es gibt viel mehr hierarchische Organisationen, die aus allen möglichen Gründen ihre Leistungsfähigkeit verlieren. Zum Beispiel, weil ein Vorstand mal wieder verschlafen hat, in der nur bei ihm veorteten Strategientwicklung die Zeichen der Zeit zu erkennen und das Unternehmen entsprechend darauf auszurichten. Da Leistungsschwund kein Phänomen ist, das singulär und ausschließlich bei Netzwerk-Organisationen mit flachen Hierarchien auftaucht, ist es auch kein Argument gegen die Dynamisierung von Führung oder den Abbau verkrusteter, dysfunktionaler hierarchischer Strukturen. Zudem müsste empirisch belegt werden, dass Transformationen (1) die Wahrscheinlichkeit eines solchen Leistungseinbruchs signifikant erhöhen und (2), dass dieser Einbruch dauerhaft und nicht nur temporär ist. Diesen empirischen Beleg habe ich im hier diskutierten Artikel nicht gefunden.
Darüber hinaus gibt es aber noch weitere Aspekte zum Argument der Desintegration und des Leistungsschwunds: Wenn die beiden Autoren auf zwei Quellen berufend darlegen, dass “… sogar die höchst motivierten Beschäftigten von Adhokratien, d.h. Organisationen mit extrem niedrigen Hierarchien, zeitweise eine sehr geringe Toleranz gegenüber Unsicherheiten, Ungewissheiten und Unordnung hätten.” (ebend.), dann macht diese Aussage erstens ebenfalls nur im Vergleich zu traditionell organisierten Unternehmen Sinn. Denn es erscheint wenig plausibel, dass die Mitarbeiter*innen aus weniger hierarchischen Unternehmen im Vergleich zu klassischen Unternehmen eine geringere Unsicherheits- und Ambiguitiätstoleranz haben sollen. Dieser Vergleich fehlt aber. Zweitens ist der direkte Zusammenhang dieser vergleichsweise eventuell geringeren Ausprägung zum Leistungsschwund noch zu belegen. Und drittens ist überhaupt nicht klar, woran der Leistungsschwund überhaupt gemessen wurde.
Entscheidungsgeschwindigkeit
Dann folgt noch eines der Standardargumente gegen mehr Selbstorganisation: “Demgegenüber können hierarchische Organisationen auch unpopuläre Entscheidungen schnell von oben durchzusetzen. Hierarchie ermöglicht mit vergleichsweise geringen Verhandlungskosten verhältnismäßig schnelle und eindeutige Entscheidungen herzustellen.” (ebnd.) Diese generalisierende Aussage ist so nicht im Geringsten haltbar, was ich schon in meinem letzten Buch ausführlich erläutert hatte: Natürlich wird eine Entscheidung von einer einzelnen Person oder einer kleinen Gruppe im Allgemeinen wesentlich schneller getroffen, als von einer deutlich größeren Gruppe oder gar der ganzen Belegschaft. Aber mit der Entscheidung alleine ist es bekanntermaßen noch nicht getan. Die Entscheidung alleine ist wertlos. Sie muss umgesetzt werden. Und dann beginnt der oftmals lange und unfruchtbare Prozess, die getroffene Entscheidung an die betroffenen Personen zu kommunizieren. Und die sollten dann im Idealfall die Entscheidung auch sinnvoll finden, damit sie sie energetisch umsetzen. Und genau da mangelt es häufig. So zeigte zB eine Studie mit 4800 Fach- und Führungskräften von Stepstone 2012, dass 56% der Befragten die aktuelle Strategie des Arbeitgebers nicht oder nicht ausreichend kennen. Und wie sollen sie dann die vielleicht schneller entwickelte und beschlossene Strategie umsetzen?
Zweitens wird bei diesem Argument immer wieder vergessen oder aktiv ignoriert, dass umgekehrt eine geringe Entscheidungsbefugnis bei Mitarbeiter*innen und Führungskräften im Mittelbau das Tempo ausbremst. Wenn Angestellte erst ihre Vorgesetzten fragen müssen, ob sie dies oder das machen sollen oder dürfen, dann braucht dieser Prozess zwingenderweise mehr Zeit, als wenn die betroffenen Personen diese Entscheidungen selber treffen dürfen. Stell Dir vor, Du hast Dich über irgendetwas in dem Hotel schwer geärgert, in dem Du gerade drei Nächte verbracht hast. Du machst Deinem Ärger beim Auschecken Luft und schilderst dem netten Rezeiptionisten die Probleme. Was wäre Dir lieber: Das er nun umgehend eigenverantwortlich reagieren kann, und Dir zur Entschuldigung 20% Rabatt anbietet, oder dass er erst den Hotelmanager fragen muss, der aber gerade leider in Urlaub ist während seine Vertretung in einem wichtigen Meeting sitzt? Wo ist da in der Hierarchie die Kundenzentriertheit und das angebliche Tempo, wenn wir den Mitarbeitenden, die regelmäßig mit anderen Menschen aus der Umwelt (Kunden, Zulieferer, Partner, Verbände…) in Kontakt sind, derartige Entscheidungskompetenzen absprechen?
Drittens stellt sich die Frage der Entscheidungsqualität bei komplexen Entscheidungen. Je komplexer, desto sinnvoller ist die Integration von Multiperspektivität, um Ashbys Law von der nötigen Varietät zu erfüllen. Es wird angesichts immer weiter steigender Komplexität und Dynamik zunehmend sinnloser, die allerkomplexesten Entscheidungen wie Strategien, die weit in die Zukunft reichen und deshalb wesentlich mehr Komplexität, Unsicherheiten und Kontingenzen absorbieren müssen, von einem kleinen, meist viel zu homogenen Kreis von Menschen treffen zu lassen, die aufgrund dieser viel zu geringen Heterogenität schnell in den Bias Effekt des Gruppendenkens verfallen können.
Viertens bedeuten flache Hierarchien nicht zwangsläufig Basisdemokratie. Oder sonst irgendwelche zähen Entscheidungsprozesse. Bei diesem Standardargument wird zumeist erst gar nicht zwischen verschiedenen Entscheidungsverfahren unterschieden. Da schwingt dann im Subtext nur mit, dass das Unternehmen zur versifften Studi-WG verkommt, bei der alles bis zur einstimmigen Entscheidung in langen nächtlichen, alkohol- oder cannabisgeschwängerten Gesprächskreisen durchdiskutiert werden muss. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Nichts davon behaupten Gergs und Lakeit. Aber sie diskutieren in ihrem Artikel umgekehrt auch nicht die Vor- und Nachteile verschiedener partizipativer Entscheidungsverfahren oder erwähnen sie auch nur. Insofern bleibt es hier bei den bloßen bekannten Behauptungen, die an keiner Stelle auf die von mir erwähnten Aspekte eingehen.
Das Duale Betriebssystem als Lösung
Völlig zu recht stellen die Autoren fest: ” … in der empirischen Realität [finden wir] immer schon Mischformen von Hierarchie und Netzwerk: d.h. „Hybridgebilde“. (ebnd.) Diesen Umstand hatte ich auch schon in meinem Beitrag “Die Unvermeidbarkeit hybrider Organisationen” besprochen – was nochmals unterstreicht, dass ich mitnichten zu denjenigen gehören, die Hierarchiefreiheit proklamieren. In diesem Zusammenhang greifen Gergs und Lakeit auf das Konzept des “Dualen Betriebssystems” von John Kotter zurück: “Während die Aufbauorganisation mit dem Management des operativen Geschäfts beschäftigt ist, solle sich, so Kotter, die Netzwerkorganisation um die Erarbeitung und Umsetzung von Innovationsinitiativen kümmern.” (ebend.) Damit das funktioniert, muss allerdings noch einiges passieren. Die ganzen Netzwerke wie Labs etc. werden nämlich im Laufe der Zeit wieder viel zu oft vom Vorstand dominiert.
Desweiteren löst dieser Ansatz im operativen Geschäft nicht die oben ganz grob skizzierten Probleme. Insofern erscheint mir die Unterscheidung zwischen operativen/Alltagsgeschäft und Innovationen nicht zielführend. Selbst wenn wir die Unterscheidung zwischen Routine- und Innovationsaufgaben treffen, kommen wir nicht weiter. Denn natürlich können wir jede Routineaufgabe immer wieder hinterfragen und schauen, ob wir sie (1) überhaupt noch brauchen und (2) ob wir sie nicht eleganter und besser lösen können. Es geht dann in diesem Bereich nicht darum, innovative neue Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln, sondern die internen Prozesse kontinuierlich weiterzuentwickeln.
Gergs und Lakeit bleiben aber nicht einfach beim Dualen Betriebssstem stehen: “Das Konzept von Kotter stellt einen guten Ausgangspunkt für die weitere Überlegungen zum Zusammenspiel von Netzwerk und Hierarchie dar. … Wir gehen davon aus, dass Hierarchie und Netzwerk zwei voneinander abhängige Phänomene sind, die in einem dialektischen Verhältnis zueinanderstehen. Hierarchie schränkt Netzwerkbildung einerseits zwar ein, ist aber andererseits auch deren Grundlage in dem sie stabilisierende und integrierend wirkt.” (ebnd.) Ich würde genauso annehmen, dass die Phänomene einander beeinflussen. Aber jedes Startup widerlegt die Aussage, dass es erste stabile Ordnungsstrukturen braucht, um Netzwerke ausbilden zu können (“deren Grundlage”). In der anfänglichen Gründungsphase gibt es zumeist erst mal recht überschaubare, simple Netzwerke aus wenigen Personen mit diffusen Funktions- oder Rollenverteilungen. Conny Dethloff beschreibt deshalb in einem Beitrag “Das Duale System der Unternehmensführung” umgekehrt die Ausbildung traditioneller Strukturen aus Startups heraus (vgl. Das Duale Betriebssystem. Eine Reflexion.)
Zusammengefasst lässt sich sagen: Ja, wir werden formal-fixierte Hierarchie mindestens noch solange brauchen, wie sie rechtlich vorgeschrieben ist. Und wir werden natürlich auch Hierarchie im Sinne von Führung weiterhin haben – weil es gar nicht darum geht, Führung per se abzuschaffen, sondern sie zu dynamisieren. Die üblichen Argumente, wie die einer langsameren Entscheidungsgeschwindigkeit in Netzwerken, bzw. unter Selbstorganisation, konnten auch hier nicht überzeugen.
Herzliche Grüße
Andreas
Literatur
- Dethloff, C. (2015): Das Duale System der Unternehmensführung. Blog Reise des Verstehens
- Gergs, H.; Lakeit, A. (2019): Netzwerke brauchen Hierarchien. Leanbase
- Zeuch, A. (2015): Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten. Murmann
Bildnachweis
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