Im Dialog: Wie entsteht Agilität und Gleichberechtigung?

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Agilität und Gleichberechtigung: Ich wurde im August 2021 auf einen Beitrag von Moritz Bleu von agyleOS aufmerksam, in dem er kritisch anmerkte, das Agiltiät und Vielfalt nur oberflächlich in Unternehmen “implementiert” würde, wenn beides nicht verstanden werde. Dem pflichte ich bei – andererseits kommentierte ich sofort, dass das Problem losgeht, sobald Agilität eben implementiert werden soll. Daraus ergab sich eine kleine Diskussion in dessen Verlauf Stephan Löttgen von der Stommel Haus GmbH ein paar spannende Fragen stellte. Denen gehen wir in diesem Beitrag nun nach.

Andreas: Hallo Stephan, freut mich, dass aus unserem kurzen aber anregenden Austausch auf LinkedIn nun dieser Dialog entstanden ist. Vorab kurz zu Dir: Wer bist Du, woher kommst Du, wohin gehst Du?

Stephan: Hallo Andreas, ich bin Vater von zwei aufgeweckten Teens und genau daraus ergeben sich alle weiteren Rollen in meinem Leben. Zugegeben, ich habe einige Jahre gebraucht, bis ich durch meine Arbeit bei Stommel Haus viele meiner vorherigen Leidenschaften reflektiert und verknüpft bekommen habe. Das ist der Teil meiner persönlichen “Evolution”, die ich seit einigen Jahren bewusst erlebe. Ich gebe sehr viel Energie in die Entwicklung von Rahmenbedingungen und unterstütze Menschen wo ich kann. Die vollzeit Stelle als Handwerker in unserer Holzhaus Manufaktur hat sich aktuell in drei vielseitige Teilzeit-Rollen entwickelt. Zum Einen als Verantwortlicher unserer Stommel Haus Akademie, zum Anderen als Praxis-Coach / Moderator in unserer Teams und als Mizusumashi. Letzteres ist eine Rolle aus dem japanischen Toyota Produktions System (TPS), dort sorge ich für einen reibungslosen Materialfluss und eine ausreichende Verfügbarkeit von Materialien. Diese drei Rollen sind sehr abwechslungsreich, da ich dort sowohl Projekte begleiten darf, meine Kollegen unterstützen und handwerklich Arbeiten kann. Seit ca. 15 Jahren, lerne ich autodidaktisch alles was mich interessiert und seit 4 Jahren mit einer sehr hohen Intensität in der Stommel Haus Akademie. Ich versuche immer aus der Praxis heraus zu lernen und philosophiere sehr gerne über das alles. Irgendwann, möchte ich diese Welt besser verlassen, als ich sie vorgefunden habe. Für meine Familie und all die Menschen, die mir Ihr Vertrauen schenken. Danke für diesen Dialog!

Andreas: Ich danke Dir! Spannend, wie Du die verschiedenen Elemente Deines Lebens interpretierst und Deine Schlussfolgerungen draus ziehst – und zu welchen Verknüpungen Du kommst. Zu unserem Thema: Du hast in der Diskussion zum Beitrag von Moritz Bleu von agyleOS ein paar spannende Fragen aufgeworfen, ich zitier einfach mal ungefiltert all Deine Fragen: Wie denkt Ihr das Agilität entsteht? Wie denkt Ihr das die Gleichberechtigung tatsächlich stattfindet? Ist eine Organisation nicht so, oder so ein Teil der gesamten Evolution? Also findet auch in diesem Teil der Evolution eine natürliche Entwicklung statt? Was denkt Ihr? Ich finde die Kritik, das Thema zu technisieren, absolut nachvollziehbar. Da es viel einfacher ist ein Software-Update zu verstehen und dadurch natürlich auch einfacher es als Produkt zu vermarkten. Warum versuchen wir die Lösung massentauglich zu machen? Brauchen wir, sinnbildlich gesprochen, mehr Gärtner statt Blumenhändler? Und mehr frische Luft und klares Wasser statt Dünger? Wo würdest Du jetzt gerne einsteigen, was wäre aus Deiner Sicht ein guter Startpunkt in diesem Blumenstrauß von Fragen?

Stephan Löttgen, mit dem ich über Agilität und Gleichberechtigung sprach.
Stephan Löttgen im Gespräch

Stephan: Da ich aus dem “einfachen” Handwerk komme, ist mir an klaren, einfachen und durchdachten Definitionen gelegen. Was bedeutet es für Dich, Agilität zu erlangen, bzw. kann eine Organisation die Agilität erlangen, oder nur deren Mitarbeiter? Was denkst Du?

Andreas: Oh, da bin ich voll bei Dir, sogar als Dr.rer.soc. 😉 Im Ernst: durchdachte und pointierte Definitionen sind uns auch sehr wichtig (vgl.: Sprache ist wichtiger als Scrum uns Slack). Fangen wir mit der ersten Frage an. Da würde ich sogar einen Schritt vorher ansetzen: Was heißt Agilität für mich? Denn erst dann kann etwas darüber aussagen, was es bedeutet, “sie zu erlangen” – bzw. kann darüber nachdenken und diskutieren, ob mensch, ob wir Agilität überhaupt erlangen können. Mir gefällt bis heute die alte, von Talcott Parsons stammende Definition gut, in der der Begriff “agil” ja ein Akronym ist, mit der er überlebenswichtige Funktionen beschrieben hatte: adaption, also Anpassung (an die Umwelt), goal attainment (Zielsetzung), integration (Zusammenhalt und Einbindung), latency, womit er die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung basaler Strukturen und Wertmuster verstand. Nur wenn ein (lebendes) System diese Attribute erfüllt, wird es überleben können. Somit könnten wir Agilität schlicht als Überlebensfähigkeit verstehen. Wenn wir etwas tiefer bohren, stellt sich aber sofort die Frage, was es braucht, sich an die Umwelt anpassen zu können? Und da würde ich antworten: Testen statt Planen. Anstatt wochen-, monate- oder gar jahrelang etwas zu planen, um dann festzustellen, dass der Plan, wenn er denn fertig ist, längst veraltet ist, sollten wir lieber möglichst schnell Ideen an und in der Wirklichkeit testen, um so empirisch fundierte Ergebnisse zu erhalten, statt spekulative Diskussionen zu führen. Die sind ja nicht mal theoriegeleitet, sondern in erster Linie unsystematische Annahmen über etwaige Folgen einer Idee, eines Vorschlags etc. Was denkst Du bis hierhin darüber?

Stephan: Ein Freund, aus Bellingham bei Seattle, benannte auf die Frage nach den schlimmsten Kostenverursachern in seinem Unternehmen: Vermutung und Annahmen. Was Deine Aussage treffend untermauert, wie ich finde und mich davon überzeugt, dass Planung eher Risiko, als Sicherheit bietet. Dem kann man lediglich mit kleineren Schritten bei kommen. Also plant man Kurzfristig, ist das Risiko geringer. Nur ganz ohne Risiko ist Planung nicht denkbar. Im Beispiel der Materialbeschaffung, ist nach meiner Ansicht auch der Fokus von aufwendiger Planung hin zu vertrauensvollen Beziehungen geschwenkt. Da ich aktuell Krise als Normalzustand empfinde, wird der Umgang mit unerwarteten “Angriffen” auf die Planung zum Tagesgeschäft. Wie beim Karate, wo ich nicht den gesamten Kampf plane und auswendig lerne, muss ich die einzelnen “Schläge” und “Abwehrhaltungen” trainieren. Das geht nicht in der Theorie, sondern nur in der Praxis. Schweißtreibendes Training führt mich zu einem exzellenten Kampfstil im Karate. Im Beispiel der Materialbeschaffung, muss ich die verschiedenen Alternativlösungen trainieren. Das ist mitunter sehr anstrengend, jedoch von Mal zu Mal einfacher. Der liebe Götz Müller sagte Mal in einem Gespräch mit mir, dass Ausprobieren und Scheitern, die vielleicht reinste Form des Lernens ist. Da stimme ich ihm zu. Gerne nehme ich auch die Fehler anderer als “Geschenk”, um sie nicht nochmal zu machen. Es sind jedoch immer noch die Fehler eines anderen. In meiner Situation ist der Rahmen definitiv ein anderer, daher kann man die Erfahrung aus fremden Fehlern nur als grobe Richtung verwenden. Man wird zwangsläufig eine eigene Lösung aus trainierten Alternativen ausprobieren. Hier liegt, wie ich denke, auch der “Hase der schlechten Angewohnheiten” im Pfeffer. Angewohnheiten, die viele verzweifelt versuchen kurzfristig abzuschalten, um sie am Ende doch langfristig abzutrainieren. Was mich zur Frage der “Technisierung” bringt. Kann man diese Agilität der individuellen und alternativen Lösungen, als Update “implementieren”? Oder ein anderes Sinnbild: Braucht es bessere Methoden, oder bessere Trainingsumgebungen? Was denkst Du?

Andreas: Da gehe ich mit, Stephan. Und übrigens: Ich wusste gar nicht, dass Du Karateka bist. Die Budo-, also Kampfkunst-Metapher kann ich aus eigener Karateerfahrung voll und ganz unterschreiben. Das schöne an daran: Da dürfte den meisten Freund:innen exzessiver Planung klar werden, dass Planung im echten Leben schnell an ihre Grenzen kommt. Wer hätte vor nur zwei Jahren gedacht, dass die folgenden anderthalb Jahre so werden, wie sie nun gekommen sind, mit all den Material- und Lieferengpässen und vielem mehr, was noch dramatischer, schmerzlicher und existentieller ist, als diese logistischen Probleme? Zu Deiner Frage, ob mensch Agilität implementieren kann: Nein. Nächste Frage! Im Ernst: Implementieren hat bei uns einen Bedeutungsraum, der nicht zur Einführung und Umsetzung von agilen Arbeitsweisen in einer Organisation passt. In Wikipedia findet sich dieses Verständnis gut pointiert wiedergegeben: Implementieren bedeutet den “Einbau oder die Umsetzung von festgelegten Strukturen und Prozessabläufen in einem System unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen, Regeln und Zielvorgaben.” Das bezieht sich dann häufig auf die Implementierung von Software in die IT einer Organisation. Alleine das ist schon kompliziert und fehleranfällig genug, wie wir wissen. Dabei gibt es aber – noch – einen gehörigen Unterschied: Die bestehende IT Infrastruktur hat weder Gefühle, noch einen eigenen Willen. Wir können dort einfach etwas auch noch so fundamental ändern, wir stoßen dabei lediglich an unsere eigenen technischen Kompetenzgrenzen. Aber die bestehende IT wird sich nicht aktiv gegen neue Strukturen wehren, verfolgt keine eigenen Absichten. Das ist mehr oder minder dasselbe Problem, wie die von mir immer wieder kritisierte Metapher eines Organisationsmodells wie Holacracy als “Betriebssystem”, das wir nur implementieren müssen. Zu Deiner zweiten Frage muss ich zurückfragen: Was meinst Du mit Trainingsumgebungen?

Eines der Stommel-Häuser

Stephan: Ich dachte eine Zeit lang, dass mein Sohn süchtig nach seiner Spielkonsolen ist. Auch, weil ich selbst mal in dieser Thematik gelinde gesagt “gefangen” war. 😉 Also wollte ich ihm das Zocken ausreden. So ganz erwachsen, mit Argumenten und Erfahrungen, die ein 10 Jähriger einfach belanglos findet. Dann habe ich mich gefragt, warum interessieren Ihn meine, für mich vollkommen logischen Argumente nicht?! Eines Nachmittags sagt er zu mir, dass er jetzt noch “eine Runde trainieren” geht. Auf meinen fragenden Blick schob er nach, dass er jetzt ein paar Minuten in einem bestimmten Spiel trainieren wolle, damit er Abends zu einer verabredeten Uhrzeit mit seinen Kumpels als Team ein “Match” gewinnen kann. Er strebt also nicht nach dem “Zocken” an sich, sondern nach dem Nutzen für die Gemeinschaft. Was voraussetzt, dass er entweder Talent hat, oder das notwendige Können durch Training erarbeitet. Mich beruhigt, dass er inzwischen auch auf dem Fußballplatz im “Reallife” trainiert. Was ich spannend finde, er trainiert, um in Beziehung zu seinen Kumpels ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Es geht nicht, oder nur zweitrangig um einen möglichen Platz auf dem Helden-Podest. Es geht vielmehr um den Sieg des Teams, dafür möchte er sich selbst verbessern. Wann bekommst Du als Mitarbeiter die Möglichkeit für Dein Unternehmen zu trainieren? Also frei von Leistungszwang, bzw. im Schutzraum oder einer Simulation. Wir versuchen das bei Stommel Haus zu ermöglichen, so gut es geht. Jedoch ist es schwer, dass auch in den Köpfen der Kollegen, als Training bewusst zu machen. Früher haben ich als Kind schon mal Mutproben machen dürfen, dass gibt es in Unternehmen nur “Backstage”. Offiziell ist es Mitarbeitern untersagt mal was zu riskieren. In meiner Wahrnehmung sind Methoden und Regeln der Gegenpart zu “geschützten Trainingsräumen” und Prinzipien. Das eine lenkt auf den Punkt genau zum Ziel X und dass andere gibt eher Richtung, Tempo und Grundsätze vor. Was denkst Du darüber?

Andreas: Ah, jetzt verstehe ich Deine Frage zu Trainingsräumen. Deine Herleitung gefällt mir sehr gut, da kann ich bestens ankoppeln. Um Deine Frage zu beantworten: Ich glaube, dass es genau solche Räume braucht. Ich hatte in meinem vorletzten Buch “Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen” das Konzept der Möglichkeitsräume vorgestellt: Ich glaube es wäre für die Weiterentwicklung von Organisationen sehr sinnvoll, solche Möglichkeitsräume zu schaffen, um auch ungerichtet neue Ideen, Kompetenzen etc. zu entwickeln. Das ist hilfreich, weil wir nicht wissen was die Zukunft bringt – siehe Corona – und wir dem Zufall viel zu wenig Raum geben, um für uns wirksam zu werden. Diese Möglichkeitsräume gibt es auf drei Ebenen: Menschen, Organisationskultur und -struktur. Zunächst müssen es sich die einzelnen Mitarbeiter:innen selber erlauben, auch das Mögliche zu denken, dem nachzugehen und es zu erkunden (Ebene Mensch). Dann braucht es die Erlaubnis der Kolleg:innen und natürlich der Vorgesetzten, dass dies umgesetzt werde kann. Wir müssen es uns gegenseitig erlauben und uns dazu ermuntern (Ebene Unternehmenskultur). Letztlich betrifft es die strukturelle Ebene, es müssen Ressourcen bereitgestellt werden: Arbeitszeit, Arbeitskraft von Kolleg:innen, die ich für eine Idee begeistern und mitnehmen kann und natürlich Geld, zum Beispiel für Prototyping (vgl. Zeuch 2010: 221-226). Aus meiner Sicht passt das gut zu Deiner Idee des Trainingsraums – was meinst Du?

Stephan: Da spanne ich gerne den Bogen zur Gleichberechtigung. Viele hundert mal, habe ich in meiner bisherigen Zeit als Kollege in einem Team, den folgenden Satz gehört: “Ich würde das Problem ja gerne lösen, darf ich aber nicht!” Ich bin überzeugt, dass es aufgrund von mangelnder Gleichberechtigung in Organisationen, einen massiven Innovationsstau gibt. Prof. Dr. Peter Kruse beschreibt das sehr bildlich mit dem Beispiel des “Krabbenkorb” (Acht Regeln für den totalen Stillstand im Unternehmen (mit Untertitel Deutsch und Englisch) – YouTube). Solange es einen, oder mehrere “Vorgesetzte” gibt, die entscheiden, wer welche Probleme lösen darf, ist der Krabbenkorb perfekt. Die Kollegen sind mehr damit beschäftigt, sich “hoch zu arbeiten”, als tatsächliche Probleme zu lösen. Daraus resultiert auch oft eine Gruppe von Kollegen, die der Situation aus dem Weg geht, indem sie “Dienst nach Vorschrift” machen. Ich glaube, dass ein Inhaber oder Geschäftsführer alle Mitarbeiter gleichberechtigt mit der Lösung von Problemen beauftragen sollte. Was sicher mit Hilfe des Prototyping klar und unmissverständlich realisiert werden kann. Nicht alle Kollegen sind gleich gut im Lösen von Problemen, daher sollte man z.B. Trainingsräume schaffen, in denen ein unerfahrener Kollege, von einem Erfahrenen lernen kann. Die Gleichberechtigung im Umgang mit Problemen, ist wie das lösen einen rostigen Bremse beim Auto. Ist die Bremse erstmal locker, kann man sie wieder flexibel einsetzten und das Auto kann wieder Fahrt aufnehmen. Wie siehst Du das? Hast Du ein anderes Beispiel für Gleichberechtigung in Organisationen?

Andreas: Das ist ein interessanter Aspekt in der Zusammenarbeit. Zunächst mal machen wir unternehmensdemokraten nicht die Erfahrung, dass immer alle gleichermaßen interessiert daran sind, Probleme zu lösen. Das ist nicht immer aber manchmal ein kreativer Prozess, der bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten erfordert. Hinsichtlich letzterer plädierst Du ja für Trainingsräume. Wenn wir davon ausgehen, dass erstens nicht jeder am Problemlösen interessiert ist und nicht einmal jeder, der oder die grundsätzlich Interesse daran hat, dies zu jedem beliebigen Zeitpunkt will, ergibt sich ohnehin schon viel kleinere Teilmenge der Belegschaft. Es ist mir nur wichtig, das zu respektieren, nicht dass mit der Veränderung der aktuellen Verhältnisse plötzlich ein Zwang dazu entsteht, Probleme zu lösen. Im kleinen Maßstab betrifft das natürlich irgendwann alle Mitarbeiter:innen – ein IT Problem taucht auf, eine Kolleg:in ist plötzlich krank und jemand muss improvisieren, ein Werkzeug fehlt, oder oder. Sogesehen werden alle zufallsverteilt früher oder später mit Problemen in ihrem Arbeitsbereich konfrontiert und müssen damit umgehen. Aber das betrifft nur diese lokal begrenzten Probleme.
Damit vor allem größere Probleme, die über den eigenen Arbeitsbereich hinausgehen, oder gar unternehmensweite möglichst schnell und nachhaltig gelöst werden können, braucht es eine entsprechende Kultur, ein dazu passendes Selbstverständnis. Problemlösungen sollten nicht eine Frage von Zuständigkeiten sein, die hierarchisch topdown zugewiesen werden. Stattdessen sollten alle, die Lust haben, an der Problemlösung (mit) zu arbeiten, dies auch dürfen, ohne sich die Erlaubnis dafür holen zu müssen. Es muss nur transparent sein, dass sie sich des Problems annehmen. Das bedeutet aber wiederum, dass es von der Geschäftsführung bis hin zur niedrigsten Führungsposition nicht zur Führung gehört, zu entscheiden, wer welche Probleme lösen soll beziehungsweise darf. Umgekehrt muss dann sichergestellt werden, dass es zu keiner Verantwortungsdiffusion kommt, in der das Wort Team zum Akronym wird: “Toll ein anderer macht’s.” Genau dieses Verantwortungsgefühl ist jedoch etwas, was wachsen muss, wenn sich eine Organisation von einer reinen Hierarchie in etwas Hybrides verwandelt, wo nun auch Selbstorganisation nicht nur erlaubt, sondern auch gewollt ist. Dieses Verantwortungsgefühl kann mensch zwar vorschreiben, aber das ist leider wenig erfolgversprechend. Dazu muss ich schon eine positive emotionale Verbindung mit meinem Arbeitgeber spüren, damit ich aus mir heraus Interesse habe, nicht nur meine unmittelbaren Probleme anzugehen, sondern auch die, die über meinen Bereich hinaus gehen. Und da wirkt dann die Gleichberechtigung indirekt als Bindeglied zwischen meinem Arbeitgeber einerseits und meinem Willen zur Problemlösung und Verantwortungsübernahme andererseits. Fühle ich mich gleichberechtigt und gerecht behandelt, dann ist das eine vitale Grundlage für eine gesunde Bindung zum Arbeitgeber. Dazu gehört natürlich noch mehr, aber das ist eine andere Geschichte. Macht das Sinn für Dich?

Stommel-Haus Innenleben

Stephan: Absolut, dass kann ich Dir mit vielen Beispielsituationen aus unserem Alltag bei Stommel Haus untermauern. Wir folgen dem Prinzip: “Du kannst den Gaul nur zur Tränke führen, saufen muss er selbst.” Was in jedem Fall intrinsische Motivation voraussetzt, um sich einer Problemlösung zu nähern. Bedeutet jedoch auch, “je öfter ich den Gaul zur Tränke führe, je eher denkt er darüber nach, mal ein Schluck zu nehmen.” Wir haben lernen müssen, dass man die “alten Zöpfe” nicht abschneiden kann, sondern sie “entflechten” muss. Das geht nicht von Heute auf Morgen und es entwickelt sich nicht ohne eine gewissen Zeitaufwand. Wir haben auch akzeptiert, dass diese Weiterentwicklung ein “ewiger” Prozess ist und absolut nicht planbar. Man kann “Weichen stellen”, “Samen säen” oder “Kulturpflege betreiben” – Nenne es wie Du willst, jedoch nicht “implementieren”. Das führt erst zu falschen Vorstellungen und anschließend zu Frust und Enttäuschung. Das ist meine persönliche Erfahrung und ich bin der festen Überzeugung, dass die Mischung entscheidend ist. Lernräume, Umgang mit Fehlern, Training, Vertrauen, Transparenz, Partizipation, zwischenmenschliche Beziehungen, Reflektion, kontinuierliche Verbesserung und natürlich Demokratie sind allesamt Zutaten für eine individuelle Weiterentwicklung. Die Tatsache, dass jeder Mensch sich bislang individuell entwickelt hat und sich auch in der Organisation individuell weiterentwickelt, führt mich zu dem Schluss, dass Implementierung (im Sinne der Software-Technik und auch politisch) hier keinen Sinn ergibt. Was leider viele Unternehmen nicht davon abhält, es trotzdem zu versuchen. Vielleicht kannst Du abschließend einen guten Weg empfehlen? Ich bedanke mich in jedem Fall für diesen inspirierenden Austausch mit Dir und freue mich auf Rückmeldungen und Kritik zu dem Thema.

Andreas: Wie Du Dir denken kannst, gibt es keinen Königsweg. Dazu sind die einzelnen Situationen viel zu individuell. Aber Du hast selber ein paar Bedingungen genannt, die eine fundamentale Haltung skizzieren – wenn wir Agilität und Gleichberechtigung nicht als bloß kleine Verbesserungen sehen, sondern als Transformation, als tiefgreifenden Gestaltwandel hin zu einem wirklich anderen Verständnis und Vorgehen in Organisationen:

  • Es braucht erstens die grundlegende, ehrliche Einsicht, dass sich die gewünschten Attribute nicht implementieren lassen, sie können nicht durch einen Upload auf die Festplatte der Organisation geladen werden und überschreiben dann einfach die alten Kulturmuster, so dass nach einem Neustart die gewünschten Eigenschaften sofort zur Verfügung stehen.
  • Zweitens lassen sich diese Prozesse nur sehr bedingt planen. Wir wissen am Anfang nicht, wohin genau die Reise gehen wird. Diese Unsicherheit durch Unplanbarkeit muss ausgehalten werden. Leider fällt das vielen Menschen schwer. Die meiste von uns suchen Sicherheit und Stabilität in einer Zeit, in der um uns herum soviel Altvertrautes nicht mehr zukunftsfähig ist. Der bislang stabile Boden beginnt zu schwanken. Ich verstehe das. Allerdings ist das der Welt egal. Wir kommen nicht umhin, die Unsicherheit zuzulassen. Ansonsten zerstören wir die Möglichkeitsräume der Transformation, wenn wir das Ergebnis vorab festschreiben.
  • Drittens brauchen wir Geduld. Was leider auch äußerst schwierig ist in einer Welt, die sich immer schneller dreht; eine Welt, in der das neue iPhone irgendwann vor dem Vorgänger erscheinen muss, wenn wir die Beschleunigung nur konsequent zu Ende denken. Mit diesem Punkt ist es genauso wie mit dem vorherigen: Die Welt kümmert unsere Ungeduld nicht. Das Gras wächst nicht schneller, wenn wir dran ziehen.
  • Und damit sind wir beim Rahmen, der das alles umschließt: Wir brauchen eine gewisse Demut vor all den kleinen und großen Transformationen, vor denen wir stehen. Wir können sie nicht kontrollieren, beliebig gestalten und haben keinerlei Garantie, dass sie nachhaltig erfolgreich sein werden. Aber heute erkennen wir, wohin uns das Gegenteil gebracht hat: Die Vorstellung, die Natur und die Welt kontrollieren zu können. Wer das immer noch glaubt, sollte den aktuellen ersten Teil des neue IPCC Berichts lesen. Oder noch eindrücklicher, sich die Bilder vom Ahrtal oder den Bränden in Australien vor Augen führen. Das ist das Ergebnis unserer Vorstellung, die Herren (!) der Schöpfung zu sein. Die gute Nachricht zum Schluss:

Wir können die alten eingetretenen Pfade verlassen. Ich habe selbst immer wieder erlebt, wie das gelungen ist. Ja, das erfordert Mut. Aber was ist die Alternative?

Herzliche Grüße
Andreas

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: ©Markus Winkler, unsplash lizenzfrei
  • Alle anderen Bilder: ©Stommel Haus Gmbh, mit freundlicher Genehmigung.

Literatur

  • Zeuch, A. (2010): Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen. Wiley

 

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