Freie Persönlichkeitsentfaltung: Wir leben in einem Land, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit aller Bürger:innen gegenüber dem Staat im Rahmen des Grundgesetzes garantiert. Und zwar solange wir damit unter anderem nicht die Rechte anderer Bürger:innen verletzen. Dies ist ein grundlegendes Recht für eine funktionierende Demokratie, wie wir vor allem leicht anhand von Ländern erkennen können, bei denen dieses Recht nicht eingeräumt und gesichert ist.
Diese Rechtssicherheit für uns Bürger:innen spielt aber auch innerhalb der Arbeit ein Rolle, was ich vor einiger Zeit anlässlich eines Vortrags über Unternehmensdemokratie bei einer Veranstaltung erwähnte. Damals erklärte ich die Gründe, warum sich eine Organisation überhaupt demokratisieren kann und möglicherweise sollte. Einer dieser Gründe besteht meines Erachtens in der freien Persönlichkeitsentfaltung, was während dieser Veranstaltung beinahe zu einem Eklat führte, da ich mich mich auf Artikel 2, Absatz 1 unseres Grundgesetzes bezog:
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Art. 2, Abs. 1 GG
Bei den Teilnehmer:innen war ein Verfassungsrechtler dabei. Der klärte mich, zunächst noch höflich aber schon recht distanziert, darüber auf, dass es unsinnig, genauer: unzulässig sei, hier auf das Grundgesetz zu verweisen. Denn das regele schließlich das Verhältnis zwischen uns Bürger:innen und dem Staat, aber keine privatrechtlichen Verhältnisse wie sie zwischen Arbeitnehmenden und deren Arbeitgebern vorliegen. Keine Frage: Das ist genau so absolut korrekt. Alleine der Verweis auf den besagten Artikel unseres Grundgesetzes ist kein Argument für ein Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit bei der Arbeit. So weit so richtig. Allerdings wagte ich es, noch insofern zu widersprechen, als dass ich daraus kein einklagbares Recht ableiten, sondern auf den Umstand hinweisen wollte, dass dieses Recht gegenüber dem Staat besteht, aber bei der Arbeit eben nicht mehr. Aber alleine das zur Diskussion zu stellen, ließ die ohnehin kurze Zündschnur des Verfassungsrechtlers rekordverdächtig schnell abbrennen, so dass er mir nun weniger höflich noch allerlei Dinge unterstellte, die ich weder gesagt noch gemeint hatte, wie zB die Abschaffung des Eigentums [1].
(Un)mittelbare Drittwirkungen des Grundgesetzes
Da ich kein Jurist bin, musste ich das erst mal so stehen lassen. Eine anschließende kurze Recherche im Internet brachte jedoch etwas höchst Interessantes zu Tage, so dass mein Verweis auf Artikel 2(1) gar nicht so naiv war, wie von jenem Verfassungsrechtler dargestellt. Es gibt nämlich die sogenannten mittelbaren und unmittelbaren Drittwirkungen des Grundgesetzes. Sie besagen, „…dass die Grundrechte nicht nur im Verhältnis zwischen Bürger und Staat gelten, sondern auch die Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern untereinander beeinflussen.“ (JuraForum). Die beiden Drittwirkungen werden dabei wie folgt verstanden:
- Von einer unmittelbaren Drittwirkung wird dann gesprochen, wenn in einem der Grundrechte diese Drittwirkung explizit benannt wird. Als Beispiel nennt das JuraForum Art. 9, Abs. 3: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.“ Wenn dieser direkte Bezug nicht vorliegt, gibt es auch keine unmittelbare Drittwirkung.
- Eine mittelbare Drittwirkung gilt nicht mehr direkt im Privatrecht (also auch nicht zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebern), aber sie können über unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln auf das Privatrecht einwirken: „Die mittelbare beziehungsweise indirekte Drittwirkung, die seit dem Lüth-Urteil in der Verfassung verankert ist [BVerfG, 15.01.1958, 7 198 (204)], tritt immer dann ein, wenn die Anwendung der Grundrechte nicht unmittelbar zwischen den Bürgern stattfindet, jede zu treffende Entscheidung aber im Lichte der Grundrechte betrachtet werden muss. Klagt ein Bürger beispielsweise gegen einen anderen Bürger, so dürfen bei der Urteilsfindung die Grundrechte nicht außer Acht gelassen werden. Sämtliche staatliche Institutionen wie Gerichte oder Verwaltungsbehörden müssen somit die Grundrechte bei ihrer Entscheidung beachten und prüfen, ob die beklagte Person gegebenenfalls die Grundrechte missachtet hat. Falls dies der Fall sein sollte, ist dem betreffenden Bürger ein Verstoß gegen die Grundrechte vorzuwerfen.“ (Ebnd., kursiv: AZ)
Damit ist es also keineswegs per se sachlich unzulässig, sich hinsichtlich der freien Persönlichkeitsentwicklung auf das Grundgesetz zu beziehen. Aus ihm leitet sich zwar kein direktes Recht ab, das einklagbar ist. Sollte es jedoch zu einem Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und dessen Arbeitgeber kommen, bei dem sich der Arbeitnehmer zu stark in seiner freien Persönlichkeitsentfaltung eingeschränkt sieht, muss bei der Rechtssprechung geprüft werden, ob das Urteil mit der Werteordnung vereinbar ist, die unser Grundgesetzes darstellt. Soviel zu der erfrischend differenzierten Auslegung des erwähnten Verfassungsrechtlers. Eigentlich würde ja schon das reichen, um meine Argumentation zur Begründung der Demokratisierung der Arbeit zu stützen. Es kommt aber noch viel besser.
Das Betriebsverfassungsgesetz BetrVG
Als ich die obige Geschichte einem Kunden erzählte, seines Zeichens erstens Volljurist und zweitens langjähriger Betriebsratvorsitzender in einem Unternehmen mit rund 15 Tausend Mitarbeitenden, machte der mich sogleich auf §75, Abs. 2 des Betriebsverfassungsgesetzes aufmerksam:
„Arbeitgeber und Betriebsrat haben die freie Entfaltung der Persönlichkeit der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer zu schützen und zu fördern. Sie haben die Selbständigkeit und Eigeninitiative der Arbeitnehmer und Arbeitsgruppen zu fördern.“ (BetrVG §75, Abs. 2)
Dabei gilt das BetrVG sachlich “… in Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind.” (Art. 1, Abs. 1, Satz 1). Räumlich gilt es im gesamten Bundesgebiet. Es ist damit ein wirklich faszinierender legislativer Tatbestand hinsichtlich der freien Persönlichkeitsentwicklung im beruflichen Kontext. In allen wie zuvor definierten Betrieben gilt es also, die freie Persönlichkeitsentfaltung der Angestellten zu „schützen und zu fördern“, was natürlich die Selbstständigkeit und Eigeninitiative der abhängig Angestellten betrifft. Das ist ein starkes Statement der Legislative und nicht einfach so vom Tisch zu wischen. Damit bekommt die Unternehmensdemokratie, für die wir unternehmensdemokraten einstehen, eine ganz andere Wendung und ein anderes Gewicht. Offensichtlich liegt hier ein rechtlich kodifiziertes mögliches Spannungsfeld zwischen den Interessen der Eigentümer:innen und Geschäftsführungen einerseits und den Angestellten andererseits vor. Damit ist die Demokratisierung der Arbeit zumindest in den oben definierten Betrieben keine bloße Schönwetterveranstaltung, wie es oftmals kritisiert wird.
Konkret kann BetrVG §75(2) wie folgt interpretiert werden: „Nach § 75 Abs. 2 BetrVG sind Arbeitgeber und Betriebsrat zum Schutz der freien Entfaltung der Persönlichkeit des Arbeitnehmers verpflichtet. Diese Verpflichtung stellt eine Schranke sowohl für ihre Regelungsbefugnis als auch für den Inhalt der von ihnen getroffenen Regelungen, z. B. in Betriebsvereinbarungen, dar (so BAG, Urteil v. 25.4.2017, 1 ABR 46/15). Die in § 75 Abs. 2 Satz 1 BetrVG normierte Schutzpflicht verpflichtet die Betriebsparteien, rechtswidrige Verletzungen der Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer zu verhindern und Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte nur vorzunehmen, soweit dies aufgrund berechtigter betrieblicher Interessen, insbesondere auch im Interesse der anderen Arbeitnehmer und eines ungestörten Arbeitsablaufs erforderlich ist.“ (Heise, G.; kursiv: AZ)
Auch wenn ich die Konsequenzen sowohl des GG Art. 2, Absatz 1 und dessen mittelbare Drittwirkung als auch die des BetrVG §75, Abs. 2 nur grob überblicke, so scheint doch eines klar: Die freie Entfaltung der Persönlichkeit bei der Arbeit lässt sich keineswegs als völlig realitätsfremder Wunschgedanke naiver New-Work-Weirdos abtun. Sie hat es immerhin an die prominente zweite Stelle (Art. 2) unserer grundlegenden juristisch kodifizierten Werteordnung des Grundgesetzes geschafft, muss von dort aus über den Weg der mittelbaren Drittwirkung in Betracht gezogen werden und hat über das BetrVG §75(2) eine noch unmittelbarere Wirkung in allen oben definierten deutschen Betrieben. Gar keine so üblen Bedingungen für Unternehmensdemokratie.
Herzlich Grüße
Andreas
Fußnoten
[1] Abgesehen davon, dass dies im Rahmen meines Vortrags kein Thema war, ist es natürlich eine legitime und vor allem äußerst wichtige Debatte: Was sind die Folgen privaten Eigentums und wie wollen wir damit zukünftig umgehen?
Dabei ist es wohl kaum so, dass ausgerechnet ich mit diesem Thema plötzlich um die Ecke komme und ansonsten einmütiger Konsens dazu bestünde. Stattdessen gibt es reichlich Forschung und Literatur zur Frage privaten Eigentums (nur ein paar wenige Beispiele: Graeber und Wengrow 2022, Huber 1978, Leibinger 2022, Rousseau 1755/2008, von Pechmann 2021). Allein schon die berühmte und unvergessliche Sentenz Rousseaus bot und bietet Anlass zum kritischen Diskurs: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.” (Rousseau 2008: 173)
Hinzu kommt, dass sogar dem Grundgesetz selbst keine beliebig liberale Position zum Eigentum zu entnehmen ist. In Art. 14, Absatz 2 heißt es klar, dass Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch zugleich dem Wohle der Allgemein dienen soll, was teils konkreter auch die Bayerische (Art. 151, Abs. 1) und die Rheinland-Pfälzische Landeverfassung (Art. 52, Abs. 2) regeln und was wohl in den meisten Fällen in der Praxis nicht umgesetzt werden dürfte, egal ob in Bayern, Rheinland-Pfalz oder sonst einem unserer Bundesländer.
Damit nicht genug: Derselbe Artikel 14 unseres Grundgesetzes regelt einen Absatz später sogar eine mögliche Enteignung (Art. 14, Abs. 3), was in Berlin aktuell im Zusammenhang mit dem Volksentscheid zur Vergesellschaftung von Wohnungsbeständen großer Wohungsunternehmen ein strittiges Thema ist (wobei ich in diesem Fall explizit von einer Vergesellschaftung nichts halte). Kurzum: Privates Eigentum ohne kritische Reflexion aggressiv zu verteidigen ist bereits vor diesem hier nur kurz skizzierten Hintergrund eine gewagte Angelegenheit.
Literatur
- Graeber, D.; Wengrow, D. (2022): Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta
- Heise, G. (Keine Jahresangabe): Tillmanns, Heise, u. a., BetrVG § 75 Grundsätze für die … / 4 Freie Entfaltung der Persönlichkeit. Haufe
- Huber, J. (1978): Kapital-Neutralisierung und Demokratisierung der Verfügung. Eine demokratische Alternative zu Privatisierung und Verstaatlichung des Eigentums. In: Huber, J.; Kosta, J. (Hrsg.): Wirtschaftsdemokratie in Der Diskussion. Europäische Verlagsanstalt:177–192
- JuraForum: Drittwirkung der Grundrechte – Definition, Erklärung und mittelbare vs. unmittelbare Drittwirkung
- Leibinger, J. (2022): Eigentum im 21. Jahrhundert: Metamorphosen, Transformationen, Revolutionen. Westfälisches Dampfboot
- Rousseau, J.-J. (1755/2008): Diskurs über die Ungleichheit. UTB: 173
- von Pechmann, A. (2021) Die Eigentumsfrage Im 21. Jahrhundert. Ein Rechtsphilosophischer Traktat Über Die Zukunft Der Menschheit. transcript.
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