Selbstorganisation und Partizipation. Diese beiden Begriffe hängen relativ offensichtlich zusammen und spielen für uns unternehmensdemokraten eine wichtige Rolle. Aber was genau meinen wir mit jedem dieser Begriffe und wie hängen sie zusammen? Mit diesem Beitrag versuche ich, etwas Klarheit zu schaffen.
Wer “Selbstorganisation” googelt, bekommt über 2,9 Millionen Treffern angezeigt. “Partizipation” überflügelt dieses Ergebnis mit 18,3 Millionen Treffer um das Sechsfache. Beide Begriffe sind damit alles andere als Nischenphänomene, zumal wir hier nur über die deutschsprachige Suche reden. Im internationalen Englisch sieht das nochmal anders aus: Selforganization: 11,4 Millionen. Self-Organization knackt sogar die Milliarden-Hit Grenze mit 1,77 Milliarden. Auch participation bringt es auf 1,21 Milliarden Treffer. Wer nun die deutsche Suche auf organisationale Selbstorganisation eingrenzt, wird immer noch Schwierigkeiten haben, alle Ergebnisse zu sichten: Der Suchstring “Selbstorganisation in Unternehmen” führt zu deutlich reduzierteren 8120 Ergebnissen. Lediglich die Suche nach dem sperrig anmutenden Begriff “organisationale Selbstorganisation” hat mit gerade mal 98 Treffern den Charakter von Spurenelementen. Dagegen erscheint “Partizipation in Unternehmen” schon wieder Massenware mit 17.400 Treffern. Es scheint sich also um recht häufige Begriffe zu handeln, die aber im Kontext von Transformationen und Organisationsentwicklung meist immer noch unpräzise verwendet werden. Inklusive falscher Versprechen.
Selbstorganisation
Definition
Organisationale Selbstorganisation definiere ich in drei Schritten:
- Organisationale Selbstorganisation meint Entscheidungsprozesse und damit verbundene Strukturen (Organisationsmodelle) sowie Methoden, die dezentral auch ohne formale Hierarchie dort getroffen werden, wo sie anfallen.
- Sie zeigt sich im Subsidiaritätsprinzip.
- Sie setzt eine Ermächtigung der Angestellten voraus.
Das Subsidariätsprinzip meint, dass eine höhere Hierarchieebene nur dann steuernd eingreift – aber immer dann – wenn die Möglichkeiten einzelner Angestellter (Mitarbeitende und Führungskräfte), eines Teams oder einer Abteilung auf einer niedrigeren Hierarchieebene allein zur Aufgabenlösung nicht reichen. Die Ermächtigung der Angestellten ist hinsichtlich der methodischen wie formalen Kompetenzen eine unbedingte Voraussetzung. Die Angestellten müssen entscheiden können und dürfen. Sie brauchen erstens fachliches wie methodisches Wissen und Handlungskompetenzen, zum Beispiel zur Durchführung selbstorganisierter Entscheidungsprozesse, und zweitens die Erlaubnis dies zu tun.
Selbstorganisation in Kapitalgesellschaften
Damit steht Selbstorganisation teilweise im Widerspruch zu traditionellen Aufbauorganisationen von Kapitalgesellschaften[1] mit ihrer formal-fixierten Hierarchie. Diese leitet sich zunächst in ihrer Grundgestalt aus dem jeweils anzuwenden Gesellschaftsrecht ab. Eine GmbH muss die im GmbH-Gesetz festgelegte, basale hierarchische Struktur aufweisen: “Die Gesellschaft muß einen oder mehrere Geschäftsführer haben.” (GmbHG §6, Abs. 1)[2] Nun muss noch unterschieden werden, ob der/die Eigentümer:innen zugleich die Geschäftsführer:inneen sind, oder ob sie Dritte zu Geschäftsführer:innen machen (Prinzipal-Agenten-Modell). Davon unbenommen entsteht an dieser Stelle ein eklatantes und wichtiges Machtgefälle zwischen den Geschäftsführer:innn und allen Angestellten. Denn erstens sind letztere Verrichtungsgehilfen (BGB § 831). Sie arbeiten auf Anweisung ihrer Dienstherrin oder ihrem Dienstherren. Das Machtgefälle ist aber noch steiler: Denn die abhängig Angestellten (welch passender Terminus) können zweitens durch die Geschäftsführung oder leitenden Angestellten unter Einhaltung des rechtlichen Rahmens entlassen werden. Aber niemand der Angestellten kann die Geschäftsführung oder ihre Vorgesetzten entlassen. Diese fundamentale Asymmetrie der Macht muss immer mitgedacht werden, wenn wir über Selbstorganisation oder Partizipation reden, oder alles was in den letzten Jahren so an Modebegriffen aufgekommen ist, wie New Work, Purpose-Driven-Organization, Teal-Organization etc. Weder Holacracy, noch Soziokratie oder kollegiale Führung ändert diese Machtstruktur.
Auch wenn Aktiengesellschaften bereits komplizierter sind – unter anderem weil es im Gegensatz zur GmbH einen Aufsichtsrat mit einer Arbeitnehmervertretung geben muss, der den Vorstand bestellt und selbst durch die Hauptversammlung der Aktionäre gewählt wird – so zeigt sich auch hier eine sehr ähnliche Asymmetrie rechtlich durchsetzbarer Macht. Weder ein Abteilungs- noch eine Bereichsleiterin kann ein Vorstandsmitglied entlassen. Selbstorganisation in Kapitalgesellschaften unterliegt somit dem jeweiligen Gesellschaftsrecht und muss deshalb mit dieser minimal rechtlich gesetzten formalen Hierarchie in Einklang gebracht werden. Infolgedessen gibt es keine vollständige Selbstorganisation, sondern immer nur eine Teilhabe an Entscheidungen, außer bei operativen und in geringem Umfang bei taktischen Entscheidungen[3]. Und genau hier kommt der Begriff Partizipation ins Spiel.
Selbstorganisation als Selbstverständlichkeit
Jede formale Organisation funktioniert nur, weil dort gewollt oder nicht, bewusst oder unbewusst, Selbstorganisation auch dann stattfindet, wenn sie nicht als Steuerungs- und Gestaltungsmechanismus eingeführt wurde. Je größer und komplexer die Organisation bis hin zu transnationalen Konzernen mit mehreren Hunderttausend Beschäftigten in unterschiedlichen Zeitzonen und kulturellen Kontexten, desto mehr Selbstorganisation braucht es täglich, damit das alles nicht kollabiert. Die einfachste und sicherste Art, eine Organisation zu sabotieren besteht im Dienst nach Vorschrift. Wenn Mitarbeitende und Führungskräfte an für die Organisation vitalen Stellen nicht mehr selbstständig mitdenken und selbstbestimmt handeln würden, käme es vermutlich schnell zu einer mitunter gefährlichen Schieflage. Wenn dort nur noch das gemacht würde, was die Stellenbeschreibung und gegebenenfalls Organisationshandbücher festlegen, könnte die Organisation keine von den Regeln nicht erfasste Herausforderungen absorbieren. Sie wäre blind gegenüber internen und externen nicht formal beschriebenen Problemen.
Mit dieser faktisch vorhandenen und nötigen Selbstorganisation ist zwar offensichtlich nicht das gemeint, was ich oben als Selbstorganisation definiert habe. Sie würde vermutlich noch den ersten Punkt erfüllen, aber sicherlich nicht mehr das Subsidiaritätsprinzip aus Punkt zwei. Insofern ist und bleibt es eine nicht unerhebliche Aufgabe, die oben definierte Selbstorganisation in eine Organisation einzuführen, sie aufrechtzuerhalten und dauerhaft den jeweils neu entstehenden Anforderungen gemäß umzusetzen, sofern dies von der Geschäftsführung und/oder den Eigentümer:innen gewollt ist. Aber sie ist eben nichts völlig Neues, sondern ist im Alltag in den kleinen Dingen der täglichen Arbeit längst Wirklichkeit.
Partizipation
Definition
Partizipation ist die Teilhabe an Entscheidungen verschiedener Tragweite in Organisationen (operativ, taktisch, strategisch und normativ). Sie basiert aufgrund des Gesellschaftsrechts auf einer doppelten Freiwilligkeit:
- Ihre Grundlage ist die freiwillige Anerkennung des informellen Rechts auf Partizipation der Mitarbeitenden durch die Eigentümer:innen und die Geschäftsführung/den Vorstand.
- Sie beruht auf der Freiwilligkeit der Mitarbeitenden: Das informelle Recht auf Selbstbestimmung umfasst auch das Recht, fremdbestimmt arbeiten zu wollen.
Selbstorganisation braucht Partizipation im oben definierten Sinn, weil sie in den meisten Fällen formaler Organisationen nicht vollständig sein kann. Sie meint dann die direkte Teilhabe an Entscheidungen, also weder eine rein selbstbestimmte Entscheidung (zum Beispiel heute vom Home Office aus zu arbeiten), noch eine indirekte durch die Repräsentation der Arbeitnehmerinteressen durch einen Betriebsrat. Gegen den ist übrigens nichts einzuwenden, im Gegenteil. Es ist nur so, dass erstens Partizipation auch an weitreichenden Entscheidungen keinen Betriebsrat voraussetzt und zweitens mit 46% in 2019 weniger als die Hälfte aller Unternehmen ab 5 Beschäftigten eine Arbeitnehmervertretung hatten. Würden wir Partizipation auf die indirekte Teilhabe über die kollektive Interessenvertretung reduzieren, hätte mehr als die Hälfte aller Unternehmen keine Option auf Partizipation.
Wenn wir also über organisationale Selbstorganisation reden, wenn eine Organisation sie als Governance, als Steuerungs- und Regelungsstruktur einführen will, muss Partizipation immer mitgedacht werden. Es braucht dann ein klares Verständnis, was neben der Selbstorganisation mit organisationaler Partizipation gemeint ist, welche Reichweiten und Grade sie aufweist und welche Herausforderungen sowie Probleme sie neben ihren Vorteilen mit sich bringt. Und das bei all dem der rechtsverbindliche Rahmen des jeweiligen Gesellschaftsrechts nicht ignoriert werden kann. Es kann deshalb beim entsprechenden Gesellschaftsrecht in den meisten Situationen nur eine hybride Governance erarbeitet werden, eine Mischform aus formal-fixierter Hierarchie und Selbstorganisation mit Partizipation an verschiedenen Entscheidungsprozessen. Eine angeblich “hierarchiefreie” Organisation ist in den meisten Fällen somit eine naive oder verschleiernde Behauptung.
Herzliche Grüße
Andreas
Fußnoten
[1] Ich beschränke mich hier auf die Kapitalgesellschaften GmbH und AG als mit Abstand häufigste Rechtsformen bei Unternehmen ab 10 Beschäftigten (vgl.Statista 2022). Dabei ist noch zu beachten, dass Selbstorganisation bei drei, vier oder fünf Beschäftigten kaum der Rede wert ist. Interessant wird es unserer Erfahrung nach ab ca. 15 Beschäftigten, wobei die Herausforderung naheliegend mit zunehmender Unternehmensgröße wächst.
[2] Eine interessante Option lässt das GmbHG jedoch für kleinste Unternehmen zu: Die Geschäftsführerin einer kleinen GmbH mit beispielsweise 10 Beschäftigten könnte, sofern sie selbst die Eigentümerin ist, bzw. sie grünes Licht von einem externen Eigentümer bekommt, allen interessierten Beschäftigten die gleichberechtigte Geschäftsführung anbieten. Das GmbHG schließt nicht aus, dass alle Beschäftigten zugleich die Geschäftsführer:innen sind. Bei einer solchen Konstruktion wäre der wohlklingende aber juristisch irrelevante Begriff “Augenhöhe” plötzlich sogar rechtlich zutreffend. Nach meinem Kenntnisstand wäre dies auch für größere Unternehmen denkbar, würde aber auf praktischer Ebene skurrile Probleme mit sich bringen, z.B. wenn 300 Geschäftsführer:innen auf dem offiziellen Briefpapier aufgeführt werden müssten.
[3] Operative Entscheidungen, bzw. Partizipationsreichweite meint die Entscheidungen der alltäglichen Arbeit: Arbeitsort, -zeit, -mittel etc. Die taktische Reichweite umfasst zum Beispiel TeamRecruiting, Projektauswahl, Arbeitsmethoden etc. Insgesamt unterscheide ich die genannten Bereiche zuzüglich strategischer und normativer Entscheidungen (vgl. “Paradoxien der Partizipation“, Abb. 1)
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