Seit der Veröffentlichung des Buchs “Holacracy. The New Management System for a Rapidly Changing World” (Robertson 2015) haben zunehmend mehr Holacracy Berater:innen versprochen, damit einige der Nachteile klassischer Aufbauorganisationen zu lösen. Es kursierten recht schnell ein paar Listen von Unternehmen, die nun per Holacracy organisiert sind – natürlich erfolgreich. Allerdings mangelte es bislang an wissenschaftlichen Analysen der tatsächlichen Effekte, die über eher anekdotische Einzelfallbeschreibungen hinausgehen. Nun liegen äußerst interessante Ergebnisse einer mehrjährigen deutschen Untersuchung vor.
Anmerkung vorab: Auch dieser Beitrag enthält wieder Fußnoten in [eckigen Klammern], um den Haupttext nicht zu überfrachten. Sie sind zum Verständnis nicht nötig, enthalten aber m.E. durchaus weitere interessante, lohnenswerte Aspekte und Vertiefungen.
Organisations- und Managementmodelle gibt es nicht erst seit gestern. Wir blicken vielmehr auf eine langjährige Geschichte zurück, auf Phasen in denen die bis heute existente klassische Aufbauorganisation mit ihrer formal-fixierten Hierarchie und einer starken Zentralisierung favorisiert wurde, abgelöst von solchen, in denen Dezentralisierung und die Auflösung der Hierarchien und Abteilungsgrenzen im Fokus stand. Ebenso änderten sich im Laufe der Zeit die Bilder, die wir uns von unseren Organisationen machten. Mal beschrieben wir sie technizistisch als Maschine oder Betriebssysteme, ein anderes Mal biologistisch als lebende Organismen oder Gehirn (Morgan 1997). Mal mussten die Mitarbeitenden, anfänglich noch die Arbeiter:innen im engeren, klassendefinierten Sinn, angeleitet, motiviert und kontrolliert werden, dann wiederum war es eher en vogue, auf die intrinsische Motivation zu setzen und dafür zu sorgen, dass die Organisationen ein dafür förderliches Umfeld bereit stellten (X-Y Theorie, McGregor 1970). Inwiefern das eine oder andere Modell, oder die eine oder andere Theorie gegebenenfalls als falsifiziert gelten können, ist an dieser Stelle nicht weiter wichtig. Es geht mir nur um die Historizität und eine Entwicklung, die mit ziemlicher Sicherheit nicht stringent-evolutionär war, sondern erstens mal so mal so und zweitens kontingent, also auch anders hätte verlaufen können. Das ist insofern relevant, da das wohl erfolgreichste Buch im Zusammenhang mit Holacracy, “Reinventing Organizations”, ein evolutionäres, sich in Stufen entwickelndes Organisationsverständnis zugrundelegt (Laloux 2015), das aber nicht haltbar ist.
Ich selbst hatte einiges an Holacracy bereits 2016 hinterfragt, sowohl grundlegend konzeptuell (Vom Scheitern eines Betriebssystems) als auch hinsichtlich der schon damals immer wieder von Holacracy Berater:innen und Beratungsunternehmen präsentierten Listen von Organisationen, die bereits erfolgreich Holacracy verwenden und als Nachweis der Wirksamkeit dienen sollen (Eine kurze Analyse der Fallbeispiele). Laut Kühl war ich wohl der erste, der die folgende Beobachtung publizierte: “In den Listen von holakratischen Vorreiterorganisationen fällt der hohe Anteil von kleinen Beratungsfirmen mit einer Handvoll Mitarbeitern auf, die nicht selten als einziges Produkt die Einführung holakratischer Organisationsmodelle haben.” (Kühl 2023: Die Lobpreisung von Vorreiterorganisationen). Genau. Mein Resümee damals: “Die typische Organisation, die Holacracy nutzt, hat rund 48 Mitarbeiter:innen und ist im Dienstleistungsbereich tätig.” Wieso also sollte eine Forschergruppe ein Organisationsmodell aufwändig untersuchen, dessen Einsatzbereich ziemlich begrenzt zu sein scheint und das zweitens bis heute nur von einer völlig irrelevanten Menge an Organisationen genutzt wird? Kühls Antwort: “Während die Promotoren anderer Managementkonzepte bestenfalls einen Werkzeugkasten präsentieren, aus dem sich Organisationen die für sie geeigneten Hilfsmittel heraussuchen können, wird die Holacracy als ein geschlossenes Organisationskonzept propagiert, in denen die einzelnen Elemente präzise aufeinander abgestimmt seien. Die Elemente griffen, so jedenfalls das Versprechen, so genau ineinander, dass eine neuartige Organisationsform ohne Silobildung und ohne Hierarchie geschaffen werden könne.” (a.a.O.: Das Interesse an hyperformalisierten Systemen) Das ist in der Tat ein interessanter Untersuchungsgegenstand.
Holacracy: Das Versprechen
Robertson und die durch seine Firma HolacracyOne zertifizierten Berater:innen versprechen mit Holacracy eine gut umsetzbare Lösung der Probleme, die aus der bisherigen klassischen Aufbauorganisation entstehen, sobald die Welt zunehmend komplexer und dynamischer wird. Dazu zitiert Robertson in seinem Buch zu Beginn den Berater Gary Hamel: “The world is becoming more turbulent than organizations becoming adaptable.” (Robertson 2015: 8). Damit ist das Problem im Kern umrissen. Es stellt sich also die Frage, “how can we make an organiziation not just evolved but evolutionary?” (a.a.O.: 7, kursiv im Original) Womit sich zugleich die Nähe zu Laloux zeigt, der in seinem Buch Holacracy als einziges alternatives Organisationsmodell ausführt und regelmäßig erwähnt[1]. Der Schlüssel für diese Lösung liegt für Robertson in Anlehnung an den Ökonomen Eric Beinhocker darin, die Evolution in das Unternehmen hineinzutragen. Schauen wir uns nun genauer an, worin die Kritik seitens der Holacracy Vertreter:innen an der klassischen Aufbauorganisation besteht:
Erstens ist die Siloisierung durch Abteilungen und deren Abgrenzung untereinander ein Problem, denn die verschiedenen Abteilungen, zumindest aber großen Funktionsbereiche wie Forschung und Entwicklung, Produktion, Marketing, Vertrieb, Controlling etc. folgen teils erheblich unterschiedlichen Logiken, die oft zu Widersprüchen und Konflikten führen. Dieser Effekt wird zusätzlich verstärkt, indem die Mitarbeitenden in der traditionellen Organisation meist nur in einer Abteilung arbeiten und damit ihre Perspektive auf die Organisation zwangsläufig verengen. Zweitens folgt aus der Hierarchie ein fortlaufender Informations- und Motivitationsverlust. Ersterer findet dabei sowohl top-down als auch bottom-up statt. Die Demotivation ist eine Folge verschiedener Aspekte. Besonders selbstständige Menschen können ihre Schwierigkeiten damit haben, als Verrichtungsgehilfe (§831 BGB) auf Anweisung ihres Dienstherren zu arbeiten. Oder wenn sich Entscheidungen in einem bürokratisch-kafkaesken Niemandsland übermäßig in die Länge ziehen, weil formale Wege der Hierarchie eingehalten werden müssen, obwohl sie offensichtlich vollkommen sinnentleert sind[2]. Was zugleich das dritte Problem ist: Die bürokratische Überregulation. Viertens kommt hinzu, dass die verschiedenen Seiten der Organisation, die formale (Organigramm), die informale (bei Robertson die tatsächliche) sowie die Schauseite (die Außendarstellung), nicht deckungsgleich sind. All diese Schwierigkeiten sind keine Erfindung von Robertson oder den Holacracy Berater:innen, sondern wir können sie alle nicht nur beobachten, sondern dürften sie vermutlich auch schon erlebt haben. Die Diagnose ist zutreffend, aber wenig originell. Sie ist vielmehr in guter Gesellschaft jahrzehntelanger Kritik an der klassischen Aufbauorganisation.
Der Lösungsansatz
Wie will Holacracy diese Probleme lösen? “Die holakratischen Organisationen nutzen einen geschickten Kniff, um die Auflösung von Abteilungsgrenzen und die Aufweichung von Hierarchien zu erreichen: eine detaillierte formale Fixierung aller nur vorstellbarer Erwartungen an die Organisationsmitglieder…” (Kühl 2023: Funktionen der Hyperformalisierung von Organisationen).
- Das wird dadurch erreicht, dass die Angestellten nicht mehr in einer Abteilung entlang ihrer Stellenbeschreibung arbeiten, sondern dass sie verschiedene Rollen einnehmen können, die wiederum in verschiedenen Sub-, Subsubkreisen und so weiter angesiedelt sind. Damit sind die Abteilungsgrenzen im Sinne der meist eindeutigen Zuordnung der Mitarbeitenden zu Abteilungen aufgelöst.
- Wichtig ist, dass dann jede Rolle haarklein (a) über ihren jeweiligen Zweck (Purpose), (b) den Zuständigkeitsbereich (Domain) und (c) die konkreten Aufgaben (Accountabilities) definiert und exakt dokumentiert wird, meistens in einer der einschlägigen Holacracy Steuerungssoftware wie Glassfrog (die Standardlösung aus dem Hause Robertsons, ein kluger geschäftlicher Schachzug).
- Die Mitarbeiter:innen arbeiten nicht mehr auf Anweisung ihrer Vorgesetzten, sondern im Rahmen ihrer Rollen eigenverantwortlich.
- Das Problem der mangelnden Adaptivität an das turbulente Umfeld soll insbesondere dadurch gelöst werden, dass sich die formale Struktur – Kreise und Rollen – fortlaufend relativ schnell verändern kann. Alle die eine Differenz zwischen der aktuellen und einer sinnvolleren Struktur hinsichtlich des organisationalen Purpose wahrnehmen, können dies als “Spannung”[3] in die regelmäßig stattfindenden Governance-Meetings einbringen und im stark formalisierten Prozess der integrativen Entscheidungsfindung[4] zu einer neuen formalen Struktur transformieren, sprich: Bestehende Rollen und Kreise ändern oder abschaffen sowie neue kreieren. Somit befindet sich die formale Struktur einer Organisation in einem deutlich schnelleren fortlaufenden Veränderungsprozess, als in klassischen Aufbauorganisationen.
Zwei weitere wichtige Elemente sind die beiden Meetingstrukturen des tactical und des eben erwähnten Governancemeetings. Dabei unterscheiden sich beide Meetings hinsichtlich der zu behandelnden Inhalte: Tactical Meetings dienen der Bearbeitung von nächsten Schritten innerhalb bestehender Rollen und Kreise, sind also so etwas wie das Tagesgeschäft innerhalb der bestehenden Strukturen, während die Governance Meetings wie oben schon erwähnt und wie es auch der Name treffend sagt, der Bearbeitung der Struktur des Steuerungs- und Regelungssystems dient, aber auf keinen Fall der Änderung der Verfassung! Die darf nicht angerührt werden. “Sowohl der Ablauf der »Tactical Meetings« als auch der »Governance Meetings« sind dabei bis ins kleinste Detail vorgegeben.” (Kühl 2023: 4.4 Versuch der Formalisierung der Interaktion) Aus Sicht von Kühl findet auch hier eine Hyperformalisierung statt, wobei das aber nur ein Aspekt ist. Mindestens genauso wichtig ist die Konsequenz für Entscheidungsfindungen, die aus der Methodik folgt, die Kühl aber nicht untersucht hat[5]. Sonstige Meetings jenseits der beiden eben beschriebenen wurden in der Verfassung 4.1.4 (in der Version von dwarf&giants) “Kreis-Meeting” genannt, das aber nur zwei mal auftaucht und interessanterweise in keiner Weise weiter ausgeführt wurde. Kreis-Meetings sind damit das Gegenteil der hyperformalisierten anderen beiden Meetings. Soweit in aller Kürze zum methodischen Vorgehen, um die beschriebenen Probleme klassischer Aufbauorganisationen durch die Einführung von Holacracy zu lösen.
Studiendesign
Die Forschungsgruppe um Stefan Kühl, Dustin Brodda, Serafin Eilmes, Adrian Strothotte, Robin Sturhahn und Phanmika Sua-Ngam-Iam, untersuchte fünf holakratische Organisationen. Sie führten teilnehmende Beobachtungen (meist mit mehreren Forschenden) bei sieben Tactical sowie zwei Governance Meetings durch und erstellten Feldnotizen von formalen holakratischen und nicht-holakratischen Meetings, und Gruppenaktivitäten (Mittagessen, Meditationen, Einzel- und Gruppengespräche). Zusätzlich wurden in allen Organisationen in einer ersten Erhebungsphase im Dezember 2018, Januar, März und Oktober 2019 Interviews mit einzelnen Mitgliedern durchgeführt. Es folgte eine zweite Erhebungsphase in vier der fünf Organisationen im Juni 2020, ergänzt durch zusätzliche Interviews mit Holacracy-Expert:innen aus Beratung und Forschung im Juni und Dezember 2020. In Summe entstanden so 65 leitfadengestützte Interviews mit 52 Personen, die durchschnittlich ungefähr eine Stunde dauerten. Pro Organisation wurde je mindestens eine Person interviewt, die bei der Gründung und/oder als Geschäftsführer:in tätig war sowie Personen, die für die Einführung und Weiterentwicklung der Holacracy verantwortlich waren. Die Feldnotizen sowie Transkripte (der Audio- und Videoaufzeichnungen) wurden anschließend mit der qualitativen Inhaltsanalyse aufbereitet und untersucht (vgl. Kühl & Sua-Ngam-lam 2023: 8-13).
Drei der Organisationen waren IT-Unternehmen, eines war in der Produktion und im Vertrieb von Konsumprodukten tätig, das fünfte im Großhandel. Alle hatten ihre Standorte in Deutschland und der Schweiz, zwei hatten zudem Niederlassungen in weiteren Ländern. Die Belegschaftsgröße reichte von 25 bis 500. Holacracy wurde mindestens vor fünf Jahren oder mehr eingeführt. Während der Datenerhebung arbeiteten die Organisationen mit der Holacracy Verfassung 4.1 (die aktuelle Version 5.0 liegt seit dem 01. Juni 2021 vor). Drei Fünftel der Organisationen, also 60%, waren vor der Transformation zum holakratischen Unternehmen klassische Aufbauorganisationen. Wichtig anzumerken ist, dass die organisationssoziologische Brille zur Untersuchung vor allem der Klassiker deutscher systemischer Organisationssoziologie war: “Funktionen und Folgen formaler Organisation” (Luhmann 1972).
Interessant ist noch eine Bemerkung von Kühl in seinem zusammenfassenden Sachbuch: “Zu meiner eigenen Überraschung war trotz der Prominenz einiger holakratischer Organisationen in den Massenmedien der empirische Zugang alles andere als einfach. Die ursprünglich zugesagten Interviews mit einer Beratungsfirma, die nicht nur die Einführung von Holacracy anbot, sondern selbst zur internen Strukturierung das Prinzip der Holacracy verwendete, wurde mir kurzfristig mit dem Hinweis auf stark gestiegenes Auftragsvolumen wieder abgesagt. Auf der Hinterbühne erfuhr ich dann, dass der eigentliche Grund der Absage ein heftiger interner Konflikt über das holakratische Organisationsmodell war. … Auch weitere Versuche, einen Feldzugang zu erreichen blieben erfolglos.” (2023: Nachwort zur Methodik) Das ist in zweifacher Hinsicht interessant: Erstens sagt es etwas über die Konfliktfähigkeit einer holakratischen Organisation. Zweitens kommt die Frage auf, wieso die Berater:innen die Option einer Beforschung des eigenen Organisationsmodells nicht zur internen Organisationsentwicklung genutzt haben. Das wäre doch naheliegend gewesen. Vielleicht hätte damit sogar der Konflikt durch eine distanzierte Außenperspektive gelöst werden können. Statt dessen wurde sogar der wahre Grund der Absage kaschiert. Die untersuchten Firmen fanden sich erst später.
Holacracy: Folgen der Hyperformalisierung
In diesem Beitrag gebe ich nur einen kurzen Überblick über einige der Studienergebnisse, da ich diese durch einen oder mehrere Dialoge mit der Forschungsgruppe vertiefen möchte, um sie dann hier im Blog zu publizieren. Höchst interessant scheint mir zum Beispiel die Entwicklung der Verfassung, die – wenn ich es richtig überblicke – seit der Version 5.0 unter 2.4 “Beziehungsvereinbarungen” reguliert und formalisiert. Ab dieser Version “dürfen” Beziehungsvereinbarungen geschlossen werden, was die Frage aufwirft, wie damit die Jahre zuvor umgegangen wurde und vor allem, was sich dadurch in der organisationalen Praxis ändert. Nun zum Ergebnisüberblick:
- Entwicklung von “Formalitätsruinen”: Damit sind erstens Kreise gemeint, deren Mitglieder sich nicht oder kaum in den Tactical und Governance-Meetings treffen und zweitens Rollen, die keine Wirkung entfalten. Die Erwartungshaltungen, die in den jeweils genutzten Softwareprogrammen ausbuchstabiert und dokumentiert wurden, haben keine oder nur marginale Bedeutung für die Organisation. Ein Beispiel könnte die Rolle “Party People” bei dem New-Work-Beratungsunternehmen dwarf&giants sein: Außer dem “Überblick” in glassfrog sind dort alle weiteren Kategorien “Policies, Notizen, Projekte, Checklisten, Kennzahlen und Verlauf” nicht befüllt, ebenso wie bei der dortigen Rolle “Long-term Lama”, deren Zweck das “Langzeitdenken organisationaler Routinen” ist[6]. In Folge der Möglichkeiten, schnell (agil!) immer neue Rollen und Kreise zu schaffen, kommt es zu “Verschlankungskampagnen”, die wiederum paradoxe Effekte weiterer Formalisierung nach sich ziehen, indem z.B. “Rollen eingerichtet [werden], die als “Müllmänner” dafür sorgen sollen, unnötig gewordene Rollen zu entfernen.” (Kühl 2023: Die paradoxen Effekte der Verschlankungskampagnen)
- Entzugsmöglichkeiten durch Rollenvielfalt: Mitarbeitende sind ja nicht mehr auf einer “Stelle”, sondern können statt dessen vielfältige Rollen in verschiedenen Kreisen annehmen. Das führt zu Überforderungen oder auch Möglichkeiten zur Ausflucht, indem ehrlich oder vorgeschoben argumentiert werden kann, dass diese Vielfalt die Erledigung aller Aufgaben verhindert. Da wiederum keine Vorgesetzten im klassischen Sinn existieren (außer natürlich in letzter juristischer Instanz die Geschäftsführung), kann dieses Problem auch nicht durch die jeweils höhere hierarchische Position gelöst werden.
- Formalisierte Interaktionen verhindern offenen Austausch: Da die Meetingstrukturen (Tactical und Governancemeetings) sehr stark formalisiert sind, ist es schwierig, Möglichkeiten für einen offenen Austausch zu finden. Dadurch kommt es dazu, dass Entscheidungen im Vorfeld besprochen und abgestimmt werden. Die Meetings werden dann nur noch ritualisiert durchgeführt ohne echte Diskussionen. Der Formale Rahmen verkommt zu einem toten Ritual (➔ Formalitätsruine).
- Erstarrung durch die Verfassung: Eigentlich dient die Verfassung dazu, dass nicht durch die Hintertür wieder Elemente der klassischen Aufbauorganisation eingeführt werden. Sobald aber Holacracy Organisationen eine Steuerungssoftware wie Glassfrog oder Holaspirit nutzen, steigt der Aufwand exorbitant, die mit der Verfassung festgelegten grundlegenden Prinzipien der Holacracy zu modifizieren. Somit entsteht wieder eine ähnliche Erstarrung wie bei formal-hierarchischen Organisationen, die ja das Problem waren, das mit Holacracy gelöst werden sollte.
- Bildung von Schattenabteilungen: Beim Umzug in neue Räumlichkeiten zeigte sich ein interessanter Effekt: “Wenn die Organisation neue Räume bezieht, dann bilden die Mitglieder, die häufiger zusammenarbeiten, eine Tischgruppe, auch wenn ihre regelmäßige Kooperation nicht durch einen Kreis abgebildet wird. Die Tischgruppen geben sich dann eigene Namen und schmücken ihre Tischgruppe mit Symbolen, die markieren, dass die Mitarbeiter hier zu einer Abteilung gehören, die offiziell als Abteilung gar nicht existiert.” (a.a.O.: Die Entstehung von Schattenabteilungen) In projektbasierten Firmen werden Projektteams kaum oder gar nicht mehr entlang der Holacracy Strukturen und Prozesse organisiert, sondern als mehr oder minder klassische Projektteams, die für ihre Koordination Projektmanagementsoftware nutzen.
- Entstehung von Hinterbühnen: “Wichtige Entscheidungen werden nicht in der holakratischen Struktur diskutiert, sondern in geschlossenen Channels im organisationsinternen Kommunikationssystem vorentschieden … Gründer treffen sich in organisationsexternen Messenger-Diensten, in denen Entscheidungen für die holakratische Organisation vorbereitet werden. Es werden jenseits der offiziellen Ablagesysteme schwarze Listen der Mitarbeiter geführt, von denen sich die Organisation trennen sollte.” (a.a.O.: Die Ausbildung von Hinterbühnen) Mit anderen Worten: Die Bemühungen um maximale Transparenz – eben unter anderem durch die Steuerungssoftware, die ja sogar die Möglichkeit erlaubt, Externen einen Einblick in die formale Struktur der Organisation zu ermöglichen – führen zur Bildung versteckter Kommunikationsräume. “Diese informalen Kommunikationswege können eine solche Dynamik entwickeln, dass im Schatten weitgehender Transparenz ganze Unternehmensteile ihren Ausstieg aus der Organisation vorbereiten.” (a.a.O.: Das Transparenzparadox holakratischer Organisationen)
Resümee
Selbst in der Kürze der obigen Zusammenfassung wird klar, dass Holacracy keineswegs seine Versprechen hält. Es entstehen paradoxe Effekte, die weder im Sinne des “Erfinders” Brian Robertson waren, noch der Einzelberater:innen und Beratungsunternehmen, die Holacracy in Organisationen einführen. Somit scheint es ratsam, sich gut zu überlegen, inwiefern es ziel- und zweckdienlich ist, dieses Organisationsmodell umfassend in die eigene Organisation einzuführen. Die wesentlichen Prinzipien, Methoden und Instrumente sind außerdem in der Open Source Lösung der Soziokratie und längst weiterentwickelten Soziokratie 3.0 frei verfügbar. Somit stellt sich die Frage, warum man sich einem stark kommerzialisierten Modell unterwerfen sollte, dessen unerwünschte Nebenwirkungen (die es natürlich in allen Organisationsmodellen gibt) teils nur unter erheblichen Aufwand lösbar sind. Falls überhaupt.
Herzliche Grüße
Andreas
Fußnoten
[1] Diese methodische Reduktion ist widersprüchlich, weil sie im Sinne einer evolutionären Adaptivität eine Einengung der Möglichkeiten darstellt. Denn ganz offensichtlich ist nicht jede Organisation geeignet, um Holacracy zu übernehmen. So haben schon mehrere unserer Kunden darüber berichtet, wie sie von der Hyperformalisierung (Kühl 2023), die in der kleinteiligen und überbordenden Verfassung kodifziert ist, vollkommen abgeschreckt wurden (kein Wunder: Die deutsche Version 4.1.4. des Holacracy Beratungsunternehmens dwarf&giants umfasst 45 Seiten). Mal ganz abgesehen von Größenfragen, denn die meisten Holacracy Unternehmen sind ja, wie eben dargestellt, ziemlich kleine, teils winzige Unternehmen. Tatsächlich hatte ich in den erwähnten Listen Unternehmen mit weniger als 5 Mitarbeitenden gefunden. Wie sinnvoll das ist, mag jeder selbst entscheiden.
[2] Derartiges durften wir schon selbst bei dem einen oder anderen Kunden erleben. Besonders interessant ist meines Erachtens die Frage, wann (formale) Regeln gebrochen werden sollten, weil sie ihren Sinn nicht mehr erfüllen und wie damit in der Organisation umgegangen wird. Dabei gibt es längst eine Sinnkonstruktion zweiter Ordnung, wenn die sinnfreie Regel (beliebt: Reisekostenerstattung) nur noch deshalb exerziert werden muss, um im Streitfall ein formales Druckmittel zu haben (vgl. Matthiesen et al. 2022: Nicht einhaltbare Regeln).
[3] Diese Spannung zwischen einem Ist- und Soll-Zustand ist natürlich nicht die Erfindung von Robertson, wenngleich er das so impliziert: “I call this a tension..” (Robertson 2015: 5), ohne auf längst vorhandene Ausführungen dazu zu verweisen. Spannungen wurden beispielsweise bereits im Zusammenhang mit dem Konzept der Lernenden Organisation ausführlich behandelt (Senge 1990). Die Vermutung liegt nahe, dass Robertson sich dort bediente, denn am Ende seines Buchs dankt er eben auch Peter Senge. Insgesamt zeigt sich bei Robertson immer wieder der Versuch, verschiedene Gestaltungselemente, Konzepte etc., die Holacracy nutzt, als originäre Erfindung darzustellen. Das gilt freilich zuvörderst für das gesamte Modell, dass schon lange zuvor als Soziokratie von Kees Boeke und Gerard Endenburg von den 1920ern (Boeke) bis in die 1970er (Endenburg) entwickelt wurde, wobei sich die Wurzeln sogar noch weiter bis zu Lester Frank Ward zurückverfolgen lassen (Ward 1893). Wenn wir die Namensgebung noch einbeziehen, dann müssen wir sogar bis zu Auguste Comte 1851 zurückgehen. Diesen Tatbestand der vielen eher inkrementellen Entwicklungen bis hin zu direkten Übernahmen hat Robertson in die Danksagung ans Ende des Buches verlagert und so in weiten Teilen verschleiert. Am auffälligsten ist das bei der Soziokratie, die ja den Bärenanteil des Ausgangspunktes darstellt, sie wird nicht mal im Stichwortverzeichnis erwähnt. Der Bezug zu Ihr folgt erst fast am Schluss, nachdem alle möglichen anderen, für Holacracy wesentlich weniger ausschlaggebende Beiträge erwähnt wurden (Robertson 2015: 211).
[4] Die in der dritten Fußnote aufgezeigte copycat Mentalität zeigt sich auch bei der integrativen Entscheidungsfindung, die eine kleine Variation des seit Jahrzehnten erprobten soziokratischen Konsent ist. Es geht also wohl auch darum, mit dieser inszenierten Originalität das eigene Geschäftsmodell zu untermauern. Was natürlich nichts mit der Funktionalität von Holacracy zu tun hat, aber sehr wohl die ethische Integrität von Robertson fraglich erscheinen lässt, der sich nicht scheut, in einem Buch über ein Organisationsmodell über “Liebe” und gar “heilige Verbindungen” zu schreiben (“love” findet sich übrigens im Stichwortverzeichnis 2015): “We’re not dismissing or limiting a culture of love and care by installing Holacracy–in fact, we are making the domain of human connection more sacred…” (a.a.O.: 200)
[5] Darauf werde ich in einem avisierten vertiefenden Dialog mit Kühl und seinem Team eingehen, der hier in Blog hoffentlich in ein paar Wochen folgen kann.
[6] Selbstverständlich kann ich durch den alleinigen Blick auf die Rollendokumentation in glassfrog nicht beurteilen, ob diese beiden Rollen Formalitätsruinen sind. Gleichwohl deutet es darauf hin, wenn keinerlei Projekte eingetragen sind, denn in der Verfassung 5.0 steht dazu im Abschnitt Verantwortlichkeit von Rollen, Punkt 1.2.2: “Du bist dafür verantwortlich, regelmäßig darauf zu achten, wie du den Sinn und Zweck und jede Verantwortlichkeit deiner Rolle zum Ausdruck bringst, indem du Folgendes definierst: (b) “Projekte”, welche spezifische Ergebnisse darstellen, auf die hinzuarbeiten nützlich wäre, zumindest in Abwesenheit konkurrierender Prioritäten.” Somit sehe ich drei Möglichkeiten: (1) Es gibt keine gewünschten spezifische Ergebnisse der beiden genannten Rollen, (2) es gibt fortlaufend konkurrierende Prioritäten, so dass keine spezifischen Ergebnisse dargestellt werden können, (3) die Projekte wurden aus sonstigen Gründen ebenso wie die anderen vier Kategorien nicht eingetragen. In diesem Fall stellt sich die Frage nach dem Sinn und Zweck von glassfrog, wenn 5 von 6 Kategorien, also gut 83%, nicht genutzt werden. Diese beiden möglichen Formalitätsruinen habe ich nach einigen Minuten gefunden, habe mir aber eine systematische weitere Suche gespart. Es kann also gut sein, dass sich im holakratischen Organigramm des Unternehmens noch weitere Rollen finden, deren Bedeutung für die Organisation fraglich sein könnten.
Literatur
- Kühl, S. (2023): Schattenorganisation. Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung. Campus
- Kühl, S. & Sua-Ngam-lam, P. (2023): Holacracy. Funktionen und Folgen eines Managementmodells. Springer
- Laloux, F. (2015): Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Vahlen
- Matthiesen, K.; Muster, J. & Laudenbach, P. (2022): Die Humanisierung der Organisation. Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Grossteil seines Wesens ignoriert. Vahlen
- Luhmann, N. (1972): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Duncker & Humblot
- McGregor, D. (1970): Der Mensch im Unternehmen. Econ
- Morgan, G. (1997): Bilder der Organisation. Klett Cotta
- Robertson, B. (2015): Holacracy. The New Management System for a Rapidly Changing World. Henry Holt
- Senge, P. (1990): The fifth Discipline. The Art and Practice of the Learning Organization. Currency
- Ward, F.L. (1893): The Psychic Factors of Civilization. Ginn and Company
Bildnachweis
- Beitragsbild: vecteezy, free vector “Banner design with various experimental equipments lined up horizontally”
- Buchcover Holacracy: ©Henry Holt, Vom Verlag öffentlich zur Verfügung gestellt
- Buchcover Schattenorganisation: ©Campus, Vom Verlag öffentlich zur Verfügung gestellt
- Buchcover Holacracy: ©Springer, Vom Verlag öffentlich zur Verfügung gestellt