9. Degrowth-Konferenz in Zagreb. Lessons learned.

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Degrowth: Vom 29.08. bis zum 02.09.2023 fand die 9. Internationale Degrowth Konferenz statt. Ich war mit Karsten vom Bruch und Markus Eulenkamp aus unserem Netzwerk vor Ort. In diesem Beitrag berichte ich kurz über unsere Eindrücke und einen für mich besonders interessanten Aspekt.

Die Konferenz-Reihe wurde 2008 in Paris eröffnet. Bei der damaligen Ausgabe waren rund 150 Teilnehmende dabei, also eine noch gut überschaubare Menge. Im Laufe der Jahre stieg die Zahl der Teilnehmenden stark an und fand bisher in der Leipziger Konferenz 2014 mit 3000 Teilnehmenden ihren Höhepunkt. In den folgenden Ausgaben ging die Anzahl deutlich auf unter 1000 zurück. 

Viel mehr als Schrumpfen.

Degrowth: Der Autor beim Verfassen des Blogbeitrags (glatt gelogen).
Der Autor beim Verfassen des Blogbeitrags (glatt gelogen).

Der Begriff Degrowth ist nicht eindeutig definiert. Er wird bis heute unterschiedlich interpretiert und genutzt. Er reicht bis in die 1970er zurück und wurde von dem französischen Ökonomen und Philosoph Serge Latouche als Decroissance in die Debatte eingeführt. Als der Begriff im Jahr 2000 bei einer entwicklungskritischen UNESCO-Kongresses in Paris genutzt wurde, sah Latouch darin den Beginn einer wachstumskritischen Bewegung. 

Degrowth ist kein eindimensionales Konzept, das ausschließlich für die Schrumpfung der Wirtschaft steht, sondern vielmehr für ein gutes Leben für alle Lebewesen innerhalb der planetaren Grenzen unabhängig vom bisherigen Wachstumszwang. Infolgedessen geht es auch und gerade um das Ungleichgewicht zwischen dem globalen Norden (EU, Japan, Kanada, USA etc.) und dem globalen Süden (vor allem Afrika und Lateinamerika, aber auch andere Länder wie Afghanistan, Bosnien-Herzegowina oder Vietnam, auch zusammengefasst als G77). Damit eng verbunden ist die Frage, was tatsächlich Schrumpfen muss (zB fossile Energieerzeugung und -gebrauch) und was vielmehr wachsen sollte (im selben Kontext: erneuerbare Energien). Durch diese Brille blicke ich auf die Konferenz.

Degrowth in der (Management)Ausbildung

Zagrebs Nachtleben.

Es gab einen bunten Reigen aus verschiedenen Formaten wie Keynotes, Sessions, Podiumsdiskussionen und Posterpräsentationen zu einer Vielzahl an Themen wie Alternative Ökonomien, Degrowth als politisches Projekt, Hegemoniale Weltanschauungen und Degrowth-Horizont, künstlerische Ökologien und öko-soziale Praktiken, Resilienzaufbau durch Degrowth und einiges mehr. Wir haben uns querbeet umgeschaut und einen Eindruck gebildet. In diesem Beitrag beschränke ich mich auf eine herausragende Session: „Bringing Degrowth into Management Education“:

„Wie wird Degrowth in die Managementausbildung eingebracht? Diese Sitzung baut auf Gesprächen auf, die seit 2021 geführt werden, als eine Gruppe von Nachwuchswissenschaftlern einen Dialog über Degrowth in der Managementausbildung begann. Aus einer Reihe intensiver zweistündiger Online-Gruppendiskussionen (“Learning Sets”) entstand das Kollektiv MEND (Management Educators Navigating Degrowth). MEND ist ein Forum für die Diskussion von Praktiken und pädagogischen Ansätzen, um Degrowth und Post-Growth in die Managementausbildung zu bringen.

In der Sitzung werden wir MEND und unsere bisherige Arbeit vorstellen und anschließend eine Diskussion im Stil eines “Lernsets” mit den Teilnehmern führen. Das “Learning Set” bietet Raum für den Austausch von Erfahrungen und Praktiken bei der Vermittlung von Degrowth… Abschließend werden wir unsere Pläne skizzieren, wie wir mehr Menschen in ein breiteres MEND-Netzwerk bringen können, das weiterhin regelmäßige Dialoge führen und die weitere pädagogische Entwicklung vorantreiben wird.“

Die Session wurde von fünf Nachwuchs-Wissenschaftler:innen konzipiert: Laura Colombo, Business School University of Exeter, Patrick Elf, Business School Middlesex University, Karishma Jain, Simon Mair, Centre for Environment and Sustainability University of Surrey und James Vandeventer, Business School University of Huddersfield. Glücklicherweise hatte sich das Team dazu entschieden, nicht erst lange eine Menge vollgeschriebener Folien zu zeigen (wie so viele ihrer Kolleg:innen), sondern ist nach einer kurzen Einführung schnell zu partizipativen Diskussionen in Kleingruppen übergegangen. Zur Anregung gab das Team einige Fragen mit auf den Weg: 

  • Was verstehen wir unter “Degrowth” und “Postgrowth” und welche Bedeutung haben sie für unsere Managementausbildung?
  • Wie haben wir die Begriffe “Degrowth” und “Postwachstum” in unsere eigene Praxis eingebracht bzw. planen wir, dies zu tun?
  • Welche Instrumente/Ressourcen/Unterstützung sind dafür erforderlich?
  • Welche Ressourcen/Hilfsmittel/Unterstützung stehen uns als Pädagogen bereits zur Verfügung – und was können wir gemeinsam nutzen -, um andere zu unterstützen und mit ihnen zusammenzuarbeiten, die versuchen, Degrowth/Post-Growth-Lehrmethoden einzuführen?

Degrowth als emotionale Provokation.

Ich hatte mir erlaubt, die Fragen beiseite zu lassen und statt dessen etwas anderes in den Fokus zu nehmen: Welche Rolle spielen eigentlich die Affekte derjenigen, die Degrowth kategorisch ablehnen? Und sollten wir, wenn wir Probleme in Folge von Wirtschaftswachstum sowie mögliche Alternativen konstruktiv diskutieren wollen, nicht auch Affekte (der Einfachheit halber auch synonym „Emotionen“) miteinbeziehen? Umgekehrt gefragt: Wie aussichtsreich sind rein abstrakte und intellektuelle Diskussionen? Es war berührend zu erleben, wie positiv Wissenschaftler:innen darauf reagierten. Ganz subjektiv erschien es mir so, als ob es eine gewisse Erleichterung gäbe, sich aus einem kognitiven Klammergriff zu lösen.

Wiederauflage von Ciompis Klassiker der AffektlogikAusgangspunkt für meine Fragen war und ist die Affektlogik des Schweizer Psychiaters und Psychotherapeuten Luc Ciompi, die er in seinem Buch „Die emotionalen Grundlagen des Denkens“ (1997) vorlegte. Darin zeigt er erstens, dass und wie Affekte unser Denken beeinflussen. Zweitens hat er herausgearbeitet, inwiefern „affektive Komponenten – unter anderem in Form der sogenannten Intuition – auch wesentliches zur Lösung von intellektuellen Problemen beizutragen haben, genauso wie umgekehrt unser Denken die Gefühle in mannigfacher Weise beeinflusst und erhellt.“ (a.a.O.: 41). Unter einem Affekt versteht Ciompi eine „ … von inneren oder äußeren Reizen ausgelöste, ganzheitliche psycho-physische Gestimmtheit von unterschiedlicher Qualität, Dauer und Bewusstseinsnähe.“ (a.a.O.: 67) Wichtig ist dabei die unterschiedliche Bewusstseinsnähe der Affekte, sprich: Sie können uns bewusst sein, wir können sie erahnen oder sie wirken unbewusst. Affekte sind in Ciompis Affektlogik die grundlegenden Operatoren kognitiver Funktionen: 

  • „[Sie] liefern die Energie für jegliche kognitive Dynamik und sind insofern als Motivatoren der Kognition zu betrachten…
  • Affekte sind kontinuierlich für den Fokus der Aufmerksamkeit verantwortlich…
  • Affekte eröffnen oder verschließen den Zugang zu verschiedenen Gedächtnisspeichern…
  • Affekte verbinden kognitive Elemente miteinander und schaffen so Kontinuität…
  • Affekte bestimmen die Hierarchie der Denkinhalte….
  • Affekte sind ein wichtiges Mittel zur Komplexitätsreduktion.“ (a.a.O.: 94-99)

Affekte werden also zu einem „ … essentiellen Aspekt unserer jeweiligen individuellen Wirklichkeitskonstruktion und Weltsicht.“ (a.a.O.: 124) Damit wird klar, wieso es eine unbedingte Voraussetzung für eine substanzielle Diskussion von Degrowth ist, die Affekte in die Reflexion miteinzubeziehen. Welche Affekte zeigen sich, wenn jemand Degrowth ablehnt? Wut in der Spielart von Empörung? Wie kann mensch nur auf diese unsinnige Idee kommen, die Grundlagen unseres Wohlstands und Fortschritts unterminieren zu wollen? Oder vielleicht Angst, bzw. gemäßigter eine Sorge, dass diese Grundlagen bedroht werden? Oder reagiert jemand ganz anders, nämlich neugierig und grundsätzlich offen, überhaupt erst zu verstehen, was unter Degrowth gemeint sein könnte, welche grundlegenden Annehmen dahinterstecken, was Ziele sind etc.? 

Im Laufe der Diskussion brachte eine Teilnehmerin einen zentralen Punkt ein: Das Nichtwissen (vgl. Zeuch 2007, 2021a/b), wie eine Welt aussehen könnte, in der die Wirtschaft nicht zwingend wachsen muss. Schließlich hängen komplexe Fragestellungen daran, wie die Aufrechterhaltung der sozialen Sicherungssysteme, die irgendwie finanziert werden müssen. Dieses Nichtwissen kann schnell zu Unsicherheit führen, die je nach charakterlicher Disposition und äußerer (Gesprächs)Situation unterschiedliche Affekte hervorruft, welche nicht transparent benannt und thematisiert werden. Durch den Bacon’schen Aphorismus, Wissen sei Macht, kommen wir schnell zum Umkehrschluss, Nichtwissen müsse Ohnmacht sein. Und wer will sich schon ohnmächtig fühlen? Kurzum: Wir haben noch keine konstruktiven Routinen entwickelt, wie wir mit Nichtwissen umgehen, ohne es erstens als Inkompetenz zu brandmarken und zweitens schnellstmöglich in Wissen zu verwandeln. Wir könnten vielmehr realisieren, dass kreative Prozesse und damit potenzieller wirtschaftlicher Mehrwert gerade dort entstehen, wo wir noch keine umgehenden Antworten haben[1].

Solange wir auf der kognitiv-intellektuellen Ebene bleiben, dürften Bemühungen um eine fruchtbare Diskussion zwischen konträren Gesprächspartner:innen also schwierig werden. Wenn wir statt dessen überhaupt erst einmal die Affekte wahrnehmen und fokussieren, die mit dem Themenkomplex Wirtschaftswachstum und mögliche Alternativen einhergehen, geht es nicht gleich darum, die/den anderen zu überzeugen, sondern die Affekte als subjektive, legitime Phänomene anzuerkennen. Diese mögen unangemessen und dysfunktional sein, aber sie lassen sich nicht argumentativ widerlegen, da sie im Hier und Jetzt eine rein subjektive WIRKlichkeit darstellen. Und sie haben immer eine innere, persönliche Affektlogik. Wenn wir das akzeptieren und sogar als kreative Spannung umdeuten und wertschätzen, könnten ansonsten tumbe Streitgespräche nicht nur über Degrowth deutlich konstruktiver und produktiver verlaufen.

Das alles gilt umso mehr, wenn wir Degrowth in die Managementausbildung einbringen wollen. Denn die Notwendigkeit und Möglichkeit ewig währendes Wachstums ist derart hegemonial, dass davon abweichende Konzepte fast zwangsläufig irgendeine affektive Reaktion hervorrufen. Und wenn unsere Affekte unser Denken beeinflussen und motivieren, dann gehört eine Auseinandersetzung mit den affektiven Reaktionen auf Degrowth zwingend in die Ausbildung, um ein wirklich fundiertes Verständnis dieses Konzepts zu erarbeiten. Dabei geht es offensichtlich nicht darum, die Studierenden zur nächsten Generation von Degrowth Wissenschaftler:innen oder -aktivist:innen auszubilden. Alles in allem komme ich zu diesem Zwischenergebnis:

Die Thematisierung von Degrowth in der Management-Ausbildung ist (1) dringend nötig, da Wirtschaftswachstum einer der zentralen Hebel bezüglich der globalen Multikrise ist. Das Ziel besteht (2) darin, sich auch durch die Erkundung der affektiven Reaktionen auf den Begriff eine tiefgreifend reflektierte Meinung zu bilden. Nur so können wir gemeinsam Lösungen entwickeln.

Herzliche Grüße

Andreas

 

Fußnoten

[1] Die beiden Kreativitätsforscher Jacob Getzels und Mihaly Csikszentmihalyi führten ein interessantes Experiment durch, dass den Wert des Nichtwissens, genauer: des In-der-Schwebe-Haltens zeigte. Sie baten Kunststudierende innerhalb von maximal einer Stunde ein Stillleben von einem oder mehreren mitgebrachten Gegenständen malen oder zeichnen. Manche der Studierenden begannen zügig mit der Arbeit, andere schienen lange unentschieden bevor sie begannen. „Die »Langsamen« hingegen erzählten, dass sie lange nicht wussten, worauf ihre Arbeit hinauslaufen würde. Das für uns Bedeutsame der Studie: Ein großer Teil der »Wissenden« hatte nach Abschluss der Akademie als Künstler keinen oder nur mäßigen Erfolg. Die »Nichtwissenden« hingegen waren diejenigen, die deutlich erfolgreicher waren.“ (Zeuch 2010: 76) Dazu auch mein Beitrag “Nichtwissen. Ohne leere Leinwand kein Meisterwerk“.

Literatur

  • Ciompi, L. (1997): Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Vandenhoeck & Ruprecht
  • Zeuch, A. (Hrsg.)(2007): Management von Nichtwissen in Unternehmen. Carl Auer 
  • Zeuch, A. (2010): Feel it! Soviel Intuition verträgt Ihr Unternehmen. Wiley
  • Zeuch, A. (2021a): Nichtwissen. Mehr als nur fehlende Daten. Blog der unternehmensdemokraten
  • Zeuch, A. (2021b): Nichtwissen. Ohne leere Leinwand kein Meisterwerk. Blog der unternehmensdemokraten

Bildnachweis

  • Beitragsbild: ©Karsten vom Bruch
  • Zeuch beim Schreiben: ©Karsten vom Bruch
  • Zagrebs Nachtleben: ©Karsten vom Bruch

 

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