Einsamkeit ist ein ernsthaftes Problem. Die Folgen sind keineswegs nur eine private Herausforderung, sondern auch eine für arbeitgebende Organisationen und unsere Demokratie. Einsamkeit wird entgegen ihrer bedenklichen Auswirkungen immer noch viel zu wenig öffentlich thematisiert und diskutiert, insbesondere im Zusammenhang mit Unternehmen und Demokratie.
Definition und Typologisierung
Die Zusammenhänge mögen zunächst überraschen. Wir sind es gewohnt, Einsamkeit als subjektives Gefühl im privaten Kontext zu lesen. Dabei wird bis heute eine Definition genutzt, die bereits kontextunabhängig ist: Einsamkeit ist die “unangenehme subjektive Erfahrung, die empfunden wird, wenn die eigenen sozialen Beziehungen entweder quantitativ oder qualitativ als unzureichend empfunden werden.” (Perlman und Peplau 1981: 31, Übersetzung AZ) Diese bis heute gängige Definition sagt nichts darüber aus, in welchen Zusammenhängen Menschen unter Einsamkeit leiden. Da Sie aber auch in anderen als privaten Umfeldern auftreten und wirksam werden kann, überzeugt mich eine neues Verständnis mehr:
Die britische Ökonomin Noreena Hertz, eine der “führenden Denker:innen der Welt” (Guardian 2001), beschreibt Einsamkeit in ihrem noch immer aktuellen, lesenswerten Buch “Zeitalter der Einsamkeit” neben dem privaten Kontext so: “Es geht vielmehr auch um ein Gefühl von mangelnder Unterstützung oder Vernachlässigung durch unsere Mitbürger, unsere Arbeitgeber, unsere Gemeinde, unsere Regierung. Um ein Gefühl der Entfremdung, nicht nur von Menschen, denen wir eigentlich nahestehen sollten, sondern auch von uns selbst. Nicht nur um mangelnde Unterstützung im gesellschaftlichen oder familiären Kontext, sondern auch um das Gefühl, in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht ausgeschlossen zu sein. Ich definiere Einsamkeit als einen inneren wie auch existenziellen Zustand – persönlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch.” (Heertz 2021: Kapitel “Was ist Einsamkeit” [1])
Sinnvoll ist schließlich noch unabhängig von Kontext die Typologisierung von Einsamkeit:
- Emotionale Einsamkeit: Unabhängig von realen sozialen Kontakten fühlen sich die Betroffenen emotional einsam. Sie können sich auch trotz vieler sozialer Kontakte einsam fühlen.
- Soziale Einsamkeit: Sie beschreibt dagegen ein als nicht ausreichend und erfüllend wahrgenommenes soziales Netzwerk.
- Kollektive Einsamkeit: Dieser Typus meint das Gefühl, sich im größeren gesellschaftlichen Rahmen nicht integriert und einsam zu fühlen.
Ausbreitung von Einsamkeit
Die Aktualität des Themas zeigt sich in einer Einsamkeitskonferenz der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen am 06. Juni. Kurz darauf folgte eine weitere Veranstaltung des Deutschen Ethikrats am 19. Juni 2024: “Einsamkeit – Existenzielle Erfahrung und gesellschaftliche Herausforderung” Der erste Absatz zur Beschreibung ist deutlich formuliert: “In Deutschland fühlt sich aktuellen Erhebungen zufolge etwa ein Viertel der Bevölkerung sehr einsam. Wird Einsamkeit zu einer Volkskrankheit? Die potenziell gesundheitsschädlichen Folgen – laut manchen Studien gefährlicher als Übergewicht – und die Rede von einer „Einsamkeitsepidemie“ mit weitreichenden gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Auswirkungen legen dies nahe.” (Deutscher Ethikrat: Jahrestagung) Des weiteren wurde im Spiegel am 12. Juli 2024 ein großer Artikel über Einsamkeit veröffentlicht: “Sie kratzt nicht. Sie beißt nicht. Sie tut einfach im Herz weh.” (Großekathöfer 2024)
Die Barmer Krankenkasse bringt die Entwicklung der Ausbreitung von Einsamkeit in Deutschland kurz auf den Punkt: “Die Zahl der sich einsam fühlenden Menschen hat über die letzten Jahre in Deutschland deutlich zugenommen.” (Barmer: Einsamkeit in Deutschland) Grundlage war auch hier wie in anderen Studien das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), eine repräsentative Langzeitbefragung seit 1984, bei der jährlich rund 30.000 Personen ab 17 Jahren in rund 15.000 Haushalten befragt werden. “Fühlten sich im Jahr 2019 noch 10,8 Prozent der Befragten einsam, so antworteten im Jahr 2020 schon 26,6 Prozent der Befragten, dass sie sich mehrmals pro Woche oder sogar täglich einsam fühlen. Am höchsten fielen die Zahlen unter Alleinlebenden, Frauen und Jüngeren aus. In den Umfragen des Sozio-oekonomischen Panels aus dem Jahr 2021 gaben sogar rund 42 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen an, dass sie sich einsam fühlen.” (Barmer)
Noch aktueller ist das jüngste Einsamkeitsbarometer des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das 2024 veröffentlicht wurde. Auch diese Erhebung basiert auf dem SOEP und nutzte Daten von 1992 bis 2021. Auch hier wird die Rolle der Pandemiejahre besonders deutlich: „Während der Pandemie stieg die Einsamkeitsbelastung bei jüngeren Menschen besonders stark an. 2020 waren jüngere Personen (zwischen 18 und 29 Jahren) mit 31,8 Prozent stärker mit Einsamkeit belastet als Personen im Alter von über 75 Jahre und älter (22,8 Prozent). Auch normalisierten sich die Einsamkeitsbelastungen bei den älteren Personen im Jahr 2021 schneller. Während jüngere Altersgruppen 2021 auf höherem Niveau verharrten (14,1 Prozent) als vor der Pandemie (8,6 Prozent 2017)“ (Schobin et al. 2024: 9) Die Ergebnisse untermauern eine repräsentative Umfrage im Auftrag der ARD von 2018, also sogar noch vor der Pandemie, die das Problem weiter verschärfte: 76% der Frauen und 61% der Männer hielten damals Einsamkeit für ein großes bis sehr großes Problem (Die Welt 2018).
Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung schreibt: “Einsamkeit ist eine wachsende gesellschaftliche Herausforderung. Neuen Analysen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) zufolge fühlt sich heute jeder Dritte zwischen 18 und 53 Jahren zumindest teilweise einsam, zuletzt mit deutlich steigender Tendenz. Dabei ist Einsamkeit nicht nur bei älteren Menschen, sondern seit der Pandemie auch bei jüngeren Erwachsenen unter 30 Jahren weit verbreitet.” (BiB Pressemitteilung, 29.05.2024) Dabei erleben Männer häufiger soziale Einsamkeit und Frauen eher emotionale Einsamkeit. Höchst interessant ist die Einsamkeitsprävalenz nach soziostrukturellen Merkmalen, die das Institut herausgearbeitet hat, also die Häufigkeit des Auftretens entlang dieser Merkmale. Jüngeres Alter, Singlehaushalt, schlechter Gesundheitszustand und niedrige Bildung korrelieren besonders stark mit Einsamkeitserleben:
Schließlich ist das Problem natürlich nicht auf Deutschland beschränkt. Einsamkeit ist ein internationales Phänomen (vgl. Heertz 2021, Kapitel “Pretty in Pink”), das teils tragische Blüten treibt: In Japan begehen Seniorinnen kleine Straftaten, um im Gefängnis der Einsamkeit ihrer Wohnung zu entfliehen. Die Anzahl der Straftaten von Personen über 65 Jahren haben sich dort in den letzten 20 Jahren vervierfacht (Fukada 2018). Basierend auf einem BBC Bericht schreibt Heertz: “Die Gefängniswärterin Junko Ageno ist sich sicher, dass Einsamkeit der Hauptgrund für diese Entwicklung ist – denn so haben ihre Schützlinge es ihr selbst erzählt.” (a.a.O.: Pretty in Pink) Und in den USA titelte das Forbes Magazin im Mai 2024: “Arbeitsplatz-Einsamkeit: Eine stille Pandemie, denen CEOs Aufmerksamkeit schenken sollten” (Übersetzung AZ).
Einsamkeit ist aber nicht nur ein Problem im globalen Norden, sondern auch im Süden. 2019 gingen in Indien 50% der Befragten davon aus, das Folgejahr größtenteils alleine zu verbringen (Statista.com 2020-2024). In Afrika und Südamerika wurden bislang relativ wenige Befragungen durchgeführt, aber eine Studie zeigte, dass in Südafrika rund 10% starke Einsamkeit erlebten (Phaswana-Mafuya und Peltzer 2017). Werfen wir nun einen Blick auf die Auswirkungen von Einsamkeit.
Folgen von Einsamkeit
Gesundheit
Einsamkeit hat vielfältige negative Effekte. Diese werde mittlerweile intensiv erforscht, es gibt längst eine erhebliche Anzahl an wissenschaftlichen Publikationen alleine zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Einsamkeit, ebenso Einzelstudien (zB Hawkley und Captanio 2015, Jaremka et al. 2013, Smith et al. 2020) wie Meta-Studien (zB Park et al. 2020, Valtorta et al. 2016). Ich selbst war und bin immer wieder erschreckt über die teils heftigen Auswirkungen, die drastischer ausfallen, als bei eher diskutierten Problemen und Erkrankungen. Umgekehrt hat Verbindung schaffende Gemeinschaft eine kraftvolle positive Wirkung, die andere ungesunde Lebensweisen ausgleichen und gewissermaßen neutralisieren kann.
Negative Effekte von Einsamkeit
- Metastudien zeigten, dass Einsamkeit schädlicher ist, als zu wenig Bewegung/Sport, genauso schädlich ist wie Alkoholabhängigkeit und doppelt so schädlich wie Übergewicht (Holt-Lunstad et al. 2010, 2015).
- Aus statistischer Sicht hat Einsamkeit dieselbe schädliche Wirkung wie 15 Zigaretten täglich (Holt-Lunstad 2017)
- Bei einsamen Menschen steigen Cholesterin, Blutdruck und das Stresshormon Cortisol schneller an, als bei Menschen, die sich nicht einsam fühlen. Bei chronisch Einsamen kumuliert dieser zunächst nur vorübergehende Anstieg (Heertz 2021: Einsame Körper).
- Dieser Anstieg führt zu einer Erhöhung der weißen Blutkörperchen und Entzündungswerte. Wenn dies chronifiziert, sind Einsame für Erkrankungen anfälliger (ebd.)
- Das Risiko für koronare Herzerkrankungen steigt um 29%, bei Schlaganfällen um 32% und sogar um 64% bei Demenzerkrankungen (ebd.)
- Die Wahrscheinlichkeit vorzeitig zu sterben erhöht sich insgesamt um 30% (ebd.)
- Depressive sind 10x mal eher einsam und umgekehrt erkranken einsame Menschen eher an Depressionen
- “Mehr als 130 Studien belegen einen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Selbstmord, Selbstmordgedanken oder selbstverletzendem Verhalten.” (Heertz 2021)
Skeptiker:innen mögen einwenden, dass sich die oben genannten Effekte je nach Studien unterscheiden und eine Varianz aufweisen, dass die Werte also durchaus niedriger liegen könnten. Das ist richtig. Aber selbst wenn wir die Werte großzügig um die Hälfte reduzieren würden, wären die Auswirkungen immer noch eklatant. Sowohl für den einzelnen Menschen, als auch die Unternehmen und für die Gesellschaft.
Positive Effekte von Gemeinschaft
Das Gegenteil von Einsamkeit, also verbindende Gemeinschaft, hat wiederum erhebliche positive Effekte auf die Gesundheit. Gemeinschaft und Verbundenheit kann diverse negative Effekte ausgleichen, die durch anderes gesundheitsschädliches Verhalten hervorgerufen werden. Dies lässt sich an verschiedenen Bevölkerungsgruppen eindrucksvoll zeigen. Die ultraorthodoxen Charedim machen ca. 12-15% der israelischen Bevölkerung aus. Sie verfolgen einen ausgesprochen ungesunden Lebensstil: Ihre Ernährung und geringe Bewegung führt dazu, dass Übergewicht bei ihnen rund sieben Mal häufiger auftaucht, als bei säkularen jüdischen Israelis. Ökonomisch sind sie ebenfalls deutlich schlechter gestellt, als ihre weniger streng religiösen jüdischen Mitbürger:innen. Rund die Hälfte von ihnen lebt unter der Armutsgrenze, was ebenfalls mit gesundheitlichen Nachteilen korreliert. Trotzdem leben sie unerwartet lange und erfreuen sich einer überraschend guten Gesundheit: “In Bnei Berak, wo 95 Prozent der Einwohner Charedim sind, liegt die Lebenserwartung bei Geburt ganze vier Jahre höher, als es das sozioökonomische Ranking der Stadt erwarten ließe.” (Heertz 2021: Einsame Körper) Ähnlich verhält es sich in den anderen Städten, in denen die Mehrheit der Charedim lebt. Das Geheimnis liegt in ihrer Geselligkeit, gegenseitigen Hilfe und Unterstützung: “Den Charedim bedeutet Gemeinschaft alles.” (ebd.)
Bereits in den 1950ern wurden diese positiven Effekte von Gemeinschaft erforscht: In der Kleinstadt Roseto, Pennsylvania, lag die Todesrate der über 65jährigen Männer um 50% niedriger als in den restlichen USA. Und zwar obwohl sie häufig in Steinbrüchen harte körperliche Arbeit leisten mussten, filterlose Zigaretten qualmten und “in Schmalz gebratene Fleischbällchen aßen und täglich Wein tranken.” (ebd.) Zwei Studien, die diesen überraschenden Befund untersuchten, zeigten, dass starke familiäre Bindungen und gemeinschaftlicher Zusammenhalt die Ursache waren. Es gibt aber noch weitere Regionen mit ähnlichen Phänomenen, die sogar einen eigenen übergreifenden Namen erhalten haben: Blaue Zonen (Poulain et al. 2014). Dazu gehören bislang Sardinien, Okinawa, Loma Linda (Kalifornien), Nicoya-Halbinsel (Costa Rica) und Ikaria in Griechenland. Dort wird nicht nur die gesunde Lebensweise (Ernährung, Bewegung, kein übermäßiger Substanzgebrauch wie Alkohol, Tabak etc.) als Ursache aufgeführt, sondern auch das Engagement in der Familie und Gesellschaft.
Auswirkungen auf Arbeit und Unternehmen
Alleine durch die kurze Auflistung einiger teils schwerwiegender gesundheitlicher Folgen von Einsamkeit und Gemeinschaft dürfte deutlich geworden sein, warum Einsamkeit auch für Unternehmen ein Thema sein sollte. Einsamkeit führt zu gesundheitlichen Problemen die in Krankmeldungen münden. In Großbritannien machten Arbeitgeber jährlich einen Verlust von fast 940 Millionen Euro durch Krankmeldungen aufgrund von Einsamkeit (Wechselkurs von 2019. Quelle: Ferguson 2019). Premierministerin Theresa May kündigte damals sogar die Ernennung eines Ministers für Einsamkeit an und erklärte: “Für viel zu viele Menschen ist Einsamkeit die traurige Realität des modernen Lebens.” Arbeitgebende Organisationen würden also schon aus wirtschaftlichem Eigennutz gut daran tun, einen Beitrag zu leisten, damit sich möglichst wenig Menschen während der Arbeit einsam fühlen. Hier eine kurze Auflistung diverser negativer Effekte und damit Kosten für Unternehmen:
- Grundsätzlich gilt: Einsamkeit bei der Arbeit ist ein internationales Problem: Weltweit fühlen sich rund 40% der Büroangestellten einsam [2], in Großbritannien 60%, in China erleben sich rund 50% täglich einsam, in den USA knapp 20% (Heertz 2021: Allein im Büro) [3]
- Einsamkeit ist zudem ein spezifisches und vielschichtiges Problem im Zusammenhang mit Führungskräften (Rokach 2014)
- Betroffene fühlen siebenmal wahrscheinlicher keine intellektuelle oder emotionale Bindung an den Arbeitgeber
- Sie sind weniger engagiert, fehleranfälliger und ineffizienter
- Mit der Einsamkeit stiegt der Arbeitsplatzwechsel und damit die Fluktuation
- Schließlich führen die gesundheitlichen Folgeschäden zu häufigeren Krankmeldungen (s.o.)
So ist es nicht erstaunlich, dass es auch ein eigenes Messinstrument für Einsamkeit am Arbeitsplatz gibt: Die “Loneliness at Work Scale” (Wright et al. 2006). Und aktuell läuft ein neues Forschungsprojekt bis Ende 2026 unter der Leitung von Maike Luhmann, Dekanin der psychologischen Fakultät der Ruhruniversität Bochum: “Arbeit und Einsamkeit: Identifizierung von Zielgruppen und Ansatzpunkten zur Prävention von Einsamkeit im Arbeitskontext. Das Projekt adressiert drei zentrale Forschungsfragen: (1) Wie sollten Arbeitsbedingungen gestaltet werden, um das Risiko für Einsamkeit im Sinne der Primärprävention zu minimieren? (2) Welche Gruppen haben ein erhöhtes Risiko für Einsamkeit und sind somit potenzielle Zielgruppen für die Sekundärprävention? (3) Wie hängen momentane Arbeitsbedingungen und momentane Einsamkeit im Arbeitsalltag zusammen, und welche Implikationen ergeben sich daraus für Primär- und Sekundärprävention?” (Website Uni Bochum)
Auswirkungen auf unsere Demokratie
Grundsätzlich braucht es zum Funktionieren jeglicher Formen von Demokratie neben vielem Anderen nicht nur eine gelungene Verbindung zwischen dem Staat und den Bürger:innen, sondern auch zwischen letzteren. Wenn sich aber eine kritisch große Menge unserer Mitbürger:innen einsam und von anderen Menschen und/oder dem Staat abgeschnitten fühlt, sind diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben oder bedroht. Da stellt sich die folgerichtige Frage, ob Einsamkeit eine Gefahr für die Demokratie ist (dazu die fast gleich lautende Folge in der Kulturzeit vom 18.06.2024). Und so ist es wenig verwunderlich, dass tatsächlich Verhaltenseffekte zu beobachten sind, die mit Sicherheit ein Problem für unsere Demokratien darstellen:
- Rückgang von Vertrauen in politische Institutionen liberaler Demokratien (Langekamp 2021a)
- Einsamkeit steht in Verbindung mit einer geringeren Wahlabsicht und einem geringeren Pflichtgefühl, wählen zu gehen. Die resultiert aus einem geringeren Pflichtgefühl (Langenkamp 2021b)
- Nähe und Affinität zu Verschwörungsmythen und Gewaltakzeptanz (Neu und Küpper 2023); 25,1% weisen eine starken Verschwörungsglauben auf im Gegensatz zu 15,3% der nicht Einsamen (Schobin et al. 2024)
- 13,2% geringeres Vertrauen in das Rechtssystem (63,8% vs. 50,6%), 11,1% geringeres Vertrauen in den Bundestag (50% vs. 38,9%), 11% geringeres Vertrauen in die Polizei (77,2% vs. 66,2%) (Schobin et al. 2024)
- Geringere Bindung an politische Parteien (2021: 6,2% weniger Bindung als bei nicht einsamen Personen) (Schobin et al. 2024)
- Positive Verbindung zu Fremdenangst und Unterstützung von Autoritarismus (Floyd 2017)
- Verminderte Empathie und feindseliges Verhalten (Heertz 2021)
Ursachen der Einsamkeit
Die Ursachen von Einsamkeit lassen sich in fünf Kategorien einteilen: Person, Gesellschaft, Technologie, Politik und Arbeit die vermutlich verschiedene Wechselwirkung untereinander aufweisen dürften, sich also gegenseitig verstärken oder schwächen. Die folgende Auflistung ist in Anbetracht eines Blogbeitrags nur kurz gefasst und stellt keinen Anspruch an Vollständigkeit dar:
- Person
- Charakterliche Dispositionen (Grad der Introversion)
- Mangelhafte Bindungserfahrungen in frühester Kindheit
- Weitere negative Erfahrungen in der Herkunftsfamilie und dem weiteren Umfeld
- Gesellschaft
- Verschiebung von Werten und Normen, zB von traditionellen Familien- und Beziehungsidealen mit ihren Bindungen zu alternativer, maximal authentischer Selbstverwirklichung
- Verinnerlichte Meritokratie und damit verbundene Leistungsideale, die eher Konkurrenz als Kooperation erfordern und erzeugen
- Steigende Mobilität mit häufigen Wohnortwechseln
- Abnahme von verbindenden Gemeinschaften (Kirchenflucht, Vereinssterben…)
- Technologie
- Mobile Endgeräte in Kombination mit
- digitalen Sozialen Netzwerken
- Digitale Überwachungsoptionen bei der Arbeit (Tastaturtracking, Tracking-Armbänder etc.)
- Automatisierung und Robotereinsatz (“Kollege Roboter”)
- Politik
- Neoliberale Politiken mit teils massiven Abbau öffentlicher Begegnungsorte (Bibliotheken, Museen, Jugendclubs etc.) [4]
- Forderung und Förderung von Meritokratie und Leistungsdenken, die Konkurrenz erfordern (s.o., Gesellschaft)
- Politiken, die Vermögens- und Einkommensungleichheit zulassen oder sogar befeuern
- Mangelnde Aufarbeitung der Vereinsamung infolge der Covid Pandemie
- Arbeit
- Einsatz von Trackingtools zur Überwachung von Leistungskontrolle und Ausübung von Leistungsdruck
- Home-Office ohne Optionen zur Aufrechterhaltung oder Erzeugung kollegialer Gemeinschaft
- Mobile Arbeitsplätze (Hot-Desk), die kollegiale Bindungen und eine minimale persönliche Einrichtung erschweren
- Großraumbüros, die eine stärkere Abschottung vor den Umgebungsgeräuschen erfordern
Lösungen
So komplex die Ursachen und ihre Zusammenhänge sind, so herausfordernd ist es für Unternehmen, Einsamkeit im eigenen Betrieb ernsthaft anzugehen. Der erste und wichtigste Schritt: Geschäftsführung und Vorstände müssen sich für das Thema und die mögliche Relevanz im eigenen Unternehmen öffnen. Nur wenn diese Leztztentscheider:innen davon überzeugt sind, werden sie die nötigen Ressourcen freigeben, um das Problem nachhaltig in den Griff zu bekommen.
Ein erster Schritt könnte eine anonyme Erhebung zum Stand der Einsamkeit im Unternehmen sein, zum Beispiel unter Anwendung der Loneliness at Work Scale. Diese Evaluation könnte neben der allgemeinen Fragestellung auch spezifischere Aspekte enthalten, wie Einsamkeit infolge von Remote-Work und bei Führungskräften. Das sollte aber nicht durch die eigene Personal/HR Abteilung gemacht werden, die ethischen Widersprüche sind offensichtlich. Wenn sich in der Folge zeigt, dass Einsamkeit tatsächlich ein systemisches Problem ist, dass über wenige einzelne Befindlichkeiten hinausreicht, sollte im nächsten Schritt geklärt werden, was aus Gründen der Integrität überhaupt intern geleistet werden kann. Da gibt es, wie eben schon angedeutet, eindeutige Grenzen. Anbei einige kurze Vorschläge für erste Schritte:
- Die Kraft des gemeinsamen Essens wieder oder überhaupt nutzen. Das mag trivial klingen, ist es aber nicht. Es bietet den Raum eine Gemeinschaft aufzubauen und zu pflegen. Das gilt besonders dann, wenn auch gemeinsam gekocht wird, was zumindest als gezieltes Event ab und an angeboten werden könnte.[5] Eine britische Umfrage ergab 2016, dass knapp die Hälfte der Angestellten nur selten oder nie mit Kolleg:innen essen geht. In den USA gaben gut 60% der Berufstätigen an, mittags am Arbeitstisch zu essen, obwohl weniger als die Hälfte von ihnen das gut findet. Dabei stellte Robin Dunbar, Professor für Psychologie in Oxford, fest: “Zusammen essen triggert das Endorphin System im Gehirn und Endorphine spielen eine wichtige Rolle in der sozialen Bindung.” (Lynch 2016)
- Sofern sich bei der Evaluation zeigte, dass das “neue Normal” der Remote-Arbeit ein systemisches Problem darstellt, sollten idealerweise mit den Betroffenen gemeinsam Lösungen erarbeitet werden, denn bereits dieses partizipative Vorgehen ist eine Intervention gegen Einsamkeit. Auch hier könnte zB ein wöchentliches gemeinsames Mittagessen ein kleiner aber wertvoller Schritt sein.
- Sollte Einsamkeit ebenfalls mehr als ein nur vereinzeltes persönliches Problem bei Führungskräften sein, gilt es entsprechend gegenzulenken und die Ursachen anzugehen, sowie zwischenzeitliche kurzfristige Hilfe anzubieten.
Auch und gerade im Zusammenhang mit Einsamkeit wird die Bedeutung und der Wert der Partizipation an der Führung und Gestaltung von Organisationen einmal mehr klar. Wenn Deine Stimme nicht gehört wird, wenn sich Deine Vorgesetzten bis hin zur Geschäftsführung nicht für Deine Perspektiven, Gedanken, Ideen und die Deiner Kolleg:innen interessieren; wenn Du infolgedessen kein Gefühl entwickeln kannst, selbstwirksam zu sein; und wenn schließlich nicht dafür gesorgt wird, dass Du und Deine Kolleg:innen eine nachhaltige tiefgreifende Kollaboration entwickeln auf der Basis eines Vertrauens ineinander – wie solltest Du Dich dann nicht alleine oder sogar einsam fühlen? Tag für Tag. Deshalb bieten wir an, partizipativ und gemeinsam passgenaue Lösungen auch für Dein Unternehmen zu entwickeln bis hin zu spezifischen Coachings zum Thema Einsamkeit.
Herzliche Grüße
Fußnoten
[1] Kindle E-Book, deshalb keine Seitenangabe, sondern das jeweilige Unterkapitel.
[2] Es sind hier explizit Büroangestellte gemeint, also keine Produktionsmitarbeiter etc.
[3] Alle anderen Auflistungen entstammen demselben Kapitel. Heertz hat diese Aussagen mit vielen Studien belegt, deren einzelne Aufführung den Rahmen dieses Blogartikels sprengen würden.
[4] So wurden “in Großbritannien etwa … zwischen 2008 und 2018 ein Drittel aller Jugendklubs und knapp 800 Leihbüchereien geschlossen, während in den USA die Bundesmittel für Büchereien zwischen 2008 und 2019 um über 40 Prozent gekürzt wurden.” (Heertz 2021: Wie ist es soweit gekommen)
[5] “Das Projekt »91 Ways to Build a Global City« im englischen Bristol macht sich die vereinende Kraft des Kochens zunutze, um Menschen unterschiedlicher kultureller und ethnischer Hintergründe zusammenzubringen: Beim Zwiebelschneiden, Kartoffelstampfen und Teigkneten werden Barrieren überwunden, Verbindungen geschaffen und Gemeinsamkeiten entdeckt.” (Heertz 2021: Demokratie praktizieren)
Literatur
- Die Welt (2018): Für zwei Drittel der Deutschen ist Einsamkeit ein großes Problem. Die Welt Online
- Ferguson, K. (2019): The Cost of Loneliness. The Sun
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Floyd, F. (2017): Loneliness Corresponds with Politically Conservative Thought. Research in Psychology and Behavioral Sciences, 5(1): 13–21
- Fukada, S. (2018): Japan’s Prisons Are a Haven for Elderly Women. Bloomberg
- Großekathöfer, M. (2024): Sie kratzt nicht. Sie beißt nicht. Sie tut einfach im Herz weh.” Spiegel 29/2024
- Hawkley, L.; Capitanio, J. (2015): Perceived Social Isolation, Evolutionary Fitness and Health Outcomes: A Lifespan Approach. Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences, 370 (Nr. 1669): 20140114
- Heertz, N. (2021): Das Zeitalter der Einsamkeit. Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt. HarperCollins
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Holt-Lunstad, J. (2017): The Potential Public Health Relevance of Social Isolation and Loneliness: Prevalence, Epidemiology, and Risk Factors. Public Policy & Aging Report, 27(4): 127–130
- Holt-Lunstad, J.; Smith, T.; Baker, M. et al. (2015): Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality: A Meta-Analytic Review. Perspectives on Psychological Science, 10(2): 227–237
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Holt-Lunstad, J.; Smith; Layton, B. (2010): Social Relationships and Mortality Risk: A Meta-Analytic Review. Herausgegeben von Carol Brayne. PLoS Medicine 7(7): e1000316
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- Wright, S.; Burt, C.; Strongman, K. (2006): Loneliness in the Workplace: Construct Definition and Scale Development. New Zealand Journal of Psychology, 35(2): 59–68
Bildnachweis
- Beitragsbild: @Sasha Freemind, unsplash lizenzfrei
- Cover Heertz: HarperCollins
- Cover Einsamkeitsbarometer: BMFSFJ
- Charedim: @Aharon Luria, unsplash lizenzfrei
- Theresa May: Image ©Licensed to i-Images Picture Agency. 01/08/2016. London, United Kingdom. Prime Ministers Official Portrait. Picture by Andrew Parsons / i-Images