Vielfalt und Partizipation: 2024 veröffentlichte das internationale Beratungsunternehmen Heidrick & Struggles ihren neuen “CEO and Board Confidence Monitor”. Die Ergebnisse sind denkwürdig in mehrfacher Hinsicht. Erstens zeigte sich ein erheblicher Mangel an Vertrauen, mit den identifizierten zentralen Themen der Unternehmen erfolgreich umgehen zu können. Zweitens ist die Klimakrise als zentrales Thema weit abgeschlagen. Ein Interview mit dem Deutschlandchef der Beratung verweist drittens auf die Bedeutung von Vielfalt und Partizipation.
Worin sehen Spitzenführungskräfte von Unternehmen, CEOs und Aufsichtsräte, die wichtigsten Zukunftsthemen? Und wie sehr sind sie davon überzeugt, dass ihre Unternehmen diese Themen auch angemessen behandeln können? Die Studie von Heidrick & Struggles verweist auf eine große Diskrepanz zwischen den wichtigsten Themen und ihrer erfolgreichen Behandlung. Zudem lässt sich aus einem Interview im Spiegel mit dem Deutschlandchef des Beratungsunternehmens einiges über wichtige Aspekte ableiten, teils entgegen seiner Aussagen.
Die Studie
Insgesamt wurden 3156 Topmanager:innen befragt, davon waren 2320 CEOs und 836 Aufsichtsräte. 41% der Unternehmen stammen aus Europa, 38% aus Nordamerika, 10% aus dem pazifischen Asien und 4% aus Lateinamerika. Die Teilnehmer:innen repräsentieren laut der Studie Unternehmen aller Größenordnungen. Wobei es sich größtenteils um AGs gehandelt haben muss, wenn man sich die Stichprobe ansieht, die ausschließlich CEOs und Aufsichtsräte beinhaltete. Diese Einschränkung ist gerade für Deutschland sehr relevant, da AGs nur einen Bruchteil der deutschen Unternehmen ausmacht: 2021 lag die Quote von AGs in Deutschland bei 0,26%, in absoluten Zahlen waren es 7758 Aktiengesellschaften bei insgesamt 3.022.411 Unternehmen insgesamt (Statista). Kommen wir nun zu ein paar der Ergebnisse der Studie:
Insgesamt gab es 14 Topthemen für 2024 (und sicherlich auch darüber hinaus): In der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit für die befragten sind das Ökonomische Unsicherheit und Volatilität, geopolitische Unsicherheit und Volatilität, Anziehung und Bindung von Arbeitskräften, Veränderungen in Marktdynamiken, Entwicklung und Aufrechterhaltung einer gesunden Unternehmenskultur, Anziehung, Entwicklung und Bindung von Führungskräften, Einbindung künstlicher Intelligenz, Cybersicherheitsrisiken, Führungsnachfolge und -fluktuation, Regulations-Disruptionen, Lieferketten-Disruptionen, Steigende Erwartungen der Stakeholder an Governance und soziale Verantwortung, Klimawandel und technische Disruptionen. Das Vertrauen, dass die Unternehmen diese Herausforderungen gut bewältigen zu können, steht in einem deutlichen Gegensatz zu ihrer Wichtigkeit. Wenn man diejenigen der Themen ihrer erfolgreichen Behandlung einander gegenüberstellt wie es in der Studie dargestellt war, ergibt sich folgendes Bild:
Die linearen Trendlinien verdeutlichen das Problem: Es mangelt an einem kohärenten Zusammenhang von wahrgenommenen Problemen und dem Vertrauen ins eigene Unternehmen, diese Probleme gut lösen zu können. An den extremen Polen gibt es eine sehr hohe Problemwahrnehmung (Ökonomische Unsicherheit…) aber nur wesentlich geringeres Vertrauen, dass das Unternehmen damit gut umgehen kann. Am anderen Ende wird der Klimawandel nur als geringfügiges Problem wahrgenommen (!) aber gleichzeitig gibt es ein sehr hohes Vertrauen in die Lösungsfähigkeit des Unternehmens. Was angesichts der sich weiter verschlechternden globalen CO2-Bilanz erstens ein Trugschluss ist. Zweitens ist es ein Widerspruch: Wie soll das Unternehmen einen erfolgreichen Umgang mit dem Klimawandel leisten, wenn ihm für das Unternehmen nur eine sehr geringe Bedeutung beigemessen wird? Zudem scheint den CEOs und Aufsichtsräten der Zusammenhang zwischen der Klimakrise und ökonomischer sowie geopolitischer Unsicherheit und Volatilität nicht bewusst zu sein.
Erste Schlussfolgerungen: Führung unter Unsicherheit
Nichtwissen
Soweit ein kleiner Einblick in die Studie, die Grundlage für das Interview mit Nicolas von Rosty war, dem Deutschlandchef von Heidrick & Struggles (Klöckner 2024). Bezüglich des wichtigsten Themas für die Befragten, der ökonomischen und geopolitischen Unsicherheit und Volatilität, stellt von Rosty klar: “Der Glaube an den allwissenden Unternehmensführer ist verloren gegangen. Und das zu Recht. Der Einzelne kann die Probleme der Welt nicht mehr lösen, das kann nur ein ganzes Team.” Abgesehen davon, dass es den allwissenden CEO niemals gab und es sich dabei immer um eine überaus narzisstische Allmachtsfantasie handelte, so verschärft sich das Nichtwissen tatsächlich durch steigende Komplexität und Dynamik, die wiederum mit technischem Fortschritt und steigender Vernetzung unserer Welt zusammenhängen. Wir haben zwar immer schnelleren Zugriff auf Daten und Informationen, aber zugleich explodieren sie geradezu und sind für uns Menschen immer weniger handhabbar. Technikaffine Menschen werden jetzt argumentieren, dass wir dafür zukünftig Künstliche Intelligenz nutzen können. Das stimmt, es wird bereits gemacht und in Zukunft noch viel mehr geschehen. Zugleich entstehen mit dieser neuen Technologie neue Fragen und Probleme, womit sich die Dynamik nur noch weiter beschleunigt.
Allerdings zieht von Rosty eine fragliche Schlussfolgerung zum Umgang mit diesem Nichtwissen: “Führungskräfte sollten diese Unsicherheit jedoch nicht auf ihre Mitarbeiter übertragen und nach außen eine gewisse Erfolgsgewissheit ausstrahlen. Aber natürlich darf man schlaflose Nächte haben, weil man nicht weiß, was in der nächsten Woche passiert.” Er plädiert also dafür, dass das Topmanagement so tut, als wüsste es mehr, als es tatsächlich weiß [1]. In der Abgeschiedenheit des eigenen Hauses dürfen sich die unwissenden CEOs schlaflos hin und her wälzen, während sie ihren Mitarbeiter:innen gegenüber eine “gewisse Erfolgsgewissheit” ausstrahlen sollen. Genau damit wird aber das alte Narrativ in einer Variation weiter aufrechterhalten. Allwissenheit light, sozusagen. Vielleicht weiß der CEO nicht alles, aber er ist sich sicher, dass alles gut wird. Aber laut Studie ist eben genau das nicht der Fall. Deshalb plädiere ich eindeutig für einen radikal anderen Umgang mit dieser Situation. Nichtwissen sollte ebensowenig nur als Problem wahrgenommen wie kaschiert werden. Jeder, der nicht komplett verrückt ist, weiß, dass wir alle viel mehr nicht wissen, als wir wissen. Zugleich wissen wir, dass jeder reich an Erfahrungen und Wissen ist. Wir müssen uns also nichts vorspielen. Der Schuss geht nach hinten los, wenn CEO Max Mustermann nachts nicht mehr schlafen kann, weil er keine Ahnung hat, wie es im Corona-Lockdown weitergeht, er aber am nächsten Tag “Erfolgsgewissheit” ausstrahlen soll. Für wie sozial inkompetent muss man Mitarbeitende halten, damit die Rechnung aufgeht?
Viel wichtiger ist aber: Nichtwissen ist die zwingende Vorbedingung kreativer Lösungen und disruptiver Innovationen. In meinem Beitrag “Nichtwissen. Ohne leere Leinwand kein Meisterwerk” erläutere ich anhand von drei Fallbeispielen die zentrale Bedeutung und den Wert von Nichtwissen. Wir sollten Nichtwissen als Entwicklungsraum und Lernmöglichkeit begreifen: Es wäre ausgesprochen intelligent, uns und alle Entscheider:innen besser auf den Umgang mit Nichtwissen vorzubereiten. Bislang sind mir keine Studiengänge bekannt, in denen zukünftige Entscheidungsträger genau das als praktische Kompetenz verbindlich lernen. Niemand trainiert den Umgang mit Nichtwissen und der nötigen professionellen Intuition als Navigationshilfe. Das Lehrpesonal und die Studierenden philosophieren nur darüber, weit weg vom wirklichen Erleben und Handeln, entkoppelt von der eigenen Unsicherheit und der damit verbundenen Angst. Es bedarf der praktischen Lernerfahrung, nicht des theoretischen Diskurses. In puncto Innovation ist uns Amerika wieder einen Schritt voraus. Die University of Arizona bietet an der Medizinischen Fakultät seit gut anderthalb Dekaden das “Summer Institute on Medical Ignorance” an und fördert ein “Curriculum on Medical Ignorance”. Es gibt also systematische Optionen, um mit Unsicherheit und Volatilität gut umgehen zu können.
Vielfalt
Eine weitere wichtige Schlussfolgerung formuliert von Rosty folgendermaßen: “Das Managerprofil verändert sich. Personen aus einer Zeit, die sich hauptsächlich auf Wachstum und Gewinn konzentrierte, stehen vor größeren Herausforderungen als jene, die bereits Erfahrung mit Restrukturierungen haben. Gerade in großen Konzernen fehlen diese Restrukturierer häufig, weil zu stark in einzelnen Funktionen gedacht wird. Führungsetagen brauchen einen Generalisten, der ein Team um sich versammeln kann, in dem unterschiedliche Meinungen und Ansichten herrschen können.” Es braucht also Vielfalt und Führungskräfte, die diese Vielfalt erstens aushalten und zweitens fördern. Denn Unternehmen brauchen sie, um mit der oben erwähnten steigenden Komplexität und Dynamik in ihrem Umfeld und der daraus entstehenden Unsicherheit und Volatilität zurecht zu kommen. Durch höhere Vielfalt in der Wahrnehmung, der Interpretation des Wahrgenommenen, der daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen sowie vielfältigerer Ideengenerierung wird die organisatisonsinterne Komplexität gesteigert, um mit der Komplexität der Außenwelt der Organisation angemessener umgehen zu können. Komplexität in der Außenwelt kann auf Dauer nur mit ausreichender Vielfalt in der Innenwelt des Unternehmens angemessen behandelt werden.
Aber was genau ist Vielfalt? Was haben die vielen bisherigen Initiativen wie die Charta der Vielfalt gebracht? Ohne das an dieser Stelle mit wissenschaftlichen Evidenzen belegen zu wollen oder zu können, habe ich den ganz subjektiven Eindruck: Wir sind nur recht bedingt vielfältiger geworden. Werden mittlerweile Menschen in Unternehmen angestellt, die wirklich quergebürstet sind und Bestehendes vermutlich ernsthaft hinterfragen? Wie flexibel sind Recruitingprozesse bezüglich Abweichungen von den gesuchten Profilen? Natürlich muss jede formale Organisation in gewisser Hinsicht konservativ sein, sich also um ihren Selbsterhalt kümmern, sonst löst sie sich schnell auf. Trotzdem steht die Frage im Raum, ob nicht deutlich mehr Vielfalt möglich wäre, so dass im Sinne des Unternehmens vielfältigere Anpassungen und schnellere Reaktionen auf die so wichtig empfundene Unsicherheit möglich wären. Inwiefern werden tatsächlich vielfältige Meinungen und Ideen in Unternehmen nicht nur abgefragt, sondern auch getestet und umgesetzt? Wer anders wahrnimmt, denkt und handelt als der Großteil der Kolleg:innen hat meist immer noch einen schweren Stand.
Partizipation
Über Nichtwissen und und Vielfalt hinaus geht von Rosty interessanterweise auf Hierarchien ein, allerdings nur in einer Hinsicht: “Es braucht flachere Hierarchien. Schnellere Informationen von unten nach oben und weniger Formalismus.” Er stellt das Ausmaß von Hierarchie also nur in den Zusammenhang mit der mangelnden Allwissenheit der CEOs. Der einzige Grund ist der schnellere Informationsfluss. Ob es dann auch bei flacheren Hierarchien beim alten Prinzip bleibt, dass Informationen nach oben und Entscheidungen nach unten fließen, wird in dem Interview nicht weiter diskutiert. Dabei liegt ein anderer enger und zwingender Zusammenhang auf der Hand: Vielfalt braucht Partizipation.
Denn wie soll Vielfalt ihre Wirkung entfalten, wenn die Vielen nicht die Möglichkeit haben, ihre Stimme zu erheben, um ihre Annahmen und Ideen miteinzubringen, um einen guten Umgang mit der Unsicherheit zu finden und das Unternehmen unter diesen erschwerten Bedingungen zu führen und zu gestalten? In wie vielen Unternehmen wird von den Führungskräften regelmäßig zu allen wichtigen Fragen auch nur die Methode des konsultativen Einzelentscheids angewendet? Eine Methode, die hinsichtlich des Partizipationsgrads sogar noch wenig partizipativ ist. Sprich: Die Führungskräfte konsultieren ihre von der anstehenden Entscheidung betroffenen Mitarbeitenden und erfragen ihre Perspektive dazu, um anschließend auf der Basis dieser Konsultation eine bessere, weil vielfältiger informierte Entscheidung zu treffen? Das ist sogar in relativ selbstorganisierten Unternehmen nicht die Regel. Ganz abgesehen von traditionell geführten Unternehmen oder großen Aktiengesellschaften, die in der Studie von Heidrick & Struggles auch untersucht wurden. Dabei würde es vor dem Hintergrund der Ergebnisse zur Bedeutung von ökonomischer und geopolitischer Unsicherheit sogar noch mehr Sinn machen, gerade auch strategische Entscheidungen vielfältiger und damit auch partizipativer anzugehen.
Zusammenfassung
Als wichtigste Herausforderungen für 2024 wurden ökonomische und geopolitische Unsicherheit und Volatilität weltweit genannt. Zugleich besteht ein großer Mangel an Vertrauen, dass die Unternehmen damit gut umgehen können. Für eine erfolgreiche Behandlung dieser Herausforderung braucht es drei Lösungsschritte:
- Nichtwissen akzeptieren und nutzen: Zukünftig sollte nicht mehr so getan werden, als ob die verantwortlichen Entscheider:innen wüssten, was zu tun ist. Vielmehr sollte ein transparenter Umgang mit dem real vorhandenen Nichtwissen etabliert und dieses Nichtwissen als Lern- und Entwicklungschance umgedeutet werden.
- Vielfalt erhöhen: Die Vielfalt in Unternehmen muss dringend gesteigert werden, um eine deutlich größere Informationsverarbeitungskapazität und Innovationskraft zu erzeugen.
- Partizipation ermöglichen: Schließlich braucht es Partizipation, damit die Vielfalt auch tatsächlich genutzt werden kann, um die beiden wichtigsten Themen der Unsicherheit und Volatilität dauerhaft erfolgreich zu behandeln.
Herzliche Grüße
Andreas
Fußnoten
[1] Die Fragwürdigkeit dieses Vorschlags lässt sich zudem gut illustrieren, indem wir ihn auf den Autoren des bekannten Bonmots “Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß” anwenden: Wenn Heinrich von Pierer vorgegeben hätte zu wissen, was er nicht weiß, hätte er immer noch nicht gewusst, wo er Siemens hätte hinführen sollen.
Literatur
- Heidrick & Struggles (2024): CEO and board confidence monitor: A worried start to 2024. Studienbericht. CEO & Board of Directors Practice. Heidrick & Struggle
- Klöckner, L. (2024): Sitzen die falschen in den Chefetagen, Herr von Rosty? Spiegel+
Bildnachweis
- Beitragsbild: ©Nathan Dumlao, unsplash lizenzfrei
- Balkendiagramm: ©Andreas Zeuch
- Foto “We ended up”: ©Andreas Zeuch
Partizipation ist ein wichtiges Fundament. Danke für diesen Artikel. Ebenso wichtig erscheint die Nachlassberatung bzw. die Erbrecht Beratung, um das Unternehmen langfristig in der Führung abzusichern.