Unternehmen als Begegnungsorte: Neulich sah ich die Tagesthemen vom 05.01.2024 und wurde so auf den gemeinnnützigen Verein “More in Common” aufmerksam, weil dessen Gründungsgeschäftsführerin Laura-Kristine Krause im Zusammenhang mit der eskalierten Protestaktion gegen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck am 04.01.2024 interviewt wurde. Es war ebenso überraschend wie erfreulich, dass der Verein die Idee von Unternehmen als Begegnungsorte publizierte, die auch für uns unternehmensdemokraten eine zentrale Idee zur Lösung vieler Probleme sind.
Im Dezember 2023 veröffentlichte der Verein die erste Ausgabe seines neuen Magazins “Begegnungsradar” mit eben jenem Schwerpunkt von Unternehmen als Begegnungsorte. Das Magazin ist eine Folge der “Werkstatt für Begegnung und Zusammenhalt”, in dem der Verein auf seinen eigenen Forschungen basierend erproben will, “wie und wo, das heißt an welchen Orten, Begegnung gelingen kann.” (Gagné et al. 2023: 2) Das längste Kapitel in dieser ersten Magazinausgabe ist der Idee von Unternehmen als Begegnungsorte gewidmet.
Ergebnisse und Argumente
Der Ausgangspunkt dieser Idee hat große Parallelen zu unserem eigenen Ansatz: “In einer Marktwirtschaft prägen Unternehmen das Leben der Menschen ohne Unterlass: wenn wir konsumieren, arbeiten, unterwegs sind, uns informieren und unterhalten oder Zeit in den sozialen Medien verbringen.” (a.a.O.: 6) Ich habe in diversen Publikationen (z.B. Zeuch 2023a, b) darauf verwiesen, dass nicht nur Unternehmen, sondern Arbeit im allgemeinen, egal ob sie in Unternehmen oder nicht wirtschaftlichen Organisationen stattfindet, eine der größten Sozialisationsräume für erwerbstätige Erwachsene ist. In Deutschland betrug die durchschnittliche Wochenarbeitszeit im Jahr 2022 laut dem statistischen Bundesamt 34,7 Wochenstunden, also knapp sieben Stunden täglich. Die restliche Wachzeit verbringen wir jedoch an verschiedenen Orten: Zuhause, bei Besorgungen, bei Freizeitbetätigungen, bürgerschaftlichem Engagement etc.
Hinzu kommt zweitens, dass die Bürger:innen den Arbeitsplatz als als wichtigsten Ort des Zusammenhalts außerhalb der Familie und des Bekanntenkreises erleben. Der Kontrast wurde gegenüber der Gesellschaft insgesamt besonders deutlich: Für 74% ist der Arbeitsplatz ein Ort des Zusammenhalts, während die Gesellschaft als Ganzes nur für 26% “(eher) viel Zusammenhalt” ermöglicht (a.a.O.: 16) Das ist bis zu einem gewissen Grad leicht erklärbar, da wir bei der Arbeit im Rahmen einer festen Anstellung täglich dieselben Menschen sehen und sie deshalb überhaupt persönlich kennen im Gegensatz zur Anonymität der gesamten Gesellschaft. Das ändert aber nichts an der Bedeutung der Arbeit und damit von Unternehmen als Begegnungsorte, sondern ist neben dem Phänomen von Arbeit als größtem Sozialisationsraum vielmehr ein weiterer Grund, diese Idee ernsthaft zu verfolgen.
Als drittes Argument hat More in Common herausgearbeitet, das der aktuell gefühlte Einsatz von Wirtschaftsunternehmen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt mit 19% neben dem von Politiker:innen weit abgeschlagen ist von Medien (27%), Bürger:innen (43%) und “Leuten wie Sie” (62%). Zugleich wünschen sich 88% der Befragten “mehr Anstrengung der Wirtschaft für das Gemeinswohl” (a.a.O.: 15ff). Es gibt also eine eklatante Lücke zwischen Ist und einem Soll, das den Bedarf nach einer Corporate Political Responsibility unterstreicht, über die schon länger diskutiert wird. Wenn wir diesen Befund mit den ersten beiden Argumenten verknüpfen, entsteht fast zwangsläufig die Idee von Unternehmen – oder aus meiner Sicht allgemeiner: Organisationen – als wichtiger Begegnungsort.
Viertens bieten arbeitgebende Organisationen dem von More in Common genannten “unsichtbaren Drittel” der Bevölkerung eine gute Möglichkeit als Begegnungsorte. In Ihrer Studie “Die andere deutsche Teilung” arbeitete der Verein sechs verschiedene Typen von Bürger:innen heraus: Die Offenen, Involvierten, Etablierten, Pragmatischen, Enttäuschten und Wütenden, die sich prozentual recht ähnlich verteilten. Diese sechs Typen wurden entlang der zwei Achsen “Umgang mit gesellschaftlichem Wandel” und “Orientierung im Gemeinwesen” angeordnet. So entstand eine Dreiteilung der Gesellschaft: Die “gesellschaftlichen Stabilisatoren” (Involvierte, Etablierte), “gesellschaftliche Pole” (Offene, Wütende) und schließlich das “unsichtbare Drittel” (Pragmatische, Enttäuschte). Diese beiden Typen sind “aufgrund ihrer schwachen Einbindung in das Gemeinwesen und gering ausgeprägter Identitätsanker auf politisch-gesellschaftlicher Ebene kaum sichtbar.“ (Krause und Gagné 2019: 66) „Dieses Drittel ist auffallend jung und stellte in unserer Grundlagenstudie ganze 45 Prozent der 18- bis 29-Jährigen.“(Gagné et al. 2023: 18) Zugleich wenden sich viele dieser jungen Menschen einem “wirtschaftlichen” Deutschland zu.
Begegnung plus Partizipation
Offen bleibt bei dem Ansatz von More in Common indes, wie genau Organisationen und damit Unternehmen zu Orten der Begegnung werden können, abgesehen von der relativ unspezifischen Idee, Arbeit als Alltagsorte der Begegnung mithin als “soziale Orte” neu zu denken. Hier kommt nun unsere dazu hochgradig kompatible Sichtweise ins Spiel: Begegnung plus Partizipation. In arbeitgebenden Organisationen heißt das erstens allgemein deren gemeinsame Führung und Gestaltung. Sprich: operative, taktische, strategische und normative Fragen und Probleme gemeinsam zu definieren und dann entsprechende Entscheidungen zu treffen und sie gemeinsam umzusetzen. Das bedeutet Selbstorganisation und/oder Unternehmensdemokratie.
Noch spezifischer könnten – und sollten – insbesondere Unternehmen ihre Nachhaltigkeit partizipativ mit allen interessierten Mitarbeitenden entwickeln. Das ist keineswegs nur unser Wunschdenken oder gar Idealismus. Dahinter steckt jahrzehntelange empirische Forschung, die mit der Untersuchung von Hunderten von Unternehmen zeigt, dass die partizipative Nachhaltigkeitsentwicklung neben der Integration von Nachhaltigkeit in die allgemeine Unternehmensstrategie einer der beiden Schlüsselfaktoren ist, um eine effiziente, effektive und dauerhafte Nachhaltigkeit zu entwickeln, die den Unternehmen zudem signifikante “grüne Wettebwerbsvorteile” ermöglicht. Darauf hatte ich schon vor einiger Zeit hier in unserem Blog verwiesen. “Organisationale Nachhaltigkeit: Erfolgreicher mit Partizipation“.
Und weil das so ist, haben wir wiederum unser Konzept des “UD sustainability co:lab” entwickelt, mit dem wir genau diese Vorteile der partizipativen Nachhaltigkeitsentwicklung effizient nutzbar machen. In den fünf Schritten dieses Konzepts, Zukünftelabor ➜ Hürden & Ressourcen ➜ Systemanalyse ➜ Grüne Strategie ➜ Nachhaltigkeitsumsetzung werden Unternehmen genau zu den Begegnungsorten, die More in Common vorschlägt. Und mehr noch, sie werden zudem zu Beteiligungsorten, an denen die Arbeitnehmer:innen auch über die organisationsinternen Blasen von Teams, Abteilungen und Bereichen hinaus ihren Kolleg:innen begegnen und mit ihnen gemeinsam kreativ und gestaltend tätig werden. So können die Arbeitnehmenden ihre Haltungen verändern, Kompetenzen aufbauen und Selbstwirksamkeitserwartung[1] bezüglich demokratischer Prozesse und bei der Nachhaltigkeitsentwicklung stärken.
Begegnung – Partizipation – Spillover
Schließlich und endlich bietet der Ansatz von More in Common über konkrete Beteiligung durch Partizipation die Möglichkeit, die so positiv beeinflussten Haltungen zu Demokratie und Nachhaltigkeit, die verstärkten und neu entstandenen Kompetenzen und schließlich die weiter entwickelte Selbstwirksamkeitserwartung bezüglich Demokratie und Nachhaltigkeit der Arbeitnehmer:innen durch den Spillover-Effekt auf die Gesellschaft zu übertragen. Über diesen Mechanismus habe ich mehrfach in Zeitschriften- und Buchbeiträgen (Zeuch 2023a/b, 2024) und hier im Blog geschrieben:
- Organisationsdemokratie und pro-demokratische Einstellungen
- Unternehmensdemokratie und anti-demokratische Einstellungen
- Von der beruflichen zur privaten Nachhaltigkeit
Zusammenfassend können wir also empirisch belegt festhalten:
Organisationen als Orte der Begegnung, Beteiligung und Partizipation können die gesellschaftliche und ökologische Entwicklung positiv beeinflussen.
Herzliche Grüße
Andreas
Fußnoten
[1] Selbstwirksamkeitserwartung meint Vertrauen von Menschen, mit Hilfe eigener Kompetenzen die erwünschten Handlungen und Ergebnisse auch gegen starke Widerstände und Hindernisse umsetzen und erreichen zu können. Dabei gibt es themenspezifische Ausprägungen. Im hier diskutierten Kontext bedeutet eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung, dass wir davon überzeugt sind, bezüglich unserer Demokratie und der avisierten Nachhaltigkeit wirksam zu handeln. Ausführlich siehe Wikipedia-Artikel.
Literatur
- Gagné, J.; Gertmann, I.; Krause, L.-K. et al (2023): Begegnungsradar. Unternehmen als Begegnungsorte. Ausgabe 1. More in Common
- Tagesthemen vom 05.01.2023
-
Krause, L.-K.; Gagné, J. (2019): Die andere deutsche Teilung: Zustand und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Studienbericht. More in Common e. V.
- Zeuch, A. (2023a): Demokratischer Spillover. Wie Unternehmen unsere Demokratie stärken können. In: izbd² (Hrsg.): D²-Sourcebook Demokratie und Diversity in Betrieb(en). izbd²: 55-58
- Zeuch, A. (2023b): Partizipative Nachhaltigkeitsentwicklung – wie wir Nachhaltigkeit und Demokratie zugleich entwickeln können. In: Sommer, J. (Hrsg.): Kursbuch Bürgerbeteiligung. Band 5. Deutsche Umweltstiftung: 522-537 (Auf Anfrage Kostenlos als PDF)
- Zeuch, A. (2024): Gemeinsam ökologisch nachhaltig. Über die unbekannten alten Vorteile von Green HRM und Green Teams. Erscheint in: Ökologisches Wirtschaften 1/2024
Bildnachweis
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- Cover Begegnungsradar: ©More in Common
- Artikelseite Demokratischer Spillover: ©izbd²