Demokratische Führung: Wie können wir uns eigentlich demokratische Führung in Organisationen vorstellen? Wann ist Führung demokratisch? Wann ist sie mehr, als nur eine Befriedung des stets zumindest unterschwellig vorhandenen Konflikts zwischen Arbeit und Kapital, oder weniger marxisitisch formuliert, zwischen den Arbeitnehmer*innen und den Eigentümer*innen und ihren Vertreter:innen in der Geschäftsführung oder dem Vorstand? Eine erste, überarbeitete Skizze.
Auf das Thema dieses Beitrags bin ich aus zwei Gründen gekommen. Erstens habe ich immer wieder mehr oder minder geistreiche Artikel oder Bücher über Führung gelesen. Nicht selten waren sie wenig inspirierend, zumal so einige Male Spitzensportler:innen und -trainer (meist Männer!) aus dem Profisport zum großen Vorbild für leitende Managementfunktionen erklärt wurden. Zu diesem recht zweifelhaften Übertrag aus der Sport- in die sonstige Berufswelt hatte ich mich längst kritisch geäußert (interessant war, dass dieser Beitrag seinerzeit ziemlich die Gemüter bewegte. Sport kann eines sicherlich: emotionalisieren). Aber wenn ich diese Konzeptualisierung für dysfunktional halte, was macht dann demokratische Führung aus?
Zweitens hatte ich einen anregenden Email Austausch mit einer Gesellschafterin eines erfolgreichen mittelständischen Unternehmens mit rund 1000 Mitarbeitenden. Darin stellte sie mir die wichtige Frage, was es denn brauche, damit das Pendeln zwischen Führen und Folgen in partizipativ-demokratischen Unternehmen reibungslos und ohne Dünkel funktioniert? Denn genau das ist eines der Merkmale der Unternehmensdemokratie: Die Dynamisierung der Führung, der Abbau formal-fixierter Hierarchie (innerhalb der rechtlichen Rahmenregulation durch das Gesellschaftsrecht). Denn Führung braucht es weiterhin, auch und gerade in selbstorganisierten Gefügen. Soviel nur kurz an dieser Stelle, mehr dazu später. Beginnen wir mit dem Fundament:
Demokratische Führung.Grundlagen
Es geht in der Kürze dieses Blogbeitrags nicht darum, ein vollumfängliches “System” oder Konzept präsentieren zu wollen. Es ist, wie eingangs geschrieben, eine erste überarbeitete Skizze [1]. Dies insbesondere, da wir alle fortlaufend dazulernen und es somit kein endgültiges, fixes Konzept geben kann und wird.
1. Lebensbejahendes Menschenbild
Am Anfang steht das Menschenbild. Welche Grundannahmen haben wir über unsere menschliche Natur? Demokratische Unternehmen folgen explizit nicht der rein theoretischen Konzeptualisierung des homo oeconomicus. Weil sie wissen, dass dieses Konstrukt mit seinen beiden zentralen Eigenschaften der Eigennutzenmaximierung sowie der rationalen Entscheidungsfindung niemals als ernsthafte Beschreibung des Menschen gemeint war. Es diente vielmehr als Methode dazu, die ehemalige sozialwissenschaftliche Nationalökonomie in eine naturwissenschaftlich anmutende und damit objektiv erscheinende Volkswirtschaftslehre zu verwandeln. Seit der ersten Veröffentlichung dieses Artikels habe ich mein Menschenbild weiter ausgearbeitet und in einem eigenen Beitrag ausführlich beschrieben. Deshalb hier nur ein kurzer Überblick:
- Wir alle sind als soziale Wesen geboren, was insbesondere in den ersten hochgradig fragilen Jahren bedeutsam ist, in denen wir zu allen Zeiten an allen Orten ohne Umsorgung nicht lebensfähig waren und sind. In dieser Phase sollte unser persönliches Fundament geschaffen werden: Das Urvertrauen in die Welt, unsere Mitmenschen und uns selbst.
- Wir werden alle neugierig geboren. Als Babys und kleine Kinder beginnen wir von ganz allein, die Welt um uns herum zu entdecken. Diese Neugier (zentral für einen erfolgreichen Umgang mit Unsicherheit!) verlieren einige von uns aus verschiedenen Gründen erst im Laufe des Er-Wachsens.
- Wir werden alle als kreative Wesen geboren. Manche mehr, manche weniger. Aber wir alle suchen in der einen oder anderen Form einen kommunikativen Ausdruck. Zeitlich und kulturell unterscheiden sich nur die Mittel wie Kleidung, Wohnungseinrichtungen, Gruppenzugehörigkeit, Kunst und vieles mehr.
- Wir alle sind lernfähig. Ab unserer Geburt lernen wir ohne Unterlass alles Mögliche: Greifen, Gehen, Rennen, Schwimmen, Reden, Interagieren, Lesen, Schreiben, Rechnen …
- Wir alle wollen wirksam sein. Erst versuchen wir unsere direkte Umgebung zu beeinflussen. Später wollen wir zum Teil auch auf die Welt darüber hinaus Einfluss ausüben. Wir wollen selbstwirksam sein.
- Wir alle suchen als Erwachsene nach einer dynamischen Balance aus Selbstbestimmung und Freiheit einerseits sowie Bindung und Zugehörigkeit andererseits. Mal brauchen wir mehr vom einen, mal mehr vom anderen. Dauerhaft auf einer Seite zu sein, ist ein pathologisches Muster (dissoziiert-schizoid vs. antriebslos-depressiv).
- Unser aller Nichtwissen (vgl. Zeuch 2007, 2021) übersteigt immer unser jeweiliges Wissen. Das scheint trivial, aber faktisch werden zumindest in den Kulturen des globalen Nordens Statusunterschiede insbesondere durch Wissen und Kompetenz definiert und markiert. Dabei bleiben wir vor allem eines: Nicht-Wissende (wer promoviert hat weiß, dass mit zunehmendem Wissen und Erkennen immer weitere Fragen auftauchen [2]. )
- Wir alle entscheiden immer rational und intuitiv-emotional. Kein gesunder Mensch kann rationale Entscheidungen völlig von emotionalen und unbewussten Impulsen und Einflüssen frei halten (vgl. Zeuch 2003). Unterschiedlich ist vor allem die Bewertung und der jeweilige Umgang mit rationalen, intuitiven und emotionalen Anteilen der Entscheidungsfindung [3].
2. Einordnung in unsere Gesellschaft als Ganzes
Das maßgebliche Argument zur Demokratisierung der Arbeit ist die Feststellung, dass wir in einer halbierten Demokratie leben (Aaron 1981): Es gibt eine faktische “Differenz zwischen den Rechtssubjekten “Bürger” und “Arbeitskraft”; genauer: eine Statusdiskrepanz. Als Beschäftigter im Betrieb oder in einer Einrichtung des öffentliche Rechts … bin ich nicht im Vollbesitz meiner bürgerlichen Rechte. … Teile der Bürgerrechte konkurrieren, stehen in widersprüchlichem Verhältnis zueinander. Eigentumsrechte beschränken Freiheitsrechte. Natürlich stimmt auch: Der Schutz von Eigentumsrechten sichert dem einzelnen Eigentümer bestimmte Freiheiten.” (Moldaschl 2004: 216).
Zudem kommt hinzu, dass Unternehmen als Institutionen privaten Eigentums der Gesellschaft und dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Aktuell bringt das vor allem die Bayrische Verfassung auf den Punkt: “Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten“ (Bayrische Verfassung, Art. 1, Abs. 1). Und weiter: “Die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen findet ihre Grenze in der Rücksicht auf den Nächsten und auf die sittlichen Forderungen des Gemeinwohls.“ (a. a. O., Abs. 2). Randnotiz: Es würde mich nicht wundern, wenn in Bayern gegen das eine oder andere Unternehmen verfassungsrechtlich erfolgreich geklagt werden könnte.
In diesem Sinne beginnt demokratische Führung durch die freiwillige Ein- und Unterordnung unter gesamtgesellschaftliche Bezüge durch die Eigentümer:innen und, sofern sie nicht selbst geschäftsführend tätig sind, durch deren Vertreter:innen in der Geschäftsführung, bzw. dem Vorstand (Agenten gemäß der Prinzipal-Agent-Theorie). Ein Unternehmen kann nicht als demokratisch gelten und auch keine glaubwürdige demokratische Führung behaupten, solange deren Eigentümer:innen und das Topmanagement nicht dafür sorgen, dass ihre legitimen Gewinnerzielungsabsichten nicht auf Kosten des Gemeinwohls vollzogen werden. Auf diesen Aspekt zielen wir mit einem Teil meiner Definition der Unternehmensdemokratie (vgl. Carduck 2021)
Unternehmensdemokratie ist verbindlich verfasste Selbstorganisation, die kein Mittel zum alleinigen Zweck der Gewinnmaximierung ist. Deshalb achten demokratische Organisationen bei der Erzeugung und dem Vertrieb ihrer Produkte und Dienstleistungen auf das Wohl aller Interessengruppen sowie das Gemeinwohl insgesamt. (Zeuch)
3. Anerkennung und konsequente Umsetzung der Grundrechte
Wie nach Manfred Moldaschl oben zitiert, gehen uns einige unserer Freiheiten und Grundrechte, die uns als Bürger:innen zustehen, in dem Moment verloren, in dem wir unsere Arbeit im Rahmen eines abhängigen Arbeitsvertrags beginnen. Mein Standardbeispiel: “”Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ (Grundgesetz, Art. 5, Abs. 1) Wer das jedoch bei seinem Arbeitgeber macht, kann erhebliche Probleme bekommen. Natürlich wird dann nicht die Meinungsäußerung selbst attackiert, sondern es werden Nebenkriegsschauplätze eröffnet.” (Zeuch 2021) Aber es geht noch offensichtlicher: Häufig verbieten Unternehmen ihren Mitarbeitenden, ihre Sicht auf längst öffentlich einsehbare und bekannte Fakten zu äußern. Sie sind verpflichtet, z.B. Journalist:innen an die jeweiligen PR Abteilungen zu verweisen. Genau das geschah, als ich mit einer Mitarbeiterin über deren Sicht auf #Dieselgate sprechen wollte.
Insofern besteht das nächste, grundlegende Element demokratischer Führung darin, die für uns alle im Grundgesetz verbrieften Rechte zu respektieren und sie aktiv zu pflegen. Damit sind mindestens vier aktuell leider immer wieder zu findende Geschäftspraktiken unhaltbar, die in demokratischen Organisationen keinen Platz haben dürfen:
- Ausbeutende Geschäftsmodelle, wie sie beispielsweise zur Zeit in der (Alten)Pflege durch Privatisierung oder in der Logistik durch Sub-Sub-Subunternehmer innerhalb von Deutschland Standard sind. Außerhalb unserer Landesgrenzen werden die Angestellten in den Lieferketten häufig ausgebeutet. Aktuell wehren sich viele, wenn nicht die meisten Unternehmen, die davon betroffen sind, gegen ein striktes Lieferkettengesetz, dass sie lobbyistisch erfolgreich torperdiert haben. Im Ausland reden wir dabei teils über sklavenartige Ausbeutung (Kakao- und Kaffeproduktion, Textilherstellung, Produktion elektronischer Geräte etc.). Deshalb bekämpfen demokratische Unternehmen Ausbeutung im Rahmen ihres Geschäftsmodells.
- Diskriminierende Gehaltsmodelle, die vor allem Frauen schlechter stellen als Männer, sind ein Bruch mit dem GG, Art. 3, Abs. 1 & 2: “(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt”. (ebnd.) Auch wenn dies keineswegs immer intentional entstanden sein muss, so dürfen diese Unterschiede nicht in die Zukunft fortgeschrieben werden. Deshalb sorgen demokratische Unternehmen dafür, ihre Gehaltsmodelle so objektiv wie möglich zu analysieren und Ungerechtigkeit in den Verfahren und der Vergütung abzustellen (z.B. durch den Universal Fair Pay Check).
- Vergattern der Mitarbeitenden, wie oben dargestellt, entgegen Art. 5 Abs. 1 unseres Grundgesetzes in der Öffentlichkeit zu schweigen. Deshalb ermutigen demokratische Unternehmen ihre Mitarbeitenden, ihre eigene Meinung über ihren Arbeitgeber gegebenenfalls auch in öffentlichen Medien zu äußern. Achtung: Selbstverständlich ist es das gute Recht eines Unternehmens, Patente, aktuelle, noch in Entwicklung befindliche Produkte und Dienstleistungen etc. zu schützen.
- Egomanische Narzissten (vorwiegend selbstüberhebliche Männer) oder gar Psychopathen als Führungskräfte, die durch die Logik formal-fixierter Hierarchien in Unternehmen, relativ gesehen, signifikant häufiger zu finden sind, als in der gesamten Gesellschaft (vgl. Heidbrink et al. 2021, Externbrink & Keil 2018, Dammann 2007). Weil diese manchmal hochgradig fremdaggressiven Personen wieder und wieder die Würde und Gesundheit ihrer anheimgestellten Mitarbeitenden verletzen, stellen demokratische Unternehmen unmissverständlich klar, dass derartiges Verhalten nicht toleriert und umgehend sanktioniert wird.
Strukturelle Merkmale demokratischer Führung
4. Partizipative Reduktion formal-fixierter Hierarchie aufs Nötige
Alles fluffige New Work Gerede findet seine harte Grenze am Gesellschaftsrecht. Keine GmbH ohne Geschäftsführung, keine AG ohne einen Vorstand und Aufsichtsrat etc. Allerdings haben Unternehmen innerhalb dieser Grenzen Gestaltungsspielraum. Und da die Zementierung von Führung durch ihre Fixierung an fest definierte Stellen das Problem ist und nicht Führung an sich, sorgen demokratische Unternehmen dafür, dass gemeinsam mit den Mitarbeitenden geklärt wird, welche formal-fixierten, hierarchischen Stufen tatsächlich nötig sind, um geschäftlich nachhaltig erfolgreich zu sein. Randnotiz: Darüber hinaus können wir natürlich langfristig auch das Gesellschaftsrecht selbst ändern, schließlich stammen diese Rahmenbedingungen von unserer Legislative und nicht von den Schlümpfen.
Wichtig erscheint mir aktuell, das Gerüst, innerhalb dessen zukünftig Führung vollzogen wird, gemeinsam demokratisch zu gestalten. Die Mitarbeitenden schon an der Stelle ins Boot zu holen, bedeutet Zweierlei: Erstens das Angebot, die relevante Führungsstruktur gemeinsam zu gestalten und damit die eigene Arbeitswelt zu formen. Zweitens die damit einhergehende Verantwortung. Denn das Ergebnis ist dann nichts mehr, über das die Mitarbeiter:innen meckern, für das sie andere beschuldigen können. Sie haben dann diese Strukturen mit geschaffen. Und wenn sie das nicht wollten, müssen sie später akzeptieren, was andere ohne ihre selbstverantwortlich verzichtete Gestaltungsmacht aufgebaut haben. Schließlich wird ihnen diesbezüglich meist ohnehin kein Mitspracherecht eingeräumt. Gerade hier greift mein grundlegendes Prinzip der unternehmensdemokraten: “Jeder der will, darf mitgestalten, keiner muss und alle tragen die Konsequenzen.”
5. Subsidiarität: Entscheidungen werden dort getroffen wo sie anfallen
Noch etwas genauer:
Entscheidungen werden dort getroffen, wo sie anfallen. Und nur dann nach oben eskaliert, wenn sie vor Ort nicht getroffen werden können.
Ein weiteres zentrales Merkmal besteht darin, dass die Entscheidungen nicht von oben herab von Führungskräften getroffen werden, die nicht vor Ort sind und nur über aufwändige, zeitraubende und -verzögernde Berichterstattung die nötigen Informationen erhalten. Dies ist der Witz an der Debatte: Immer wieder wird demokratischer Führung unterstellt, sie wäre langsamer als die Entscheidungswege der klassischen Aufbauorganisation. Das stimmt exakt in einem Punkt ansonsten gilt das Gegenteil: Sofern mehrere Personen bis hin zu ganzen Belegschaften in Entscheidungsprozesse involviert werden, nimmt dies selbstredend mehr Zeit bei der Vorbereitung und eigentlichen Entscheidung in Anspruch (die Umsetzung erfolgt dann im Allgemeinen schon wieder wesentlich schneller). Aber sobald eine Mitarbeiterin erst mal den Scheff fragen muss, um eine Lapalie zu entscheiden, ist die immer wieder über den Klee gelobte Entscheidungsgeschwindigkeit traditioneller Hierarchie vorbei.
Denn dann kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Die Vorgesetzte, oder der Chef-Chef muss erst einmal informiert werden, worum es überhaupt geht, sofern es sich nicht um eine Standardsituation handelt. Und die kommen in zunehmend komplexen und dynamischen Zeiten (VUCA) immer seltener vor. Im Falle der nötigen Berichterstattung wissen die Vorgesetzten jedoch nicht, ob die Informationen ausreichend sind, ob sie nicht (un)bewusst verzerrt wurden etc. Das gilt insbesondere, wenn sich der Informationsweg über mehrere hierarchische Stufen zieht. Und dann gibt es immer wieder eine beeindruckende Entscheidungslähmung, weil der Vorgesetzte gerade nicht da ist (Dienstreise, Urlaub, Krankheit…).
6. Entscheidungen über den Gebrauch des Mehrwerts
Die bisher skizzierten strukturellen Merkmale sind wichtig. Aber damit sind die möglicherweise wichtigsten Entscheidungen, die in Unternehmen gefällt werden können, noch nicht demokratisiert: Was macht das Unternehmen mit dem Mehrwert, der täglich durch die (in)direkt an der Wertschöpfung beteiligten Menschen geschaffen wird? Wem fällt dieser Mehrwert zu? Im Allgemeinen den Eigentümern und ihren Vertretungen in der Geschäftsführung und dem Vorstand. Wie das Geld darüber hinaus für verschiedene Zwecke wie F&E, Marketing, Dividenden, Lobbyarbeit etc. eingesetzt wird, obliegt in fast allen Fällen nicht denjenigen Personen, die ihn erarbeitet haben.
Dabei ist genau diese Entscheidung zentral für die Entwicklung des Unternehmens und unserer Gesellschaft. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob das Geld genutzt wird, um über Lobbyismus Gesetze zu verhindern oder aufzuweichen, die dem Gemeinwohl dienen (siehe Lieferkettengesetz), oder ob eine gegenteilige Lobbyorganisation bezahlt wird; oder ob substanziell in die Entwicklung der Nachhaltigkeit des Unternehmens investiert wird; oder vielleicht sogar in die Entwicklung unserer Demokratie, indem Vereine, die unsere Demokratie fördern, nachhaltig unterstützt werden etc. (tatsächlich gibt es Unternehmen, deren Eigentümer:innen unserer Demokratie mehr wert ist als eine bloße Stellungnahme).
Die nicht von den Mitarbeitenden getroffene Entscheidung über den Mehrwert ist übrigens ein zentrales gemeinsame Merkmal zwischen den ansonsten so unterschiedlich erscheinenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen des Kapitalismus, Sozialismus und Kommunismus: Auch in den beiden Letzteren entschieden keineswegs die Genoss:innen über die Verteilung und Verwendung des Mehrwerts. Dies wurde im Gegensatz zum privaten Kapitalismus durch staatliche Organe, bzw. Gremien entschieden, quasi dem Gegenstück zur Geschäftsführung und dem Vorstand.
Demokratische Führung. Kulturelle Merkmale
7. Je komplexer die Entscheidung, desto mehr Teilhabende
Ich unterscheide vier Reichweiten der Partizipation, wenn ich über demokratische Führung rede: Operative Entscheidungen des Arbeitsalltags (Arbeitszeit, -ort, -mittel, Selbstmanagement…), taktische Entscheidungen (PeerRecruiting, Projektauswahl, Projektbesetzung…), strategische Entscheidungen (Strategieentwicklung, Merger&Accquisition, Standortfragen, Geschäftsmodellinnovationen…) und letztlich normative (Governance, Werte…). In dieser Reihenfolge nimmt dreierlei zu: Erstens die Auswirkungen auf die Vitalität der Organisation. Ob ich ein iPhone nutze oder ein Samsung, wird das Unternehmen nicht besonders tangieren. Das wird – je nach Unternehmensgröße – im taktischen Bereich schnell anders. Neue Kolleg:innen können das Wohl des Unternehmens teils stark beeinflussen. Den strategischen und normativen Bereich brauche ich kaum zu erläutern. Zweitens reichen die Entscheidungen zunehmend weiter in die Zukunft und werden drittens immer komplexer.
Paradoxerweise werden aber aktuell gerade die komplexen und existentiellen strategischen und normativen Entscheidungen unter Ausschluss der Betroffenen getroffen. Vor allem aber: unter Ausschluss von deren Perspektiven, Wahrnehmungen, Erkenntnissen, Ideen, usw. Je komplexer die Entscheidung, desto dysfunktionaler wird die Entscheidung durch kleine, meist homogene Gruppen wie Vorstände. Diese fallen schnell dem Gruppendenken anheim, halten sich selbst der Belegschaft gegenüber für überlegen, haben intern nur bedingt abweichende Meinungen und wähnen sich im Vollbesitz der nötigen Daten, Informationen und des daraus ableitbaren Wissens. Bis zu #Dieselgate. Dann wussten sie auf einmal nichts.
8. Führung dynamisieren: Pendeln ohne Dünkel
Wenn demokratische Organisationen ihre formal-fixierte Hierarchie so weit wie nötig reduzieren, heißt das konsequenterweise, das Führungsarbeit fortan zwischen verschiedenen Akteur:innen der Organisationen pendelt. Demokratische Führung bedeutet: Mal führt die Eine im Team, mal der Andere. Je nachdem, was projekt- oder kundenbezogen sinnvoll ist. Oder was, ganz unabhängig von den Kunden, jeweils psycho- und gruppendynamisch sinnvoll ist. Stell Dir einfach vor, Du erhältst heute die Nachricht, dass Dein(e) Partner(in) an Krebs erkrankt ist; oder dass Dein Kind einen schweren Unfall hatte; oder … wie sollst Du dann in der Lage sein, ein Team oder eine Abteilung gut zu führen, und zwar ohne Dich dabei brutal selbst zu übergehen? Auch dann sollte der Staffelstab der Führung schnell weiter gereicht werden.
Und genau hier kam die Frage der eingangs erwähnten Gesellschafterin ins Spiel. Was braucht es, um dieses Pendeln zwischen Führen und Folgen mit Leichtigkeit ohne Dünkel und sonstige Schwierigkeiten für mich oder andere zu meistern?
- Ein gesundes Selbstwertgefühl, dass so wenig wie möglich von Äußerlichkeiten abhängt (Titel, Rang, Privilegien wie Eckbüro, großer Dienstwagen, Assistentin…). „Insecure overachiever“ werden mehr Probleme mit dem Wechseln haben.
- Zweitens die Fähigkeit, sich selbst nicht über das Projekt (etc.) zu stellen, sondern sich als Teil des Ganzen zu begreifen (ohne sich selbst wiederum zu einem Rädchen der allmächtigen Maschine zu degradieren)
- Kritisch-konstruktive Fremd- und Selbsteinschätzung (leider finden wir ja unter Führungskräften signifikant eher Narzissten, die zur Selbstübeschätzung leiden, s.o.)
- Was kann ich, was nicht – wie schätze ich es bei anderen ein
- Was will ich aktuell überhaupt, was brauche ich gerade (vlt. eher Ruhe und im Team arbeiten, statt exponiert in Führung zu sein)
- Kommunikation – um gemeinsam mit den Kolleg:innen zügig die je beste Person für die Führung zu finden
Demokratische Führung lernen
Wenn wir das bis hierhin Reflektierte bedenken, wird klar: Demokratische Führung ist alles andere als einfach. Deshalb biete ich mit den Kolleg:innen aus dem Netzwerk der unternehmensdemokrat:innen voraussichtlich ab April 2025 eine Fortbildung zu demokratischer Führung an. In drei thematischen Blöcken beginnst Du mit den anderen Teilnehmenden bei der Erkundung und Reflexion Deines eigenen Menschenbilds, lernst wichtige rechtliche Grundlagen demokratischer Führung, verstehst was eine demokratische Problemdefinition ist und warum sie wichtig ist und wie Du sie durchführen kannst und vieles mehr. Im Zentrum steht dabei die fortlaufende intensive Selbstreflexion der eigenen Führungsarbeit, der Aufbau stabiler und hilfreicher kollegialer Beziehungen zu den anderen Teilnehmenden und sogar die Einbindung der Mitarbeitenden aus Deinem Unternehmen. Wenn Du Interesse hast, mehr Infos und/oder auf dem Laufenden gehalten werden willst, freuen wir uns über Deine Nachricht.
Herzliche Grüße
Andreas
Fußnoten
[1] Die Erstveröffentlichung war im Mai 2021.
[2] Nicht umsonst gibt es den Dunning-Kruger-Effekt: Je weniger kompetent und wissend, desto eher überschätzt eine Person die eigenen Fähigkeiten. Im Verhältnis zu kompetenteren Menschen formuliert: Je weniger kompetent und wissend, desto eher kommt es zu einer Selbstüberschätzung. Tatsächliches Wissen und Kompetenz verhalten sich reziprok zur Selbsteinschätzung. Es bedarf also einer gewissen Grundintelligenz, um die Grenzen des eigenen Wissens und Könnens selbst-bewusst wahrnehmen zu können. Der Umgang mit diesem Nichtwissen und -können ist dann noch etwas anderes (vgl Zeuch 2007).
[3] Im Rahmen meiner Dissertation zum Training professioneller intuitiver Selbstregulation (Zeuch 2003) stieß ich auch auf interkulturelle Untersuchungen zum Wert der Intuition im professionellen Kontext. Parikh (1994) verglich insgesamt 1312 Manager relativ großer industrieller und Dienstleistungsunternehmen aus insgesamt 9 verschiedenen Ländern mit weit entwickelten Wirtschaftsmärkten (Österreich, Frankreich, Niederlande, Schweden, England, Japan und USA) mit solchen aus weniger entwickelten Märkten mit mittlerem Einkommen (Brasilien) und mit niedrigem Einkommen (Indien).
Literatur
- Aaron, R. (1981/2016): Über die Freiheiten. S. Fischer
- Carduck, P. (2021): Unternehmensdemokratie und Gemeinwohl. Erstveröffentlichung: www.nachhatigejobs.de
- Damman 2007: Narzissten, Egomanen, Psychopathen in der Führungsetage: Fallbeispiele und Lösungswege für ein wirksames Management. Haupt
- Externbrink, K.; Keil, M. (2018): Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie in Organisationen: Theorien, Methoden und Befunde zur dunklen Triade. Springer
- Heidbrink, M.; Berg, V.; Feltes, F. (2021): Narzissmus in deutschen Führungsetagen. Die Jungbullen kommen. Harvard Business Manager, 5/21.
- Moldaschl, M. (2004): Partizipation und/als/statt Demokratie. In: Weber, W. et al. (Hrsg): Wirtschaft, Demokratie und soziale Verantwortung. Kontinuität und Brüche. Vandenhoeck & Ruprecht: 216-245
- Poppenborg, M. (2018): Dein Kompass für die neue Arbeitswelt. Nur das musst Du wissen, um den Überblick zu behalten. intrinsify.me GmbH Nur erhältlich für Newsletter Abonnenten: https://intrinsify.de/news/
- Zeuch, A. (2003): Training professioneller intuitiver Selbstregulation. Theorie, Empirie und Praxis. (Dissertation auf Anfrage als PDF) Verlag Dr. Kovac
- Zeuch, A. (2021): Wie Fische im Wasser. Keine Demokratie ohne Demokratisierung der Arbeit. In: Permantier, M. (Hrsg.): Ich, wir, alle. Perspektiven für eine mögliche Zukunft. Vahlen. Band in Arbeit.
Bildnachweise
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Ein sehr guter Beitrag, Andreas! Danke.
Lieber Sigi –
wow, das ging schnell! Die Rückmeldung von einem kritisch-klugen Geist wie Dir freut und ehrt mich. Danke.
Dir einen guten Start in die neue Woche
Andreas
…gerne möchte ich zu Punkt 8. ergänzen, dass “Führung dynamisieren” mit meiner Autoritätsperspektive in jedem Fall auch voraussetzt, die erstarrte Beziehungsdynamik der Führungshaltung “autoritärer Autorität” aufzuweichen, also Autorität als zentrale Haltung von Führen und Folgen neu oder wie ich es mittlerweile bezeichne, transformativ zu denken. Óhne dies, meiner Erfahrung nach (die Forschung dauert noch an…), reinszenieren viele Menschen eher früher als später unbewusst mit ihrer autoritären Haltung zu Autorität erstarrte Beziehungsmuster – nahezu unabhängig vom Organisationssetting. Dann wird es sehr schwer, Führung zu dynaminiseren. Diesen Aspekt würde ich gerne Deinem Beitrag zur Seite stellen. Und: ich erinnere mich noch gerne an unser Interview https://unternehmensdemokraten.de/2017/01/23/unternehmensdemokratie-und-neue-autoritaet/ Teil 1 & Teil 2 https://unternehmensdemokraten.de/2017/01/26/unternehmensdemokratie-und-neue-autoritaet-teil-2/
(Im Sommer erscheint übrigens bereits die 3. Auflage – das hätte ich vor rund 10 Jahren, als ich damit begann, nicht für möglich gehalten..). Cheers und Danke für diesen wichtigen Beitrag.
Lieber Frank,
volle Zustimmung! Das ist mit Sicherheit ein wichtiger Aspekt, den Du da ansprichst und mit in die Diskussion bringst. Danke dafür. Auch für die Erinnerung und Verlinkung unseres Dialogs zu diesem Thema.
HGA