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Seit der Veröffentlichung von “Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten” im Jahr 2015 hatte ich das Vergnügen, zahlreiche Gespräche, Diskussionen und Streitgespräche zu führen, in denen es immer wieder um den Begriff der Selbstorganisation ging: Was ist der Unterschied zur Unternehmensdemokratie? Die Auseinandersetzung reichte von der berechtigten Frage nach dem Unterschied bis hin zu klaren Statements, dass Selbstorganisation der wesentlich bessere Begriff sei, mithin also auch das mit diesem Begriff verbundene Konzept tauglicher zur Erneuerung der Unternehmensführung wäre. Das sehe ich anders.
Selbstorganisation
Dieser Begriff hat, wie so viele andere Komplexbegriffe (Dietrich Dörner) auch, eine unklare und vielfältige Geschichte. Um mich nicht lange in ethymologischen Versuchen zu verlieren, möge eine Klarstellung reichen, wie ich diesen Begriff persönlich verstehe und deute:
- Selbstorganisation ist zunächst ein (natur-)wissenschaftlicher Begriff. Ich erinnere mich an meine Studienzeit, als ich mich viel mit System- und Chaostheorie sowie Konstruktivismus beschäftigte und damit natürlich auch mit Selbstorganisation (zB: Bateson: Ökologie des Geistes; Jantsch: Die Selbstorganisation des Universums; Luhmann: Soziale Systeme; Prigogine & Stengers: Dialog mit der Natur und so weiter…) . In meinem Gedächtnis blieb prototypisch die Selbstorganisation der Bénard-Zellen hängen, genauer: Die Rayleigh-Bénard-Konvektion, bei der sich durch Erhitzung von flachen, horizontalen Flüssigkeiten selbstorganisiert Konvektionszellen bilden. Andere Beispiele für physikalische, chemische und biologische Selbstorganisation sind Legion (zB Autopoiesis: Maturana & Varela: Der Baum der Erkenntnis; Maturana: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit).
- Sie ist auch im Management schon lange in Diskussion. Bereits für meine Diplomarbeit 1996 las ich Werke über Selbstorganisation im Management und Organisationsberatung (zB: Luhmann: Organisation und Entscheidung; Malik: Systemisches Management, Evolution, Selbstorganisation und Strategie des Managements komplexer Systeme; Willke: Systemtheorie I-III). Meine bescheidene Wahrnehmung: Mit diesem Begriff lockt man niemanden mehr hinterm Ofen hervor. Das ist zwar nicht im Geringsten ein Argument gegen dessen Sinn und Wert, aber sehr wohl gegen den besonders aktuellen Nutzen in der Weiterentwicklung von Konzepten zur Unternehmensführung.
- Der Begriff wirkt neutral und hat keinen politischen Impact. Das ist einerseits ein großer Vorteil, denn Selbstorganisation wird nicht umgehend in ein links-alternatives politisches Lager verfrachtet und dort anschließend mehr oder weniger trefflich kritisiert. Selbstorganisation ist einfach kein Reizwort (mehr), es erntet eher ein lässig gelangweiltes Schulterzucken. Vor allem aber hat der Begriff in der heutigen Demokratiekrise keine besondere Kraft, Antworten auf die vielen Fragen dieser Krise zu geben. Insbesondere, weil der Begriff nach meiner Lesart eher (natur)wissenchaftlich und nicht gesellschaftlich geprägt ist, wie ich oben kurz darlegte.
Unternehmensdemokratie
Nun zum Begriff „Unternehmensdemokratie“, der ebenfalls keineswegs neu ist, wie in Diskussionen immer wieder kritisch angemerkt wird. Gerade so, als ob eine bereits vorhandene Begriffsgeschichte den Wert eines Konzepts, dass mit einem Begriff verbunden ist, ihn alleine deshalb zunichte machen würde. Schließlich beschäftigen wir uns aktuell zunehmend mehr mit unserer Demokratie. Dabei ist der Begriff noch wesentlich älter. Und zugleich gerade deshalb so aktuell, weil unsere real existierende Demokratie einen guten Teil ihrer Versprechen schuldig geblieben ist.
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Peretz (Fritz) Naphtali, 1888-1961 Unternehmensdemokratie wirkt als Begriff frischer. Denn zunächst mal ist im Gegensatz zur Selbstorganisation festzustellen, dass es zur Unternehmensdemokratie tatsächlich keinen Eintrag bei Wikipedia gibt. Interessant, denn der Begriff wurde unter dem verwandten Begriff “Wirtschaftsdemokratie” bereits in den 1920ern unter anderem von dem deutschen Kaufmann und Wirtschaftsjournalist sowie israelischen Mehrfachminister Fritz Naphtali zumindest kurz diskutiert, aber nicht breitflächig umgesetzt.
- Unternehmensdemokratie hat einen politischen Impact. An dieser Stelle ist also das genaue Gegenteil des Begriffs Selbstorganisation zu verbuchen. Aus meiner Sicht ist das durchaus vorteilhaft. Denn eine der zentralen Aspekte, die mich persönlich motivieren, ist das weitreichende Phänomen, dass unsere gesellschaftlich gewünschte Demokratie vor den Toren der Arbeitswelt halt macht. Im Ergebnis haben wir als Rechtssubjekte in den beiden Sphären Gesellschaft und Erwerbsarbeit widersprüchliche Rechte und Pflichten.
- Unternehmensdemokratie hat eine systemkritische Konnotation. Selbstorganisation kann leicht dazu genutzt werden, um die bestehenden undemokratischen Arbeitsverhältnisse weiter zu zementieren. Ein Unternehmen zu demokratisieren, um damit den (natürlichen) Inhaber oder institutionelle Anleger weiter zu bereichern, ist ein Widerspruch. Werkstätten sich selbst organisieren lassen, um einfach nur effizienter zu werden, ist hingegen nicht unüblich. Bei der Demokratisierung der Arbeit geht es hingegen immer auch um zentrale Aspekte wie Gleichberechtigung, Fairness und das damit verbundene Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen. Und nachdem Unternehmen seit Anfang 2024 zunehmend mehr ihre politische Verantwortung erkennen, sofern sie weiter in einer Demokratie wirtschaften und deren Vorzüge für den eigenen Gewinn nutzen wollen, stärkt die Demokratisierung der Arbeit nachweislich unsere Demokratie und schützt uns vor einem zunehmenden Rechtspopulismus und -extremismus.
Konsequenz
Für mich ist Unternehmensdemokratie der nützlichere Begriff. Selbstorganisation ist nicht falsch. Sie hat nur nicht die Bedeutungen und Implikationen, wie Unternehmensdemokratie. Und trivial aber wichtig: Selbstorganisation provoziert nicht ausreichend.
Herzliche Grüße
Andreas
Literatur
Napthali, F. (1928/1969): Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel. Europäische Verlagsanstalt
Bildnachweis
- Bénard-Zellen in der Seitenansicht: Harke, gemeinfrei
- Fritz Naphtali: gemeinfrei