Spillover-Effekt: Organisationsdemokratie und pro-demokratische Einstellungen

unseen-histories-U2F-bYmuEqU-unsplash

Spillover-Effekt: Vor kurzem berichtete ich hier im Blog von der Labor.A 21, der jährlichen Veranstaltung der Hans-Böckler-Stiftung. Bei dieser letzten Ausgabe kam auf der Panel Diskussion zur Demokratisierung der Arbeitswelt auch die aktuelle Böckler-Studie zum Zusammenhang von Arbeit, Digitalisierung und Klimawandel einerseits und anti-demokratischen Einstellungen andererseits zur Sprache. Die Stichprobe dieser Studie war mit deutlich über 4000 Teilnehmer:innen schon überaus solide. In einer nochmals anderen Liga spielt eine höchst interessante, ebenfalls aktuelle Untersuchung, die sich im Gegensatz zur Böckler-Studie explizit auf den Spillover-Effekt bezieht. Und sie kommt zu ermutigenden Ergebnissen.

Die vorgestellte Studie stammt von dem australischen Professor Andrew Timming für Management von der RMIT University in Melbourne und Juliette Summers von der School of Management der University of St. Andrews in Schottland. Ihre Untersuchung Is workplace democracy associated with wider pro-democracy affect? A structural equation model wurde 2018 in der Zeitschrift Economic and Industrial Democracy publiziert. Ich stelle sie hier vor, weil sie mit einer der bislang größten Stichproben im Zusammenhang mit der Untersuchung des Spillover-Effekts aufwartet – und das verteilt über 27 Länder aus der EU. Damit adressiert sie einen der bisherigen Kritikpunkte zu kleiner Stichproben bei früheren Studien.

Studiendesign zum Spillover-Effekt

Forschungsfrage und Hypothesenbildung

Die Studie zum Spillover-EffektTimming und Summers beziehen sich mit Ihrer Studie auf den “pro-democracy affect”, den sie selber in die laufende Forschung und Debatte einbringen. Mit dieser Formulierung meinen sie die Bereitschaft, sich aktiv in pro-demokratischen Aktivitäten wie Wahlen oder Kampagnenarbeit zu engagieren. Es geht also um mehr als “bloßes Interesse in Politik”. Ein solches Engagement hängt stark von der Etablierung eines tiefgehenden Vertrauens in politische Institutionen ab. Und so kommen sie zu ihrer Fragestellung, in welchem Umfang sich die Partizipation der Arbeitnehmer:innen bei Entscheidungen (Participation in Decision-Making, PDM) nicht nur auf ein allgemeines demokratisches Interesse auswirkt, sondern ebenso auf das Vertrauen in politische Institutionen der Demokratie. Daraus leiten sie ihre ersten drei Hypothesen ab:

  • Hypothese 1: PDM ist positiv assoziiert mit politischem Interesse.
  • Hypothese 2: PDM ist positiv assoziiert mit einem allgemeinen pro-demokratischen Gefühl.
  • Hypothese 3: Politisches Interesse vermittelt positiv die Beziehung zwischen PDM und einem pro-demokratischen Gefühl

Die Hypothesen schlagen laut der beiden Forscher:innen einen Lerneffekt vor: Angestellte, denen es erlaubt ist, an Entscheidungen zu partizipieren, können die Würdigung und Anerkennung demokratischer Prinzipien über den Arbeitsplatz hinaus auf die politische und zivile Gesellschaft übertragen (Spillover-Effekt). Allerdings müssen noch zwei mögliche Verzerrungen kontrolliert werden: Selbstselektion und umgekehrte Kausalität sowie die Mitgliedschaft in Gewerkschaften. Schließlich ist es nicht nur möglich, sondern sogar schon gezeigt worden, dass vorab existierendes politisches Interesse dazu führt, dass sich diese Menschen einen demokratischen Arbeitgeber suchen, der PDM zulässt oder sogar wünscht und fördert (Selbstselektion: Hallier 2001, Hakim 2002). Somit würde also die pro-demokratische Einstellung vom Zivilleben aufs Arbeitsleben übertragen (umgekehrte Kausalität) und nicht wie angenommen von der Arbeit aufs zivile Leben. Um diese erste mögliche Verzerrung (Selbstselektion und umgekehrte Kausalität) zu kontrollieren, wurde folgende vierte Hypothese formuliert:

  • Hypothese 4: PDM ist auch dann noch positiv mit politischem Interesse und pro-demokratischen Gefühlen assoziiert, wenn die umgekehrte Kausalität kontrolliert wird.

Letztlich fokussieren sie noch auf auf den besonders wichtigen Zusammenhang zwischen gewerkschaftlicher Präsenz beim Arbeitgeber und einem höheren Ausmaß an politischem Engagement bei Gewerkschaftsmitgliedern. Verschiedene Studien haben diesen Zusammenhang deutlich gemacht. So konnte unter anderem gezeigt werden, dass der Kontakt mit einer Gewerkschaft die Wahlbeteiligung erhöhte (Bryson et al. 2014) und umgekehrt die Abnahme an gewerkschaftlicher Durchdringung von Arbeitgebern mit einer Abnahme von Wahlbeteiligung korreliert (Radcliff 2001).

  • Hypothese 5a: Gewerkschaftsmitgliedschaft ist assoziiert mit größerer PDM.
  • Hypothese 5b: Gewerkschaftsmitgliedschaft ist assoziiert mit größerem politischen Interesse.
  • Hypothese 5c: Gewerkschaftsmitgliedschaft ist assoziiert mit einem größeren pro-demoratischen Gefühl

Stichprobe

Daten des ESS wurden genutzt, um den Spillover-Effekt zu untersuchen
Website European Social Survey

Die Stichprobe wurde dem European Social Survey, Round Five von 2010 entnommen. Die Anzahl der Personen (15 Jahre und älter), die geantwortet haben, liegt bei 52.458 aus 27 europäischen Ländern wie Belgien, Bulgarien, Deutschland, England, Finnland, Frankreich, Schweiz, Spanien, Tschechien, Ukraine und andere mehr. Es liegen also Daten und deren Auswertungen aus reichlich unterschiedlichen Nationen vor. Die Umfrage misst über 650 Variablen zur grundlegenden Demografie, Sozial- und Verhaltenseinstellungen. Einige der Items fragen spezifisch nach der Anstellungssituation und Einstellungen gegenüber der Demokratie. Das Sample wurde nach strikter Zufallswahrscheinlichkeit auf jeder Ebene ausgewählt und die Teilnehmer:innen wurden persönlich interviewt. Die Antwortrate lag bei 60,8% und führte so zu den genannten 52.458 Teilnehmer:innen. 54,6% waren Frauen, 46% waren in Arbeitsverhältnissen, das Durchschnittsalter lag bei gut 48 Jahren (Standardabweichung 18,79).

PDM, die Partizipation an Entscheidungen war die unabhängige Variable, die aus vier Indikatorvariablen zusammengesetzt war.

  • Bitte sagen Sie, wieviel sie das Management Ihres Arbeitgebers Ihnen erlaubt
    • zu entscheiden, wie Ihre tägliche Arbeit organisiert ist/war (0=Ich hatte/habe keinerlei Einfluss, 10=ich hatte/habe völlige Kontrolle)
    • politische Entscheidungen über die Aktivität Ihrer Organisation zu beeinflussen (Skalierung gleich)
    • die Arbeitsgeschwindigkeit zu wählen oder zu verändern
  • Bitte sagen Sie, wie wahr jede der folgenden Aussagen zu Ihrer Arbeit sind
    • Ich kann über Anfang und Ende meiner Arbeit selbst entscheiden (1=trifft überhaupt nicht zu, 4=trifft völlig zu)

Das Interesse an Politik diente als Mediator und bestand ebenfalls aus vier Indikatorvariablen

  • An einem durchschnittlichen Wochentag, wieviel Ihrer Fernsehzeit verbringen sie mit dem Schauen von Nachrichten oder Sendungen über Politik oder aktuelle Ereignissen
    • 0=gar nicht, 7=mehr als drei Stunden
  • An einem durchschnittlichen Wochentag, wieviel Ihrer Radiozeit verbringen sie mit dem Hören von Nachrichten oder Sendungen über Politik oder aktuelle Ereignissen
    • 0=gar nicht, 7=mehr als drei Stunden
  • An einem durchschnittlichen Wochentag, wieviel Ihrer Zeit verbringen sie mit dem Lesen von Nachrichten über Politik oder aktuelle Ereignissen
    • 0=gar nicht, 7=mehr als drei Stunden
  • Wie interessiert sind sie an Politik
    • 1=Überhaupt nicht, 4=sehr interessiert

Das pro-demokratische Gefühl war die abhängige Variable und wurde mit fünf Indikatorvariablen gemessen

  • Bitte sagen Sie mir auf einer Skala von 0-10, wie sehr Sie persönlich vertrauen in
    • das Parlament (0=überhaupt kein Vertrauen, 10=völliges Vertrauen)
    • Politiker:innen
    • politische Parteien
  • Wie sehr sind sie im Großen und Ganzen zufrieden, wie die Demokratie in ihrem Land funktioniert
    • 0=extrem unzufrieden, 10=extrem zufrieden
  • Bitte sagen Sie, in welchem Maß sie der folgenden Aussage zustimmen oder nicht
    • Politische Parteien, die die Demokratie stürzen möchten, sollten verboten werden (1=starke Ablehnung, 5=starke Zustimmung)

Gewerkschaften und “Initiative” waren zusätzlich beobachtete Variablen, um die oben kurz skizzierte mögliche Beeinflussung der untersuchten abhängigen Variable “pro-demokratisches Gefühl” zu kontrollieren. Hinsichtlich der Gewerkschaften wurde abgefragt, ob die Befragten Mitglied sind oder nicht. Mit “Initiative” war der selbstselektive Effekt mit der damit verbundenen umgekehrten Kausalität adressiert, ob sich die Befragten aktiv einen Job ausgesucht hatten, in dem sie selber die Initiative ergreifen und an Entscheidungen partizipieren können.

Ergebnisse zum Spillover-Effekt

Die Ergebnisse untermauerten deutlich die ersten drei Hypothesen: Partizipation an Entscheidungen (PDM) ist assoziiert mit politischem Interesse und einem pro-demokratischen Gefühl. H3 (politisches Interesse vermittelt die Beziehung zwischen PDM und dem pro-demokratischen Gefühl) wurde auch bestätigt. Ebenso wurde H4 unterstützt, das PDM auch dann noch positiv mit politischem Interesse und pro-demokratischen Gefühlen assoziiert ist, wenn die umgekehrte Kausalität kontrolliert wird (also das sich politisch Interessierte entsprechende Jobs mit viel Entscheidungsspielraum suchen und somit ein Spillover von der Zivilgesellschaft in die Arbeit stattfindet). Die drei Hypothesen 5a-c zur Auswirkung einer Gewerkschaftsmitgliedschaft wurden ebenfalls bestätigt. Somit erfreuen sich Gewerkschaftsmitglieder einer größerer PDM, sind mehr an Politik interessiert und weisen mehr positive Einstellungen gegenüber demokratischen Prinzipien im Allgemeinen auf.

Schlussfolgerungen

Der Zusammenhang von organisationaler Demokratie und einem weiteren pro-demokratischen Gefühl zeigt sich auch dann klar, wenn die umgekehrte Kausalität und Verzerrende Variablen kontrolliert werden. Alles in allem, so Timming und Summers, stützen die Ergebnisse ihrer extensiven Untersuchung die Spillover-These von Carol Pateman (1970) und damit in Verbindung stehende weitere Arbeiten.

Partizipation bei Entscheidungen stärkt das Interesse an Politik, die Einstellungen gegenüber den Werten der Demokratie im Allgemeinen, genauso wie das Vertrauen in politische Institutionen.

Zwar wurde auch eine größere Partizipationsreichweite abgefragt (Beeinflussung politischer Organisationsentscheidungen), aber der Großteil der Fragen (75%) hinsichtlich Partizipation beschränkten sich auf die operative Reichweite (eigene, tägliche Arbeit). Die Ebene dazwischen, taktische Entscheidungsräume wie PeeRecruiting, wurde überhaupt nicht erfasst. Und trotzdem konnte der Spillover-Effekt klar gezeigt werden. Mit einer Stichprobe, die mit Sicherheit nicht mehr hinsichtlich ihrer Größe oder einer einseitigen Nationalität kritisiert werden kann.

Grenzen der Studie

Diese Untersuchung wirft vor allem Fragen zum weiteren Verständnis des Spillover-Effekt auf, die ihrer quantitativen Methodik geschuldet sind: Wie genau haben die Studienteilnehmer:innen denn überhaupt partizipiert? Wie genau sahen die Entscheidungsprozesse aus, bei denen sie beteiligt waren? Welche Genese steckt hinter dem Stand der je aktuellen EntscheidungsKultur und dem operativen EntscheidungsDesign? Welche Entscheidungen haben sie inhaltlich mitgetroffen? All das und mehr ist erstens auf der Basis einer bereits getätigten Umfrage natürlich nicht leistbar. Zweitens ist dies bei der oder einer vergleichbaren Größe der Stichprobe auch mit dafür extra befragten Teilnehmer:innen nicht zu erreichen. Das ist die methodenimmanente Schwäche quantitativer Untersuchungen: Es mangelt an inhaltlich wichtigen Details. Insofern wären zukünftig auch qualitative Studien angemessen, um den Spillover-Effekt weiter zu untersuchen – zumal die meisten Studien der letzten gut 50 Jahre quantitativ waren.

 

Herzliche Grüße

Andreas

 

Literatur

  • Bryson, A. et al. (2014): What accounts for the union member advantage in voter turnout? Evidence from the European Union, 2002–2008. NIESR Discussion Paper No. 428
  • Hakim, C. (2002): Lifestyle preferences as determinants of women’s differentiated labor market careers. Work and Occupations 29(4): 428–459
  • Hallier, J.; Summers, J. (2011): Dilemmas and outcomes of professional identity construction among students of human resource management. Human Resource Management Journal 21(2): 204–21
  • Pateman, C. (1970): Participation and Democratic Theory. Oxford University Press
  • Radcliff, B. (2001): Organized labor and electoral participation in American national elections. Journal of Labor Research 22(2): 405–414
  • Timming, A.; Summers, J. {2018): Is workplace democracy associated with wider pro-democracy affect? A structural equation model. Economic and Industrial Democracy, 41(3): 709-726

Bildnachweis

  • Beitragsbild: ©Unseen Histories, unsplash lizenzfrei
  • Erste Seite Studie: EID
  • Website Survey: ©European Social Survey

 

Comments (1)

[…] My move from the Netherlands to Germany gave me a bit of a culture shock regarding hierarchical structures. Like in Austria, in Germany traditional hierarchical organisations are the norm. Now that I had seen something different – a way of working together that felt more natural – the hierarchical culture in Germany irritated me. Having a boss is normal, and among researchers our boss also usually listens to what we have to say. What struck me, however, was that the hierarchy didn’t just determine people’s decision power regarding the job, but also extend it to aspects outside the job. For example, at a buffet at the institute it was expected that people higher up the hierarchy would help themselves to food first, while lower ranked people would wait. Isn’t it funny how cultural aspects of the job, such as hierarchy, extend to daily life matters? This is called the Spillover-Effect. […]

Leave a comment

X