Bedürfnisse der Beschäftigten: Vor dem Hintergrund einer generellen Freiheit der Berufs- und Arbeitswahl stellt sich für Arbeitgeber eine zentrale Frage: Wie muss die Arbeit beschaffen sein, um möglichst viele potentielle neue Mitarbeitende anzuziehen und möglichst wenig Mitarbeitende zu verlieren (Krankschreibung, Dienst nach Vorschrift/innere Kündigung oder tatsächliche Kündigung)? Welche Faktoren braucht es für eine gesunde Belegschaft, die sich ihrem Arbeitgeber positiv verbunden fühlt, leistungsbereit ist und dort weiterhin arbeiten möchte? Diverse aktuelle Studien machen klar: Die Lage ist zwar komplex, aber die Schlussfolgerungen für die Umsetzung des Bedürfnisses nach Partizipation sind im Grunde einfach.
Ein erster Einblick in die Bedürfnisse
Auslöser für diesen Beitrag war ein kürzlich erschienener, kurzer Artikel zum sinkenden Wechselwillen von Arbeitnehmer:innen: “Deutsche klammern sich an ihre Jobs” (Klöckner 2024). Basierend auf einer der Autorin exklusiv vorliegenden repräsentativen Befragung durch McKinsey zeigte sich, dass aktuell nur rund 18% der Befragten – und damit aller Beschäftigten in Deutschland – darüber nachdenken, im Laufe eines Jahres den Arbeitgeber zu wechseln. Das ist eine erhebliche Reduktion, da noch in 2023 doppelt so viele “in den nächsten sechs Monaten beruflich neu starten” (a.a.O.) wollten. Die Mitarbeitendenbindung hatte sich dieser Studie zufolge erheblich verbessert. Warum?
Laut der Studie haben sich die Bedürfnisse der Angestellten erheblich verändert. 2023 waren mit 58% finanzielle Anreize das wichtigste Bedürfnis. Ein Jahr später ist das nur noch gut einem Drittel wichtig (33%). Damit ist dieser Faktor von Platz eins auf Platz fünf abgerutscht. 2024 ist den Beschäftigten nach der auf Platz eins stehenden Arbeitsplatzsicherheit die Beziehung zu Kolleg:innen, Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben sowie Flexibilität (Arbeitszeiten, mobiles Arbeiten) mit je 37% gleichermaßen wichtig. Erst dann folgen die finanziellen Anreize. Gut ein Viertel wünscht sich eine sinnvolle Arbeit (26%), eine gute Beziehung zu den Führungskräften wollen ein Fünftel (20%). Weiterbildung und Entwicklungsmöglichkeiten sowie die Reputation des Arbeitgebers landen abgeschlagen mit 15 und 12% auf den letzten Plätzen.
Weitere Studienergebnisse
Weitere aktuelle Studien kommen zu teils anderen Ergebnissen, die Lage ist weniger eindeutig, als wenn wir nur die McKinsey-Studie zu Rate ziehen.
Stepstone & Kienbaum
Eine Studie mit 8493 Befragten bietet einen hilfreichen Ansatz mit der Modellierung der Bedürfnisse entlang der Maslowschen Bedürfnispyramide, wenngleich diese von Maslow selbst gar nicht so gemeint war (Zimmermann et al. 2024). Hilfreich erscheint mir indes, die fünf Bedürfniskategorien Grundlagen, Sicherheit, Soziales, Selbstwert und Selbstverwirklichung ohne zeitliche Abfolge [1] auf die Arbeitswelt zu übertragen und diese dann in je zwei “Arbeitsplatzfaktoren” zu differenzieren. Auf diese Weise ergibt sich folgendes Modell, das trotz der bekannten Kritik an Maslow plausibel ist:
- Grundlagen
- Vergütung
- Arbeitsumgebung
- Sicherheit
- Vorsorge & Versicherung
- Arbeitsplatzsicherheit
- Soziales
- Unternehmens- und
- Teamkultur
- Wertschätzung
- Führung
- Feedback & Reputation
- Selbstverwirklichung
- Karriere & Entwicklung
- Work-Life-Balance/Integration
In der Studie zeigte sich wenig überraschend, dass die jeweilige Bedeutung dieser Bedürfnisse von verschiedenen demografiischen Merkmalen abhängig ist. Erstens das Alter: Selbstverwirklichung ist vor allem den “wechselwilligen” 20-39 Jährigen wichtig, von 40-49 stehen die Grundbedürfnisse im Vordergrund, bei den 50-59 Jährigen die Sicherheitsbedürfnisse und bei den 50 bis über 60 Jährigen die sozialen Bedürfnisse. Der einzige Unterschied bezüglich des wichtigsten Bedürfnisses bei den nicht wechselwilligen Beschäftigten sind die ebenfalls bestehenden Sicherheitsbedürfnisse in der ältesten Gruppe der 50 bis über 60 Jährigen. Weitere Unterscheidungsmerkmale in Hinblick auf das Ranking der Bedürfnisse sind Berufsgruppen und Geschlecht.
Die Studie bietet darüber hinaus noch interessante Differenzierungen an, so zum Beispiel bei dem Grundbedürfnis Vergütung. Dieser Faktor “sollte zunehmend mehrdimensional verstanden werden” (a.a.O.: 17). Denn die Vergütung kann grundsätzlich auf verschiedenen Modellen basieren, die wiederum unterschiedliche Elemente wie individuelle oder gemeinsame leistungsabhängige Anteile, selbstbestimmtes Gehalt etc. umfassen. So zeigte sich, dass das Festgehalt für diejenigen Beschäftigten wichtig ist, die beim Arbeitgeber bleiben wollen, während sich die Wechselwilligen für ergänzende oder alternative Modelle und Elemente interessieren.
Institut der deutschen Wirtschaft
Die Beschäftigtenbefragung 2024 des Instituts der deutschen Wirtschaft (Bach & Hammermann 2024) ergab bei einer repräsentativen Stichprobe von 5060 Befragten, dass insgesamt 95,7% (!) der Arbeitnehmenden die Beschäftigungssicherheit am wichtigsten ist (wichtig: 77,6% und eher wichtig: 18,1%). Platz zwei und drei belegen das eigene Wissen und Können einbringen (53,3% / 38,6%) und kurze Pendelzeiten (56,4% / 33,3%). Große Entscheidungsspielräume sind zwar nur für 28,3% wichtig aber für 48,5% eher wichtig. Partizipation und Selbstorganisation spielen also für insgesamt gut drei Viertel der Beschäftigten eine (eher) wichtige Rolle (76,8%). Die betriebliche Altersvorsorge als Teil des Sicherheitsbedürfnisses nach Stepstone/Kienbaum landet mit insgesamt 75,1% auf Platz vier (38,1% / 37%), gefolgt von der Tarifbindung (41% / 29,6%) ), leistungsabhängigen Vergütungen (31,5% / 33,2%) und dem Beitrag zur ökologischen Nachhaltigkeit (20,1% / 36,9%). Das Bedürfnis nach “Selbstverwirklichung” über Karrieremöglichkeiten ist das Schlusslicht (21,7% / 33,7%). Wenn man jeweils beide Antwortmöglichkeiten “wichtig” und “eher wichtig” zusammenfasst, zeigt insgesamt folgendes Bild:
AOK Fehlzeiten Report
Der diesjährige Fehlzeiten Report der AOK ergänzt das Bild, basierend auf einer Befragung von 2501 Erwerbstätigen, durch Daten zur Wechselbereitschaft: Nur “6,4 Prozent der Befragten [gaben] an, weniger als zwölf Monate bei ihrem aktuellen Arbeitgeber bleiben zu wollen. 8,4 Prozent wollen nach eigenen Angaben länger als fünf Jahre bei ihrem jetzigen Arbeitgeber bleiben, 5,1 Prozent länger als zehn Jahre. Der mit Abstand größte Teil der Befragten (57,3 Prozent) antwortete, bis zur Rente bleiben zu wollen.” (Website) Das ist angesichts der aktuellen Lage einer multiplen Krise (in sich multiple Ökokrise, Corona, Ukrainekrieg, Energiekrise, kurzzeitige moderate Inflationskrise, Krieg im nahen Osten, weltweiter Demokratierückgang… ) nur allzu verständlich. Sicherheit ist diesem Zusammenhang vermutlich ein allgemein größeres Bedürfnis als Selbstverwirklichung.
Für Arbeitgeber bedenklich sollte jedoch die erhebliche Zunahme an psychischen Erkrankungen sein: Seit 2014 stiegen die Arbeitsunfähigkeitstage um 47%. “Bei Krankschreibungen wegen Burnout-Erkrankungen war zudem ein Anstieg von 100 AU-Tagen je 100 erwerbstätige AOK-Mitglieder im Jahr 2014 auf knapp 184 Tage im Jahr 2024 festzustellen” (a.a.O.). Die Ursachen liegen dabei vermutlich ebenso außerhalb des Arbeitgebers (Dauerstress durch Multikrise, private Probleme) wie innerhalb durch mögliche Verdichtung und Entgrenzung von Arbeit und eine nur unzureichenden Beachtung der hier diskutierten Bedürfnisse der Beschäftigten. Der Fehlzeitenreport zeigt nachvollziebar, dass “dass emotional stärker an den … Arbeitgeber gebundene Mitarbeitende seltener krankgeschrieben sind …” (a.a.O.) Hinzu kommt der teilweise vorhandene Rückschritt zu einer stark leistungsorientierten und kontrollierenden Personalführung, indem zum Beispiel wieder individuell gemessenes Performance-Management und Leistungsbeurteilungen eingeführt werden, die zuvor abgeschafft waren.
Schlussfolgerungen
Allgemein
Ausgehend von der Stepstone-Studie könnten im ersten Schritt die fünf Bedürfniskategorien Grundlagen, Sicherheit, Soziales, Wertschätzung und Selbstverwirklichung und deren jeweilige zwei Arbeitsplatzfaktoren (s.o.) in der eigenen Organisation als generelles Raster genutzt werden, um die Arbeitszufriedenheit der Belegschaft zu sichern. Damit könnte die Mitarbeitendenbindung gestärkt werden, ebenso wie die Arbeitgebermarke, um so neue Mitarbeitende besser zu gewinnen und schließlich die Krankenfehlzeiten zu reduzieren. Die zahlreichen konkreten Elemente der Arbeitsplatzfaktoren wie Festgehalt oder Benefits (Grundbedürfnisse/Vergütung), betriebliche Gesundheitsförderung oder Versicherungen (Sicherheit/Vorsorge und Versicherung) und Fairness/Gleichberechtigung oder flache Hierarchien (Soziales/Unternehmenskultur) können dabei als Bausteine für einen attraktiven Arbeitgeber interpretiert werden.
Hinzu kommt, die verschiedenen Bedürfnisse entlang der verschiedenen Dimensionen wie Alter, Geschlecht, Berufsgruppe etc. in den Blick zu nehmen und daraus entsprechende Angebot an die Arbeitnehmer:innen abzuleiten, die sie entsprechend ihrer verschiedenen Bedürfnisse nutzen können. Wenn Arbeitnehmende der Altersstufe 20-39 tendenziell mehr Wert auf Selbstverwirklichung legen, sollte der Arbeitgeber in der Lage sein, das entsprechend anzubieten, so wie vielleicht für die Altersstufe der über 60 Jährigen eher soziale Bedürfnisse und deren konkrete Umsetzung im Vordergrund stehen.
Partizipation und demokratische Teilhabe
Demokratisierung von Arbeit führt keineswegs automatisch zu mehr Arbeitszufriedenheit, höherer Motivation und Arbeitsleistung, besserer Gesundheit und schließlich höherer Mitarbeitendenbindung. Dazu sind die Zusammenhänge der einzelnen Faktoren zu komplex. So ist es nicht verwunderlich, dass eine Transformation hin zu mehr Partizipation erheblichen Stress und Unzufriedenheit auslösen kann. Eine Ursache dafür kann im Einzelfall die gänzlich andere Bedürfnislage der Mitarbeitenden sein.
Interessant ist aber, dass Partizipation und demokratische Teilhabe unter verschiedenen Begriffen in den Studien als wichtiges Bedürfnis auftaucht: “Selbstbestimmte Arbeitsgestaltung, Führung von unten, Empowerment, flache Hierarchien” (Stepstone/Kienbaum), “große Entscheidungsspielräume” (IW) sowie “Entscheidungsprozesse und Mitbestimmung” (AOK). Ausgehend von verschiedenen Modellen zu menschlichen Bedürfnissen ist das nicht verwunderlich. Bei Klaus Grawe suchen Menschen unter anderem Orientierung und Kontrolle – dazu passt das Konstrukt der Job-Demand-Control, die Möglichkeit, der eigenen Arbeit gegenüber nicht hilflos ausgeliefert zu sein, sondern sie mitgestalten zu können. Bei der Zwei-Faktoren-Theorie von Herzberg braucht es für die Motivation eine passende Möglichkeit der Verantwortung, beim SCARF-Modell von David Rock suchen wir nach Autonomie. Kurzum: Mein grundlegendes und lange erfolgreich eingesetztes Prinzip zur Demokratisierung der Arbeit macht auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Bedürfnisse der Mitarbeitenden Sinn:
Alle die wollen, dürfen mitgestalten, niemand muss und alle tragen die Konsequenzen
Wenn Du Deine Organisation partizipativer gestalten willst, ohne dabei die anderen Bedürfnisse Deiner Belegschaft aus den Augen zu verlieren, dann schreib uns.
Fußnoten
[1] Ich meine hier die Behauptung der Bedürfnispyramide, dass die jeweils “höheren” Bedürfnisse die Erfüllung der darunterliegenden voraussetzt. Also das Selbstverwirklichung als höchstes Bedürfnis die Erfüllung aller darunter liegenden Bedürfnisse benötigt. Dies ist ganz offensichtlich nicht haltbar, sonst würden – um es dramatisch zu pointieren – Menschen nicht freiwillig in den Tod gehen, um ihren Werten treu zu bleiben. Ganz abgesehen von anderen zahlreichen kritischen Aspekten.
Literatur
-
Bach, H.; Hammermann, A. (2024): Was macht Arbeitgeber attraktiv? Institut der Deutschen Wirtschaft.
- Badura, B.; Ducki, A.; Baumgardt, J. et al. (2024): Fehlzeiten-Report 2024. Bindung und Gesundheit – Fachkräfte gewinnen und halten. Springer
- Klöckner, L. (2024): Deutsche klammern sich an ihre Jobs. Spiegel-Online
- Zimmermann, T.; Jochmann, W.; Gritzka, S. et al. (2024): Attracting Talent 2024. Was Arbeitskräfte heute wirklich wollen. Studienbericht. Attracting Talent. Stepstone Group, Kienbaum, 2024
Bildnachweis
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- Stepstone-Studie: ©Stepstone & Kienbaum
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