Heute gibt’s bei den Unternehmensdemokraten mal ein originär demokratisches Thema, das zur Abwechslung nichts bis wenig mit Unternehmen zu tun hat. Ilan Siebert, ein junger Berliner Kollege, hat mit einigen Gleichgesinnten einen Verein gegründet, um Bürger*innenräte in Deutschland salonfähig zu machen. In diesem Beitrag geben wir Ilan und seiner Kollegin Käthe … den Raum, um ihr innovatives und spannendes Projekt außerhalb ihrer eigenen Filterblase vorzustellen.
Andreas: Ilan, warum habt Ihr “Es geht LOS” gegründet und worum geht es?
Ilan: Wir haben unseren Verein Demokratie Innovation gegründet, weil wir der Überzeugung sind, dass Demokratie besser geht. Mit Es geht LOS ist es unser Ziel geloste Bürger*räte auf Bundesebene zu institutionalisieren. Wir stellen fest, dass viele Menschen sich eine ergänzende Position aus der Bevölkerung zu konkreten politischen Fragen wünschen. Hierfür braucht es einen Ort, ein Forum wo Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung zusammenkommen, sich informieren, diskutieren und gemeinsam eine Empfehlung aussprechen. Eine Form der politischen Beteiligung, die neben Familie, Beruf und Hobbys darstellbar ist. Das Engagement in Parteien und Parlamenten erfordert oftmals ja schon einen Vollzeiteinsatz.
Andreas: Käthe – ist die Problematik des hohen Aufwands für die Arbeit in Parteien und Parlamenten der einzige Grund, warum Ihr einen anderen Weg einschlagt, als die 27. Partei zu gründen?
Käthe: Nein, es gibt noch mehr Gründe. Durch das Auslosen der Teilnehmenden schaffen wir es, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, die vielleicht sonst nicht miteinander reden. Wir befinden uns immer mehr in Filterblasen, die durch die sozialen Medien noch verstärkt werden. Das kann im Privatleben schön sein, für die gemeinsame Gestaltung unserer Gesellschaft und Politik ist es jedoch gefährlich. Im Bürger*rat haben die Teilnehmenden die Möglichkeit und die Zeit sich auszutauschen, Kontakt aufzunehmen und unterschiedliche Lebensrealitäten kennenzulernen. So wird deutlich, wie viele verschiedene Sichtweisen es auf ein einziges Thema geben kann. Ein Bürger*rat schließt also nicht nur eine Lücke zwischen Politiker*innen und Bürger*innen, sondern baut auch Brücken zwischen Bürger*innen.
Andreas: Das ist gerade heute in der Zeit von ausufernden Filterblasen und Fake News ein wichtiger Punkt! Mir fällt dazu noch ein, dem digitalen Tribalismus entgegenzuwirken. Michael Seemann und Michael Kreil vom Tagesspiegel hatten am 29.09.2017 einen ausführlichen Artikel über dieses Phänomen veröffentlicht. Es geht häufig viel mehr um das Gefühl von Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Menschen, als darum, sich davon losgelöst vernünftig mit Problemen und Herausforderungen zu befassen. Durch die Option der Bürger*räte könnte es langfristig gelingen, zumindest ein Gegengewicht, ein gewisses Korrektiv zu erzeugen. Außerdem schafft das Losverfahren, wie David van Reybrouck zeigte, mehr Beteiligung und Verantwortungsübernahme bei Bürger*n, als das Wahlverfahren.
Allerdings werden sicherlich viele Leute auch Probleme darin sehen, wenn die Teilnehmer*innen von Bürger*innenräten ausgelost werden – sie müssten dem Verfahren ja zustimmen. Wie wollt Ihr die Teilnahme bzw. die mögliche Ablehnung regeln? Und wie wird ein Ausgleich geschaffen für die Zeit, in der ich in einem Bürger*rat sitze und nicht arbeiten oder mich um meine Kinder kümmern kann?
Käthe: Da sprichst du viele relevante Punkte an. Das Losverfahren selbst gibt es interessanterweise bereits seit der Erfindung der Demokratie im antiken Griechenland. Wir sehen das in Deutschland bei den Schöffen, in den USA noch bekannter bei den Juries. Ein Bürger*rat unterscheidet sich hiervon natürlich durch den Input von Expert*en und die Begleitung durch Moderation.
Eines der wesentlichen Probleme von Politik scheint derzeit zu sein, dass viele Menschen das Gefühl haben, es werde über ihre Köpfe hinweg entschieden. Auch ich kann mich diesem Eindruck manchmal kaum verwehren, weil es viele Entscheidungen gibt, die ich nicht nachvollziehen kann. Um Vertrauen in die Politik zu erzeugen, hilft es, wenn ich Gesellschaft tatsächlich erlebe, also in Austausch mit meinen Mitbürger*n trete. Nur so kann ich verstehen lernen, dass meine Sichtweise auf ein Thema nicht die einzige ist – und dass andere Sichtweisen meistens genauso berechtigt sind wie meine. Dies stärkt nicht nur das Identitätsgefühl mit der Gesellschaft, sondern bietet mir als Nicht-Vollzeitpolitiker*in auch die Möglichkeit, Politik und politische Entscheidungsfindung besser zu verstehen. In einem Bürger*innenrat geschieht genau das: Ich bekomme die Zeit und Wissen, um mich mit einer Frage wirklich informiert auseinanderzusetzen. Expert*innenvorträge und moderierte Diskussionen helfen dabei, dass eine nachhaltige, gemeinschaftliche erarbeitete Empfehlung das Ergebnis des Prozesses ist.
Die meisten Bürger*innen stutzen trotzdem erstmal nicht schlecht, wenn man das Losprinzip als feste Größe unseres politischen Systems etablieren möchte. Dabei kommen verschiedene Fragen auf uns zu: Wieso sollten wir 100 ausgelosten Bürger*innen vertrauen? Komm ich dann selbst überhaupt mal dran? Sind fünf Wochenenden nicht zu viel bzw. zu wenig?
Ich glaube, es ist eine Frage der Übung und Praxis, Vertrauen in einen solchen Prozess zu entwickeln. Entscheidend ist es, dass wir es möglich machen, parlamentarische Debatten um eine unabhängige, informierte Empfehlung aus der Gesellschaft zu ergänzen. Und um auf deine Frage zurückzukommen: Natürlich erfolgt die Teilnahme am Bürger*innenrat freiwillig, mit Ablehnungen müssen wir rechnen. Dennoch wollen wir es Menschen so leicht wie möglich machen, teilzunehmen: Selbstverständlich erstatten wir für alle Teilnehmenden die Fahrtkosten, sorgen für Übernachtung und Verpflegung. Zusätzlich wird eine Aufwandsentschädigung gezahlt und vor Ort Kinderbetreuung gewährleistet.
Andreas: Ich bin da sicher nicht repräsentativ, aber ich hätte da richtig Lust, mal mitzumachen. Alleine die Erfahrung, mit vollkommen fremden Mitbürger*innen so einen Prozess zu durchlaufen, fände ich ungemein spannend und bereichernd. Und ich hätte endlich das Gefühl, demokratisch wirksam zu werden. Meistens ist und bleibt die demokratische Teilhabe ja auf Wahlen beschränkt, sofern ich nicht selber kandidiere oder bei sonstigen demokratischen Prozessen mitwirke. Was mich und sicher auch unsere Leser*innen nun noch interessiert: Wie können wir uns den Ablauf eines solchen Bürger*innenrats vorstellen? Also ganz konkret: wie sieht das Design aus, welche Methoden kommen zum Einsatz, wer moderiert, wie werden die Moderator*innen und auch die Expert*innen ausgesucht? Gerade Letztere werden ja mit ihrem Input einen großen Einfluss auf die Ergebnisse haben. Insofern würde ich persönlich dort mit die größten Herausforderungen sehen – da kann ja schon vorab eine Beeinflussung stattfinden.
Ilan: Tatsächlich – viele Menschen würden gerne an so einem Format teilnehmen. Daher streben wir ja auch an, dass dieses Format auf allen Ebenen institutionalisiert wird, dann hat jeder Mal die Chance. Stell dir vor, in 10 Jahren wirst du gefragt: “Und, wie oft wurdest du schon ausgelost? Wie oft hattest du Chance bei einem Bürger*rat teilzunehmen?” Und die Antwort könnte lauten: “Schon mehrfach, zweimal kommunal und einmal auf Landesebene. Mein Großonkel und meine beste Freundin waren sogar schon mal auf Bundesebene dabei.”
Die konkrete Gestaltung eines solchen Prozesses ist auf viele Weisen denkbar. Wir können mit es geht LOS natürlich erstmal nur eine Variante verfolgen. Das fängt bei der Auswahl des Themas an: Für den ersten Bürger*rat haben wir Interviews mit Bundestagsabgeordneten, Personen des öffentlichen Lebens, Wissenschaftler*n und Menschen aus allen möglichen Lebensbereichen geführt. Diesen Input werden wir in einem Workshop Ende diesen Jahres in einer Gruppe von ca. 12 Menschen filtern und uns für ein Thema entscheiden. Unser wissenschaftlicher Beirat berät uns sowohl bei Los-Prozess, als auch Expert*en- und Moderator*innenauswahl. Hierbei achten wir darauf, dass Meinungen und Expert*en aus den verschiedenen Richtungen berücksichtigt werden. Außerdem können wir glücklicherweise auf die Erfahrungen aus Irland und Österreich zurückgreifen. Eine Moderationsmethode, die sich bisher bewährt hat, ist Dynamic Facilitation, aber auch systemisches Konsensieren und verschiedene Kreativ-Methoden sind denkbar. Beeinflussungsmöglichkeiten gibt es allerdings in jedem Format – auch in den Expert*innenanhörungen im Bundestag. Besonders wichtig ist daher, dass wir den Prozess transparent gestalten. Sicher ist: Diese Fragen müssen im Zuge einer Institutionalisierung nochmal besprochen werden – wir liefern nur ein Beispiel. Ich selbst wäre ein großer Fan davon, wenn wir solche Fragen ebenfalls durch einen Bürger*rat beantworten.
Andreas: Liebe Käthe, lieber Ilan – vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche Euch und uns allen, dass Euer Projekt der Anfang einer großen Geschichte wird!
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Ilan Siebert, 28, ist Cofounder von Demokratie Innovation, selbstständiger Organisations- und Innovationsberater und leidenschaftlicher Denker und Macher. Er hilft Menschen und Unternehmen Ideen in die Welt zu bringen und begeistert sich für Menschen, die ihr Ding machen. Wie eine Gesellschaft und Organisationen aussehen in der alle das tun, ist die Frage Nummer Eins für ihn. Deswegen hat er den Verein für Demokratie-Innovation initiiert und studiert begleitend Zukunftsforschung.
Käthe Liesenberg, 25, ist Cofounder von Demokratie Innovation und mehr als wählen, Politikwissenschaftlerin. Sie treibt die Frage an, wie alle in unserer Gesellschaft zu Verantwortungsträger*innen werden können und wollen. Inspiration sammelt sie bei Menschen, auf Reisen und in Büchern. Käthe studiert im Master Politische Theorie und ist Gründerin des Partnerprojekts mehr als wählen in Frankfurt am Main.
Herzliche Grüße
Andreas
Bildnachweis
- Beitragsbild: Photo by Edwin Andrade on Unsplash
- Käthe & Ilan Siebert: cc Raphael Janzer