FIRE – Eine Bewegung zeigt die Bedeutung selbstbestimmter Arbeit

FIRE: Ruhestand mit Mitte 30? Und zwar ohne der verwöhnte Sohn oder die verhätschelte Tochter eines Millionärs zu sein – geht das? Ja, angeblich jedenfalls, wie die wachsende F.I.R.E. Bewegung zeigt: Financial Independence, Retire Early. In den letzten Jahren Jahren nimmt die Anzahl an Blogs, Zeitungsartikeln, Bücher, Vorträgen, Videos etc. zu, in denen erfolgreiche FIRE Protagonisten und ihre (Spar)Strategien präsentiert werden. Einer der aktuellen Auslöser dieser Bewegung ist sinnentkoppelte, entfremdete und fremdbestimmte Arbeit. Deshalb lohnt ein Blick auf diese Subkultur des Arbeitslebens.

FIRE – Sparen bis der Notarzt kommt

Vorbilder gibt es mittlerweile genug, die meisten stammen aus den USA. Zahlreiche Männer, Frauen und Paare haben gezeigt und vorgelebt, wie es funktionieren kann. Hier nur ein Beispiel: Die Anwältin Sylvia Hall, wohnhaft in Seattle, will 2020 mit 40 Jahren in den Ruhestand gehen. Um das zu realisieren, errechnete sie das dazu nötige Kapital und kam auf rund Zwei Millionen US Dollar. Um das zu erreichen spart sie 70% ihres Einkommens – eine erstaunliche Leistung, die nur über eine extreme Sparsamkeit möglich ist. Das sie kein Auto hat – klar. Ist in einer Stadt auch nicht unbedingt eine besondere Sparsamkeitsleistung. Dass sie allerdings für ihren Netflix Genuss das Passwort von Freunden benutzt ist schon fraglicher, denn die finanzieren sie also mit, obwohl sie genug Geld verdient. Aber das Bisherige ist eher etwas für Anfänger. Hall treibt es noch viel weiter. Sie sammelt Obst aus den Mülleimern von Supermärkten.

Ein anderer FIRE Vertreter, der nur über das Pseudonym Kevin im Online Magazin Hustle beschrieben wird, bezieht als Programmierer ein jährliches Gehalt von 165.000 US Dollar. Er lebt in einer Wohngemeinschaft mit vier weiteren Mitbewohnern für monatlich 800 $, kommt mit 160$ monatlich für Lebensmittel aus, 80 zum Ausgehen und nochmals 40 für Drogerieartikel und Sonstiges. Das wars. Auf diese Weise kommt Kevin auf eine Sparquote von 85%. Das Kalifornische Paar Scott und Taylor Rieckens bringen die Motivation vieler FIRE Vertreter gut auf den Punkt, wie man im Artikel Ruhestand mit Ende 30 nachlesen kann:

“Die ganze Vorruhestandssache ist für mich unwichtig. Es geht mehr darum, die Kontrolle über meine Zeit zu gewinnen … Es ist diese Zwangsarbeit, womit man aufhört. Es geht nicht unbedingt um Piña coladas am Strand.”

FIRE – Der Ursprung: Ökologie statt Selbstbestimmung

Buchcover Mehr Geld für mehr Leben von Vicki Robin, eine der Gründerinnen der FIRE BewegungEigentlich ging es mit einer drastischen Sparquote ursprünglich um etwas ganz anderes. Die Aktivistin und Sozialinnovatorin Vicki Robin ist mit ihrem 1992 erschienenen Buch “Mehr Geld für mehr Leben” einer der Gründerinnen der FIRE Bewegung und stellt die ursprüngliche Intention klar: “Unser Ziel war es nicht, dass viele Menschen ihren Job aufgeben. Unser Ziel war es, den Verbrauch zu senken, den Planeten zu schonen. Wir haben einfach lebende Menschen, religiöse Menschen und Umweltschützer angeleitet.” Die heutigen Vertreter*innen seien indes völlig anders mit einer größtenteils anderen Motivation. Sie seien “sehr zahlenorientiert, fasziniert von Details der Steuer und der Buchhaltung.” Und eben ausreichend stark genervt von fremdbestimmter Arbeit, wie das obige Zitat der Rieckens belegt.

Damit hat sich die ursprüngliche Motivation ziemlich geändert. Von einer Gemeinwohlorientierung hin zu einer Orientierung individueller finanzieller Unabhängigkeit. Das widerspricht meines Erachtens übrigens auch ziemlich deutlich den immer wieder kolportierten Märchenstunden von der Generation Y, die ach so interessiert sei am Gemeinwohl. Das gut verdienende Menschen einen äußerst sparsamen ökologischen Fußabdruck hinterlassen, ist somit ein schöner Kollateralnutzen, der aber nicht im Zentrum der Absicht steht, auch wenn er zum Wohle der Gemeinschaft aller ist.

FIRE – Ein Lebensstil der Privilegierten

Was würdest Du von jemandem denken, der weggeschmissene Lebensmittel aus Mülleimern vor Supermärkten fischt? Oder die mit rund fünf Euro pro Tag für Lebensmittel auskommt – und zwar 365 Tage lang pro Jahr? Vermutlich alles mögliche, nur nicht, dass Du jemanden aus der Gruppe der Spitzenverdiener vor Dir hast mit deutlich über 100.000 Euro Jahresnettoeinkommen. Ein großer Teil der FIRE Vertreter*innen sind (sehr) gut ausgebildete Wissensarbeiter*innen, die zwar nicht groß geerbt haben, aber eben eine zeitgemäß gute Ausbildung in Anspruch nehmen konnten. Und damit das zentrale Fundament für ihren ultrasparsamen Lebensstil gelegt haben. Die Altenpflegerin und der Müllwerker von nebenan haben keine reale Chance auf einen entsprechenden frühzeitigen Ruhestand, beziehungsweise die dafür grundlegende finanzielle Unabhängigkeit.

Und noch eine Kleinigkeit ist eine nötige Vorbedingung: Das gesparte Geld im Sinne einer erfolgreichen Gewinnmaximierung optimal anzulegen. Mit einer albern gutbürgerlichen Festverzinsung ist da nichts zu reißen. Es braucht schon ein Invest in den Aktienmarkt. Und der hat sich in der letzten Dekade deutlich besser entwickelt als die Einkommen. Und ist zum Ausgleich steuerlich auch noch vorteilhafter. Das heißt also: Wer frühzeitig eine ausreichende Kapitaldecke erwirtschaftet haben will, muss sich entweder selber schlau machen, oder einen Vermögensverwalter engagieren. Letzteres würde allerdings wiederum deutlich gegen das Sparcredo verstoßen.

FIRE – lieber sinnfrei Malochen und Sparen statt selbstbestimmter Arbeit

Die ganze Bewegung ist mir hochgradig suspekt. Ein erklecklicher Teil der Sparfüchse und selbsterklärten Dagobert Ducks ist ganz offensichtlich von der fremdbestimmten Arbeit derart genervt, dass sie all die Sparerei und den Verzicht über Jahre auf sich nehmen, um dem  maximal schnell und dauerhaft zu entrinnen. Man und Frau muss schon über ein gewisses Maß an Masochismus verfügen, um mindestens eine Dekade einen nicht unaufwändigen Job zu machen, auf den man eigentlich gar keine Lust hat, nur um in der Freizeit den größten Teil des sauer verdienten Geldes in einem weiteren Aufwand durch geschickte Investitionen zu vermehren. Das Leben der FIRE Anhänger spielt sich lange Jahre in der Zukunft ab.

FIRE ist die kapitalistische Variante der christlichen Erlösung im Jenseits.

Obwohl die Arbeit im Hier und Jetzt als Begrenzung des eigenen Lebens wahrgenommen wird und die FIRE Jünger sich unfrei fühlen; obwohl ihnen oftmals der Sinn in ihrer Arbeit fehlt; obwohl sie sich eigentlich nach einer völlig anderen beruflichen Tätigkeit sehnen, denn am Ende, wenn sie die Kohle endlich endlich beisammen haben und sich “zur Ruhe” setzen könnten – arbeiten sie doch wieder. Wozu dieser ganze Umweg, rund zwei Dekaden oder mehr mit sinnentleerter Rödelei unwiederbringlich zu vergeuden, wenn es doch gerade für diese überaus gut ausgebildeten Berufstätigen reichlich Alternativen gäbe? Das Gute an dem FIRE Phänomen im Sinne der Transformation der Arbeit: Es scheinen zunehmend mehr Menschen mit fremdbestimmter Arbeit unzufrieden zu sein.

 

Herzliche Grüße
Andreas

 

Literatur

Bildnachweis

  • Beitragsbild: Pixabay, gemeinfrei
  • Cover: gemeinfrei

Comments (2)

Lieber Andreas, liebe Mitleser* und -denker*innen,
vielen Dank Dir, Andreas, für Deinen inspirierenden Denkanstoß. Gerade diese Woche habe ich als jemand, der beruflich gerne Vollgas gibt, die FIRE-Bewegung erwähnt. Was mir nicht dabei bewusst war:
– massive Einschränkungen während der “Ansparzeit”
– teilweise illegale Verhaltensweisen um trotz totaler Einschränkung einen gewissen Konsum/Lebensstandard zu haben
– die Nicht-Beschäftigung mit dem Sinn der Arbeit/Hauptsache, der Rubel rollt
Wie Du so schön schreibst: “FIRE ist eine kapitalistische Variante der christlichen Erlösung im Jenseits.”
Ich halte nichts von Verzicht zugunsten eines späteren Lebens. Verzicht bzw. vielmehr bewusster Konsum – unbedingt! Ich halte auch nichts von Augen zu und durch/Absitzen von sinnloser Zeit – jede Minute ist schließlich Lebenszeit.
Dennoch habe ich mich gefragt: Was können wir von dieser Bewegung lernen?
Meine Gedanken hierzu möchte ich gerne kurz teilen:
– wie Du schon selbst schreibst: “Es scheinen zunehmend mehr Menschen mit fremdbestimmter Arbeit unzufrieden zu sein.” – hier darf jede*r bei sich anfangen und Arbeit sinnvoller gestalten und den Sinn einfordern. Natürlich sind hier auch Politik, Arbeitgeber etc. gefordert – ich glaube trotzdem daran, dass auch oder gerade Graswurzel-Bewegungen sehr wertvolle Beiträge leisten können (wie z. B. hier https://firmenfunk.com/ff032-graswurzelbewegung/).
– der Gedanke viel Geld zu verdienen um dadurch weniger arbeiten zu können (ohne nennenswerte Auswirkungen auf den Lebensstandard) fasziniert mich – schauen wir mal wie mir die Umsetzung gelingt 😉 Ich sehe diesen allerdings eher als ein “ich verdiene genug, dass mir auch 3 Tage pro Woche Arbeit – hochproduktiv und super sinnvoll – zum Leben auf gutem Niveau reichen”.
– immer wieder zu überlegen, was ich wirklich zum Leben brauche/nicht den aktuellen Lebensstandard für alle Zeit festzuschreiben ist sicherlich sinnvoll – brauche ich wirklich den Luxusurlaub/die Markenklamotten etc.?
– wie sähe die FIRE-Bewegung aus, wenn es ein Bedingungslosen Grundeinkommen geben würde?
– was machen die FIRE-Menschen, wenn Sie ihr Ansparziel erreicht haben/wie leben Sie dann und wie könnten Sie dieses Ziel bereits davor erreichen?
Soweit von mir, ich freue mich auf den Austausch!
Herzliche Grüße
Christoph

Teilzeitarbeit. Weniger ist mehr - Dr. Andreas Zeuch | priomy

[…] November 2018 veröffentlichte ich einen einerseits kritischen und andererseits neugierigen Bericht über die FIRE Bewegung – Financial Independence, Retire Early. Den Anhänger*innen dieser Bewegung geht es darum, […]

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