Wenn ich mich nicht irre, habe ich Harald Schirmer, Manager Digital Transformation und Change bei der Continental AG, während der NextAct 2016 in Köln kennengelernt. Wir saßen dort gemeinsam in einem der obligatorischen Workshops zur Zukunft der Arbeit. Dort und auf diversen Podien und dergleichen mehr ist er mir als ebenso kompetenter wie sympathischer Mitstreiter für eine bessere Arbeitswelt immer wieder begegnet. Nun endlich ist es soweit, dass wir uns über seine Arbeit und ihn selbst unterhalten. Dies ist der erste Teil, der zweite folgt am Donnerstag.
Andreas: Lieber Harald, erst einmal ganz herzlichen Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast für diesen Austausch. Auch wenn Dich sicherlich schon viele unserer Leser*innen kennen, so doch wohl noch nicht alle. Somit meine Einstiegsfrage an Dich und Deine berufliche Person: Wer bist Du, woher kommst Du und wohin gehst Du?
Harald: Vielen Dank lieber Andreas für Deine Einladung! Sehr gerne möchte ich auf Deine Frage “Wer bin ich” einmal etwas anders antworten – das Übliche kann ja jeder Interessierte auf meinem Blog www.harald-schirmer.de unter aboutme oder auf meinem LinkedIn Profil nachlesen. Ich bin im Kern jemand, der nie aufgehört hat, zu träumen, von einer besseren Welt, von Menschen, die gemeinsam unsere Zukunft gestalten, die sich wertschätzend auf Augenhöhe begegnen, sich inspirieren und mehr oder weniger mutig ihre “Gaben” entwickeln und einsetzen. Ich bin auch jemand, der davon überzeugt ist, dass jeder Einzelne von uns die (seine) Welt verändern kann, in dem wir uns selbst verändern, den gewünschten Zukunftszustand ausprobieren und damit auch für unser Umfeld erlebbar machen. Andere werden darauf “re”agieren. Ich habe das große Glück, das im Rahmen meiner Arbeit bei Continental immer wieder skalierbar umzusetzen zu dürfen.
Andreas: Sehr schön, Harald – genau das finde ich spannend, nicht den formalen Kram, sondern das, was Dich wirklich bewegt – eine schöne Steilvorlage: Inwiefern setzt Du das bei Conti um? Und dazu noch die Frage: Inwiefern hat sich denn Conti in den letzten rund 10 Jahren diesbezüglich verändert. Ich selbst hatte ungefähr 2004-2006 für Euch gearbeitet und finde die Entwicklung gerade spannend.
Harald: Ich setze das im wahrsten Sinne des Wortes um: Durch Vorleben unsere Continental Kernwerte in allem was ich tue – in Kombination mit den heutigen technischen, digitalen Möglichkeiten und unserer HR Strategie “most progressive, most attractive”. Ein paar aktuelle Beispiele aus meinem letzten Projekt, dass es nicht nur nach Buzzword-Bingo klingt:
- aus einer üblichen Betriebsvereinbarung haben wir im letzten Projekt ein Manifest (eine Vertrauensvereinbarung) gemacht
- aus dem üblichen OneSizeFitsAll Webtraining haben wir aus Respekt vor den individuellen Bedürfnissen unserer 150k Mitarbeiter am Bildschirmarbeitsplatz über 20 individuelle (skalierende) Lernformate gemacht (inklusive 1500 GUIDEs, SmartBot, interaktiver Seitenleiste, SocialSupport…)
- Lernaufgaben sind nicht mehr “nur Übung” sondern sinnvolle Aufgaben, die sofort brauchbare Ergebnisse erzeugen, die gemeinsam erarbeitet, geteilt und mit einer Dosis “Freedom To Act” persönliche Kreativität fördern
- Bekannte Change Management Werkzeuge wie die Stakeholder Analyse haben wir so umgebaut, dass diese jetzt transparent und beteiligend – skalierbar – durchgeführt werden können
- Typische “Push” Kommunikation wurde extrem reduziert und individualisiert – das Meiste ist durch transparente Communities jederzeit verfügbar, aktualisierbar und mit “Social Features” bewertbar. Das reduziert “Spam” und erhöht die Relevanz der Inhalte
- Projektarbeit findet zum größten Teil im Enterprise Social Network transparent und beteiligend statt (im letzten Projekt über 25.000 Mitglieder) – was Widerstände von Anfang an, besonders aber in der Umsetzung dramatisch reduziert
- Lernen, Kommunikation, Change und Support werden ganzheitlich “zusammen-gedacht” – jede Aktion muss alle Aspekte erfüllen – Ergebnis sind zum Beispiel Neugier-Kampagnen, die zum Mitmachen einladen und währenddessen informieren, aktivieren und teils spielerisch Ergebnisse produzieren
Aber auch im täglichen Arbeiten beantworte ich seltenst eine (eMail) Frage 2 Mal – die Antwort wird in meinem Blog (oder Chat/Forum/Wiki) gegeben und nur mit Links geantwortet (skalierbares Lernen). Gespräche finden, wenn ich nicht vor Ort sein kann, fast ausschließlich per Video statt (bin seit vielen Jahren im Homeoffice – seit 3 Jahren komplett). Du würdest Conti nicht mehr wiedererkennen – in den letzten 10 Jahren wurden über 100 Firmen gekauft (vom Reifen Hersteller zum Top Technologieunternehmen mit “Produkten” wie Autonomes Fahren), unsere Werte werden weltweit immer besser “gelebt”, Arbeitsbedingungen haben sich Richtung Flexibilisierung weltweit deutlich weiter entwickelt (Teilzeit, Mobile Work, Sabbatical…) – was uns jetzt im Lockdown sehr gut hilft. Gab es vor 10 Jahren noch “begleitetes PowerPoint lesen”, findest Du heute jedes moderne Format in unseren Konferenzen Workshops und sogar Meetings.
Andreas: Das klingt in der Tat nach enormen Veränderungen insbesondere im Bereich Lernen, was für zukunftsfähige Unternehmen eine zentrale Grundlage ist. Bevor ich zu Dir, Deiner Rolle und Deinen Erfahrungen in diesem Prozess komme, hätte ich nur noch eine Frage vorab: Für mich geht es im Kern von Unternehmensdemokratie darum, die Akteure in den Unternehmen zu ermächtigen, die Organisation mitzuführen und zu -gestalten. Welche Rolle spielt Partizipation bei Entscheidungen über den operativen Bereich hinaus bei Conti? Also Mitbestimmung jenseits betriebsrätlicher Aspekte im taktischen und strategischen Bereich? Und gibt es auch dort Entwicklungen in den letzten Jahren?
Harald: Die gibt es an vielen Stellen, angefangen von offenen Strategie-Diskussionen vor Jahren schon, sind „Open-Calls“, Beteiligungs Kampagnen, transparente Projekte und Initiativen immer mehr etabliert. Auch wird Beteiligung immer früher genutzt, also nicht mehr nur „Ergebnisse“ diskutieren oder Feedback zu gefallenen Entscheidungen, sondern aktive Zusammenarbeit (global über Enterprise Social Network) an der Entscheidungsvorbereitung. Das reduziert Widerstand im Beginn und vor allem der Umsetzung, erhöht Geschwindigkeit sowie Qualität und sorgt durch die Diversität für Optionen… was zu komplexen Fragestellungen natürlich eine sinnvollere Antwort ist. Ganz aktuell arbeiten wir an einer „Ownership“ Initiative, in der ganz aktiv jeder Mitarbeiter angeleitet und eingeladen wird, sich einzubringen – das wird auch in unsere HR Systeme fest integriert.
Freiheit muss geübt werden. Harald Schirmer
Andreas: Sind das dann bei den Open Calls, Beteiligungskampagnen etc. ausschließlich Entscheidungsvorbereitungen, oder sind das teils auch gemeinsam getroffene Entscheidungen? Und was genau bedeutet bei der Ownership Initiative “sich einbringen”? Aus meiner Sicht ist es natürlich absolut begrüßenswert, wenn Mitarbeiter*innen vor einer topdown Entscheidung in irgendeiner Weise befragt werden – das ist der erste Schritt in Richtung von Teilhabe an den Entscheidungsprozessen einer Organisation. Wie siehst Du das?
Harald: Das kommt darauf an, wer diese initiiert. Als es um Sabbatical, Flexzeit und Mobile Work ging, gab es in vielen Ländern Gesetze, die nicht zu “entscheiden” waren – da ging es mehr darum, voneinander zu lernen – was für alle eine Bereicherung war. Am Ende war klar, dass zum Beispiel ein Sabbatical nicht nur dem nützt, der es in Anspruch nimmt. Im vergangen globalen Migrations-Projekt haben wir sehr viele Entscheidungen gemeinsam vorbereitet, diskutiert und – ich würde auch sagen – gemeinsam entschieden. Wir haben mit über 4000 Freiwilligen gearbeitet – da ist “Top-Down” eh der falsche Ansatz. Da geht es um Neugier wecken, gemeinsam Optionen zu finden und individuelle Lösungen zu erarbeiten. Zentral ist unsere Aufgabe dabei zu unterstützen, Hürden aus dem Weg räumen, Commitment zu erzeugen und die Community beziehungsweise die Netzwerke mit Wertschätzung und Fokus auf die Erfolge zu inspirieren.
Andreas: Neugier wecken – ein tolles Stichwort. Ich erlebe aus unserer Perspektive als Begleiter von Transformationsprozessen immer wieder Zweifel im Vorfeld, ob die Mitarbeiter*innen überhaupt selber entscheiden wollen und können. Ein Standardsatz lautet: “Die sind noch nicht so weit”, also eine Aussage über die immer wieder beschworene Frage einer ausreichenden Reife bei den Beteiligten. Ich persönlich sehe diesen Reifebegriff eher kritisch, wie ich das schon vor nicht allzulanger Zeit in meinem Beitrag Ist Selbstorganisation eine Frage der Reife reflektiert hatte und später auch in einem kleinen Beitrag in der Zeitschrift ManagerSeminare. Was sind denn diesbezüglich Deine Erfahrungen? Wenn Ihr in dem von Dir erwähnten Projekt mit über 4000 Freiwilligen gearbeitet hattet, wie stand es seinerzeit mit der “Reife” der Mitarbeiter*innen – und deren Neugier zur Partizipation?
Harald: Lass mich mal bewusst deutlich (Dir zustimmend) antworten:
Wer sagt „meine Leute sind noch nicht soweit“ meint eigentlich: Ich habe es verschlafen und versäumt meine Mitarbeiter zu entwickeln.“ Harald Schirmer
Wer für Führung bezahlt werden will, sollte auch liefern. Im gleichen Kontext kommt auch oft: „Wir müssen erst evaluieren, wo die Leute stehen“ heißt: Ich kenne meine eigenen Mitarbeiter nicht und will Zeit gewinnen. Oder: „Ich/wir haben gerade keine Zeit zum Lernen, ist grad so viel los“ – das ist eine Bankrotterklärung für die Zukunft in einer Zeit stetigen Wandels – so jemand wird seiner Führungsverantwortung nicht wirklich gerecht. Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich setze meine Energie dafür ein, die Kompetenzen (jeder Mensch ist besonders!), die da sind gemeinsam zu verbessern und Neues von- und miteinander zu erlernen. Und zwar mit maximaler Transparenz, Beteiligung, Respekt und auf Augenhöhe… die Ergebnisse sind dann in der Regel für alle erlebbar… Seit ich das im globalen Kontext mache, erlebe ich oft das Gleiche:
Kollegen erleben Selbstwirksamkeit, schätzen den Respekt und Wertschätzung, wachsen über sich hinaus und liefern grandiose Ergebnisse. Leider verlieren wir manchmal solche „Unternehmer“, weil sie – nachdem sie erlebt haben, was Co-Creation sein kann – nicht mehr in die hierarchischen, fremdbestimmten und bürokratischen Strukturen zurück wollen. Es geht nicht darum, ob jemand etwas (schon) kann – sondern ob er/sie es (lernen) WILL!
Andreas: Das freut mich, dass Du das so wahrnimmst und entsprechend handelst. Aus meiner Sicht kommt noch hinzu, dass es selbst in einer einzelnen Person keine eindeutige “Reife” gibt. Menschen können in unterschiedlichen Kontexten aus reichlich unterschiedlichen Haltungen heraus wahrnehmen, denken und handeln. Oftmals ist es auch so, dass die angeblich nicht ausreichend reifen Mitarbeiter*innen in ihrem Privatleben hochgradig selbstorganisiert sind, dort erteilt ihnen schließlich niemand Anweisungen, was zu tun und zu lassen ist. In der Folge wuppen sie häufig aufwändige und riskante Projekte. Das bekannte Standardbeispiel ist der Bau des eigenen Hauses. Das kann genauso die Planung und Durchführung einer aufwändigen, längeren Reise sein, Gartenbau oder was auch immer. Und dann muss sich der Arbeitgeber – wie Du das andeutest – die Frage gefallen lassen, wer denn all die Leute eingestellt hat. Die sind nicht aus dem Nichts aufgetaucht und haben sich heimlich Arbeitsverträge ergattert.
Auf der anderen Seite erlebe ich aus unserer Sicht als Begleiter von Organisationen wiederum, dass Menschen im komplexen Gewusel ihres Arbeitsgebers durchaus noch manchen Lern- und Entwicklungsbedarf haben. Was ich wiederum nicht im Geringsten verwunderlich finde. Wir alle erleben von der Wiege bis zur Bare klassische, formal-fixierte Hierarchien basierend auf der tayloristischen Trennung von Denken und Handeln. Die Pyramide ist ein organisationaler Archetyp. Wir sind dadurch gewissermaßen imprägniert gegen andere Formen organisationalen Handelns und Gestaltens.
Herzliche Grüße
Harald und Andreas
Bildnachweis
- Beitragsbild: privat, mit freundlicher Genehmigung
- Website Harald Schirmer: Screenshot
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