#KritischesWeißsein – Bekenntnisse eines unfreiwilligen Rassisten

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#KritischesWeißsein :: Am 09. Juni veröffentlichte der Journalist Malcolm Ohanwe im Kontext der aktuellen #BlackLivesMatter Bewegung im Spiegel Online seinen Beitrag “#KritischesWeißsein: Entdeckt Eure innere Kartoffel”“. Die Idee gefällt mir, ich fühle mich aufgefordert, meine weißen Lebenserfahrungen öffentlich zu reflektieren – und darauf hin kritisch zu prüfen, wann, wo und wie  ich selbst ohne rassistische Intention letztlich doch den strukturell und kulturell geprägten und verankerten Rassismus immer wieder aufs Neue reproduziert habe.

#KritischesWeißsein :: Das erste Mal

Ich erinnere mich noch überraschend gut, wann ich das erste mal eine mehr oder minder bewusste Ahnung davon bekommen habe, wie sich möglicherweise People of Colour in einem vorwiegend weißen Umfeld fühlen: Es war 1997. Ich hatte mein Musiktherapie Studium in Heidelberg ein Jahr zuvor abgeschlossen, war stolz auf meine Leistung aber nach den erfüllenden Studienjahren doch auch froh, nun meinen neu gewonnenen Freiraum selbst zu gestalten, ganz so wie es mir gefiel.

Und so entschloss ich mich, einen musikalischen Traum zu verwirklichen: Ich wollte nach New Yorck City ans Drummer’s Collective. Als ich die Nachricht erhielt, dass ich die Aufnahmeprüfung bestanden hatte, platzte ich vor Freude und konnte es nicht mehr erwarten, in NYC anzukommen. Irgendwann war es soweit und es fühlte sich prächtig an. Allerdings musste ich mir irgendwann eine neue Bleibe vor Ort suchen – und so kam es zum ersten Mal.

Ich hatte ein Zimmer gefunden, das bezahlbar war und in der Beschreibung gut klang. Ich machte mich auf den Weg, erst via U-Bahn, dann noch eine Weile zu Fuß. Und merkte erst gar nicht, wie ich tiefer und tiefer in die Bronx eintauchte. Irgendwann sah ich keine weißen Menschen mehr, nur noch People of Color. An jeder Ecke, an vielen Haustreppen, vor Läden, auf den Bürgersteigen. Ich hatte eine leuchtend orangfarbene Outdoorjacke an und bemerkte plötzlich, wie ich mich als wandelnder, leuchtender Feuermelde fühlte. Ich hatte den Eindruck, dauernd angestarrt zu werden und fühlte mich irgendwann mulmig. Ich hatte keine Angst, spürte aber dieses sonderbare Unwohlsein auf unangenehme Weise aufzufallen – weil ich anders war. Der einzige Weiße weit und breit.

Natürlich passierte nichts. Absolut gar nichts. Niemand quatschte mich auch nur blöd an. Aber das Frappante in der jetzigen, jahrzehntelangen Rückschau: Ich wollte das Zimmer dort nicht nehmen. Obwohl ich mich nicht eine Sekunde daran erinnern kann, von meinen Eltern in irgendeiner Weise rassistisch beeinflusst worden zu sein. Was natürlich – ich misstraue dem menschlichen und damit meinem Gedächtnis grundsätzlich – nichts heißt. Aber ich kann mich beim besten Willen an kein bewusst inszeniertes rassistisches Umfeld erinnern, dass mich infiltrierte. Und doch wollte ich dort nicht wohnen, nicht mal für die wenigen Monate.

Das erste schwarze Bandmitglied

Im besagten Studium hatten wir mit unserer schrägen Artrock-Band irgendwann das erste schwarze Bandmitglied. Wir waren auf der Suche nach einem neuen Bassisten. Eines abends tauchte ein schwarzer Hüne mit ziemlich sehr kurz geschorene Haaren auf. Er war in seiner kraftvollen Masse beeindruckend und faszinierend, sogar für mich, denn mit amtlichen 1,96m bin auch nicht gerade auffallend klein. Aber kein Wunder, denn er war allen Ernstes Drill Instructor im damaligen europäischem Hauptquartier US Army Europe, USAREUR.

Wir legten los, probten ein erstes Mal zusammen und nahmen ihn danach auf. Seine rundum positive Stimmung und seine Scherze waren angenehm, es machte Spaß mit ihm zu proben. Allerdings bemerkten wir dann im Laufe der Zeit doch zwei kulturelle Passungsprobleme. Zunächst mal das Offensichtliche: Er war damals schon ca. sieben Jahre in Heidelberg, aber so gut wie niemals außerhalb der Kaserne. Schließlich war das eine Stadt in der Stadt, mit eigenen Tankstellen, Geschäften, Dienstleistern. Kein Soldat hatte einen zwingenden Grund, mit deutschen Kartoffeln in Kontakt zu treten. Und das führte natürlich dazu, dass der Mann ungefähr vier deutsche Worte konnte: “Ein Bier bitte. Danke!” Das war mein erstes Problem was ich mit ihm hatte. Ich erlebte es als eine Form von Kulturchauvinismus, jahrelang in einem anderen Land zu leben und sich einen Dreck für deren Sprache und Kultur zu interessieren. Zweitens blieb es trotz gewisser Versuche, auch mal irgendwie über irgendwas Substanzielles zu reden, bei oberflächlichen Geplänkel. Was natürlich auch mit uns selbst zutun hatte, mit diesem Wunsch sowie unserem (Un)Vermögen, eine entsprechende Kommunikation zu führen. Trotzdem: Die Sollbruchstelle war da.

Ein bisschen unserer bescheidenen Weltmusik: “Gerze”, Komposition: Lars Störmer, Arrangement & Interpetation: Art Attack

Im Laufe der nächsten Wochen wurde klar: Er ist zwar irgendwie cool und sehr von sich überzeugt, aber er verstand einfach nicht, was bei uns in der Musik passierte. Und wir waren nicht in der Lage, ihm das zu vermitteln. Also haben wir uns irgendwie angepasst, in Ermangelung von schnellen Alternativen. Eines Tages fuhren wir dann in einem vollkommen überdimensionierten Truck zu irgendeiner Feier – keine Ahnung mehr, was und wo das war – um dort für die Livemusik zu sorgen. Das Ganze wurde zum übelsten Auftrittsdesaster, an das ich mich erinnern kann. Niemand interessierte sich für uns und wir waren nicht in der Lage, irgendwas Passendes zum Besten zu geben. Durch einen dichten Schleier erinnere ich mich vage, mich unwohl gefühlt zu haben, deplaziert. Auf dieser Feier waren vorwiegend schwarze US Amerikaner. Interessant dabei: Ich hatte damals nicht das geringste Interesse, als Gast dort in Kontakt mit den anderen Menschen zu gehen und gefiel mir in der Feststellung, dass die sich ja nicht für uns interessieren. Kurzum: Auch wenn ein Abend nicht dasselbe ist, wie ein mehrjähriger Aufenthalt, so war es strukturell doch dasselbe: Ich blieb in meiner Blase und gab mir mit meinen weißen Freunden die Kante.

Das Ende vom Lied: Wir machten noch eine Weile weiter, hofften darauf, dass wir vielleicht doch noch irgendwie zusammenwachsen würden – denn eigentlich hätten wir ihn gern im Boot gehabt. Wohl weil wir uns damit selbst besser gefallen hätten. Es wäre so cool gewesen, hätte doch so  gut gepasst, bei all der musikalischen Multikultur mit unserem  NeoJazzBeHipCoreEthnoFusionRoll! Aber nein, daraus wurde nichts. Im Gegenteil fing er an, mich allmählich zu nerven. Die zunehmend größere Lücke zwischen Selbsteinschätzung und -vermögen ging mir ersnthaft auf den Keks. Alles war schnell klar, nur um ein paar Takte später zu merken, dass nichts klar war. Wir trennten uns – und bei mir hatte sich ein Vorurteil gebildet. Auf der statistisch soliden Erfahrung mit exakt einem Menschen.

Der erste schwarze Kumpel

Website des Ernst-Kalkuhl-Gymnasiums

Noch viel weiter in der Vergangenheit  war ich im Gymnasium irgendwann im Ruderverein gelandet. Dort war auch ein schwarzer Mitschüler dabei, den ich schon vorher kannte – denn es gab nicht allzuviele People of Color … in der Schule. So saßen wir ab dann immer wieder mal gemeinsam im Boot  und erkundeten alle möglichen deutschen und europäischen Gewässer, trieben gemeinsam Schabernack und hatten eine Menge Spaß. Ich glaube mich zu erinnern: Uns ging es gut.

Er war dafür bekannt, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, war meistens gut drauf und ausgesprochen witzig. Und er konnte uns als Steuermann bei Regatten hervorragend zusammenbrüllen und provozieren, auf dass wir die letzten Glykogenmoleküle aus der Leber kratzten, um zu gewinnen. Ich erinnere mich dunkel, wie wir genau diese Situation – ein Schwarzer sitzt auf dem Steuersitz und scheißt vier Weiße zusammen – in der Umkehrung früherer Galeeren ziemlich witzig fanden.

Dabei waren wir Teenies voller Testosteron nicht besonders reflektiert mit der Situation umgegangen. Fanden die Umkehrung dessen witzig, was früher Schinderei teils bis zum Tod bedeutete. Während wir privilegierten Privatschulenpennäler den unsäglichen Luxus genossen, unsere Sommerwanderfahrten mal in Schweden, mal in England oder Frankreich zu verbringen. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass ich seinerzeit mit ihm über seine Erfahrungen als Schwarzer gesprochen habe. Jetzt knapp 40 Jahre später habe ich keine Ahnung, wie es ihm damals ergangen ist. Hat er Alltagsrassismus erlebt? Vermutlich, schließlich erzähle ich gerade von einer Zeit Anfang der 1980er.

In Erinnerung geblieben sind mir vor allem skurrile und lustige Episoden, die allerdings genauso gut von anderen Kumpels oder Freunden hätten stammen können. Überhaupt nicht hängengeblieben sind irgendwelche ungewollt rassistischen oder diskrimierenden Verhaltensweisen. Aber bitte: Keineswegs, weil ich einen Heiligenschein trage, sondern weil mein Gedächtnis so lausig ist.

#KritischesWeißsein :: Back in Berlin

2009 bin ich mit meiner damaligen Frau und unserem ersten Sohn von Heidelberg tief in die Westerwälder Wildnis gezogen. Wir lebten dort in ihrem Haus mit riesigem Garten direkt neben dem Naturschutzgebiet. Gartentor auf: Waldweg da. Die Naturanbindung hätte kaum besser sein können. Die Kehrseite: In diesem Dorf mit ca. 700 Einwohnern fehlte so ziemlich alles, eine Zeitlang gab es nicht mal einen Dorfladen, jeder Liter Hafermilch, jedes Brötchen musste 5Km bergab in der nächsten Kreisstadt mit Dorfcharakter gekauft werden. Was natürlich auch fehlte: People of Color. Es war eine rein weiße Veranstaltung und dementsprechend einfältig. Das und noch ein paar Punkte mehr trieb uns nach sieben Jahren dort weg in die bunteste Stadt Deutschlands.

2016 im Spätsommer kamen wir hier an. Ich hatte ein Gefühl von Befreiung, aufatmen, durchatmen, auch wenn hier die Luft zweifelsfrei schlechter ist, als umgeben von Wald und Natur. Überhaupt hatte ich nach langen Jahren das erste Mal wieder das Gefühl zuhause zu sein. Ob der Vielfalt hier, den deutlich sichtbaren Narben durch den Krieg und die später lange währende Trennung in Ost und West, die mich durch meine gesamte Kindheit und Jugend begleitete. Ich fühle mich hier unter anderem zuhause, weil meine Wurzeln im Osten Europas liegen und ich hier täglich an diese vielen Jahre der Trennung erinnert werde. An all die Reisen in den Osten, die Grenzübergänge in die DDR, unsere Fahrten in die Tschechoslowakei, Ungarn, Polen.

Naheliegenderweise habe ich hier in Berlin auch in meinem persönlichen Umfeld (wieder) People of Color. So kommt beispielsweise die Frau eines alten Bekannten aus Ghana. Genau diese Bereicherung meines Privatlebens war ja einer der Gründe, hierher zu kommen. Beide gehen gerne auf Veranstaltungen und zu Locations mit einer hohen Dichte an People of Color. Also landeten wir eines Tages zu dritt in einem der Berliner Locations mit entsprechenden Attributen (nein, es war definitiv nicht das Berghain oder Kitkat). Ich schätze, dass das Verhältnis von Weißen und People of Color ungefähr bei 50:50 lag. Für meine Verhältnisse also schon auffällig bunt. Interessanterweise ging es mir dort ähnlich wie auf der oben beschriebenen Party, auf die uns seinerzeit unser Basist mitgenommen hatte: Ich fühlte mich komisch, deplatziert und irgendwie fremd. Allerdings lag das auch zu großen Teilen am Lebensgefühl – das hatte einen starken Einschlag von Schickimicki, alle hübsch herausgeputzt, egal ob Weiß oder People of Color, Premiumautos und teure Uhren lagen in der Luft, es hatte was vom Posh-Style eines P1.

#KritischesWeißsein - Selbstreflexionen zum Görlitzer Park
Der Görli, Görlitzer Park, Berlin 2020

Wenn ich nun als Wahl-Berliner durch den Görli fahre und die praktisch ausnahmslos schwarzen Drogendealer sehe, habe ich mich immer wieder mal gefreut. Musste in mich reingrinsen. Warum? Ich freute mich darüber, wie sie der Polizei immer wieder entwischen und ihr ein Schnippchen schlagen; wie Polizisten immer wieder die Radkästen der Autos um den Park herum absuchen, um wenigstens das eine oder andere Päckchen mit verbotenem Stoff zu finden, aber dadurch nichts substanziell ändern; ich freute mich, weil diese Schwarzen der schwachsinnigen, verlogenen und bigotten deutschen Drogenpolitik den Stinkefinger zeigen (wie immer belegt auch der Drogen- und Suchtbericht 2019, dass die legalen Drogen Alkohol und Tabak gesundheitlich und wirtschaftlich weitaus schädlicher sind, als vieles, was auf der BTM Liste steht, Lobby sei Dank). Aber nur selten dachte ich daran, dass sie das sicher nicht tun, weil sie darin ihre Berufung sehen, sondern weil sie kaum andere Chancen haben. Erschreckend mies, sich darüber zu freuen, dass andere etwas tun, mehr oder weniger aus Verzweiflung – nur weil es gerade prima zu meiner Wut über einen gesundheitspolitischen Missstand passt.

Darüber hinaus entdecke ich in mir in den letzten Jahren vor allem dann rassistische Spuren, wenn ich mit wirklich miesen kriminellen Akten konfrontiert bin. Sobald mal wieder durch die Presse geht, dass Flüchtlinge eine Frau vergewaltigt haben sollen (obwohl nur jeder 8te Tatverdächtige Zuwanderer ist und zudem die Bereitschaft zur Anzeige steigt, je fremder der Täter wirkt, was an sich auch schon wieder fragwürdig ist); oder wenn zum Beispiel herauskommt, dass Arabische Clans hochrgradig betrügerisch bei der Soforthilfe vorgingen; all das löst in mir einen rassistisch Reflex aus, den ich sofort entlarven kann, wenn ich nur einen Moment innehalte. Aber er ist da und ich muss ihn aktiv angehen. Denn letztlich bin ich damit selbst noch weit entfernt von einem konsequent gelebten Weltbürgertum, so wie es Kant mit seinem Weltgastrecht vorschlug (vgl. Guérot & Menasse 2016: Lust auf eine gemeinsame Welt, Le Monde diplomatique) – hier etwas verkürzt zugespitzt:

Wenn wir alle grundsätzlich gleich geboren werden, haben wir alle das gleiche Recht, überall zu leben.

 

It’s still a long way – #BlackLivesMatter

Andreas

 

Literatur

 

Bildnachweis

  • Beitragsbild: Deutsche Kartoffel, ©Andreas Zeuch
  • New Yorck City: ©Heather Shevlin, pixabay, lizenzfrei
  • Ernst-Kalkuhl-Gymnasium: Screenshot Website
  • Görlitzer Park: ©Andreas Zeuch

 

 

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