In den letzten Jahren gab es einen enormen Hype um das alternative Organisationsmodell Holacracy. Darauf hatte ich auch schon in einer allgemeinen Kritik “Holacracy. Vom Scheitern eines Betriebssystems” reagiert, was seinerzeit eine interessante Welle der Empörung bei Holacracy Fans auslöste. Die Wurzeln liegen dabei unmissverständlich in der Soziokratie. Meines Erachtens sind die Unterschiede zwischen beiden Modellen ziemlich überschaubar – deshalb dreht sich dieser Dialog um die Soziokratie. (Siehe auch den Vergleich von Christian zu beiden Organisationsmodellen)
Andreas: Christian, super, dass Du Dir die Zeit für uns genommen hast. Wir hatten Dich ja schon im Januar zum Auftakt unserer neuen Reihe “Im Fokus” vorgestellt. Insofern gleich rein ins Thema: Du bist, wie Du bereits in unserem Beitrag über Dich erzählt hattest, über die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) zur Soziokratie gekommen. Was hatte Dich damals spontan am meisten fasziniert und was waren Deine ersten Fragen zur Soziokratie?
Christian Rüther: Die GFK ist wunderbar für den 1:1 Austausch und da Wege zu Win-Win-Lösungen zu finden. Aber sie bietet nichts wirklich Hilfreiches auf der Team-Ebene an oder darüber hinaus. Diese Lücke schließt die Soziokratie, weil sie wirklich klare Strukturen und Hilfen bietet, wie Gruppen zu sinnvollen, machbaren Entscheidungen kommen. So einfach, so klar, so hilfreich und ganz auch im Geiste der GFK, im Geiste der Zusammenarbeit, Menschlichkeit, Vernunft, Augenhöhe… So konkrete Fragen waren nicht da. Ich wollte das System verstehen… Ein Widerstand war bei der ersten Berührung deutlich spürbar: “Wieso dieses dämliche Reden in Runden. Das ist doch völlig gestelzt, unnatürlich und unlebendig!” So ungefähr… jetzt liebe ich Runden, weil jeder dran kommt, jeder dann auch zuhören kann und diese mühseligen Pro/Contra-Diskussionen oder Polaritäten weitgehend wegfallen.
Andreas: Das klingt ein bisschen nach Dialog Runden, also Dialog als formale Methode im Sinne von David Bohm. Welche Regeln gibt es in den soziokratischen Runden und nach welchen Prinzipien werden diese Runden gestaltet?
Christian: Es ist anders. Es gibt keinen Talking-Stick und er wird auch nicht in die Mitte zurückgelegt und jemand muss ihn holen, sondern es geht hintereinander in einer Runde. Jeder kommt dran, einer nach dem anderen. Gegebenenfalls gibt es ein Time-Boxing, dass heißt alle haben maximal 2 Minuten für ihren Redebeitrag. Und meistens gibt es zwei Runden, so dass jeder seine Meinung revidieren oder ergänzen oder auf andere eingehen kann. Das Runde schleift das Eckige, es gibt selten Zweier-Dialoge oder Auseinandersetzungen wie in “freien” Diskussionen und idealerweise kannst du dich entspannen, wenn du nicht dran bist. Du bekommst sicher deine Redezeit und kannst daher gut zuhören.
Andreas: Verstehe. Wobei ich durchaus mindestens eine wichtige Gemeinsamkeit sehe: In beiden Verfahren ist sichergestellt, dass nicht die üblichen Verdächtigen ein Gespräch, ein Meeting oder was auch immer dominieren. Und genau deshalb bekommt das Zuhören eine andere Qualität. Der Talking-Stick in den Dialog-Runden ist für mich sowieso nur eine methodische Krücke, um ein gelungenes Zuhören zu kultivieren – und umgekehrt den Heckmeck der meisten Meetings nachhaltig zu unterbrechen, in dem es Schlag auf Schlag geht und viel die Sorge haben, nicht gehört zu werden und deshalb anderen auch gerne mal ins Wort fallen. Nebenbemerkung: Ich für meinen Teil liebe Dialog-Runden, sie wirken so trivial, können aber eine enorme Wirkung entfalten. In welchen Kontexten konntest Du bisher Soziokratie anwenden, mit welchen Organisationen hast Du bislang zusammengearbeitet und was waren dabei die wichtigsten Erfahrungen?
Christian: Meine eigenen Erfahrungen habe ich für jeweils vier Jahre im Soziokratie-Zentrum Deutschland gemacht sowie in zwei Teams bei der Gemeinwohl-Ökonomie. Und es ist wichtig, dass ein Berater auch am eigenen Leib erlebt, wie das funktioniert und was das konkret heißt… Ansonsten habe ich hauptsächlich NPOs als Kunden. Es gab beispielsweise eine aus dem Jugendhilfe-Bereich mit ca. 150 MA, eine aus dem Behinderten-Bereich mit ca. 1500 MA, eine aus dem Arbeitsvermittlungs-Bereich mit 180 MA und andere. “Exoten” waren ein Handelsunternehmen, allerdings nur für kurze Zeit und eine Organisation aus dem Automobil-Bereich. Die Erfahrungen waren unterschiedlich. Viele Implementierungen haben nicht so lange gedauert, weil sie entweder abgebrochen wurden oder auf der jeweiligen Ebene blieben. Sprich der Leitungskreis funktioniert nach dem KonsenT-Prinzip, aber es geht nicht weiter in die Organisation hinein.
Das hierarchische Mindset ist auf jeden Fall sehr hartnäckig, implizit oder explizit. Bei einer Kreissitzung sagte zum Beispiel ein Bereichsleiter, nachdem in der Meinungsrunde die Geschäftsführerin ihre Sichtweise mitgeteilt hatte: “Ja, wenn die Geschäftsführung das sagt, dann müssen wir das tun!”. Das, obwohl wir schon ein Jahr mit dem Verfahren experimentiert hatten. Das Hintereinander-Reden ist nicht jedermanns Sache und braucht etwas Gewöhnung. Dann flutscht es aber recht gut. Allerdings sind auch hier die alten Beharrungskräfte sehr stark, so dass ohne kontinuierliche Reflexion der Kreis immer mal wieder ins Diskutieren kommt. Ansonsten führt es zu viel Klarheit, effizienten Meetings und Lösungen, die von allen getragen werden. Es wird schnell ein gutes Miteinander, wo sich jeder mit seinem Wesen einbringen kann und relativ offen kommuniziert wird.
Andreas: Das ist mit einer Transformation hin zu einer soziokratischen Organisation vermutlich nicht anders, als mit anderen Transformationen auch. Wobei das alles noch reine Mutmaßungen sind, denn aktuell gibt es noch keine empirischen Längsschnittuntersuchungen zum (Miss)Erfolg von Transformationen. Das liegt auch daran, dass es kein einheitliches Verständnis des Begriffs gibt. Leider habe ich den Eindruck, dass aktuell sehr häufig von Transformationen geredet wird, obwohl sie nichts weiter sind als ein Change. Wohl weil der Letzteres längst vollkommen durchgenudelt ist und keinen mehr hinterm Ofen hervor lockt. Da klingt Transformation wesentlich frischer. Und beeindruckender! Wobei wir bei den Unternehmensdemokraten diese beiden Begriffe glasklar unterscheiden. Change meint einen Veränderungsprozess, ohne das alte tayloristische Paradigma der Trennung von Denken und Handeln, Planen und Ausführen grundsätzlich anzurühren. Eine Transformation hat für uns indes nur dann den Namen verdient, wenn es im Kern genau darum geht, diese Trennung zu re-integrieren!
Bei den Gesprächen mit Vertreter*innen der Fallbeispiele meines letzten Buchs “Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten” hatte ich am Ende 11 Thesen für Unternehmensdemokraten im Aufbruch herausgearbeitet. Was muss sichergestellt sein, damit die Transformation im definierten Sinn gelingen kann? Was sind Deine Erfahrung diesbezüglich für die Verwandlung einer klassisch geführten und strukturierten Organisation hin zur Soziokratie? Was braucht es unbedingt, was darf auf keinen Fall sein, passieren und so weiter?
Christian: Mir gefällt deine Unterscheidung zwischen Change = Symptombehandlung und Transformation = Wurzelbehandlung. Die Soziokratie geht an die Wurzel der Macht: Wer entscheidet letztendlich und wie? Und hat glasklare Konzepte, die eben nicht mehr hierarchisch linear sind. Statt dessen ist der KonsenT eines Kreises die höchste Macht. Und das Ziel ist auch, dass der/die Eigentümer gemeinsam im KonsenT mit anderen Beteiligten auf der Ebene entscheiden, nicht mehr allein. Das ist fundamental, radikal, irreal 🙂
Kürzlich hat ein Sofa Kollege gesagt, dass einige klassische Berater für viel Geld bei Pepsi-Cola Runden einführen. D.h. die Leute lernen dort, hintereinander zu reden, einer nach dem anderen statt “wild” zu diskutieren. Das ist eine der wichtigen Muster/Elemente der Soziokratie. Dafür cashen die Berater ordentlich ab. Und der Kollege wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Ein anderer Teilnehmer der Diskussion sagte: “Ich weiß gar nicht, ob ich das will, dass mithilfe der Soziokratie Pepsi noch besser wirtschaftet und diesen Kloreiniger noch besser an das Volk bringt!” Als alter Gemeinwohl-Ökonomie-Aktivist hat mich das natürlich angesprochen und angeregt. Dient das alles einem höheren Sinn? Was ist der gesellschaftliche Beitrag eines Unternehmens? Soziokratisch gesprochen: Was ist die Vision einer besseren Welt als gemeinsame Ausrichtung eines Unternehmens?
An anderer Stelle habe ich ja schon darauf hingewiesen, wie schwierig so eine Transformation ist. Kurz gefasst braucht es Zeit, Ausdauer, eine kontinuierliche Schulung und die absolute Rückendeckung der obersten Machtträgerin, also des Geschäftsführers oder Unternehmers oder der Eigentümerin. Die Macht kommt von oben und kann nur von oben dauerhaft geändert werden. Es ist wie ein Marathonlauf, auf den du dich ständig vorbereitest, indem du täglich läufst, deine Ernährung umstellst, dich steigerst und dran bleibst.
Soziokratie ist kein Quick-Fix, sondern das bewusste Ändern von liebgewonnenen Gewohnheiten.
Wir wachsen in hierarchischen Strukturen auf: Eltern, Schule, Uni, Lehre, Beruf, wo lernst du wirkliche Mitbestimmung auf Augenhöhe. Das Umlernen braucht einen langen Atem. Deshalb habe ich vielleicht im vorherigen Abschnitt auch so ausgiebig auf die Scheiter-Erfahrungen hingewiesen. “Es ist kompliziert!” Zudem bekomme ich eher Anfragen von Organisationen, die so am Rande stehen, die nur Elemente der Soziokratie übernehmen möchten oder den eigenen Weg gehen möchten oder teilweise auch ganz unterschiedliche Interessen intern haben. Jetzt war ich ganz kurz bei einer Organisation, die ziemlich zerstritten intern war und wo sich diese Uneinigkeit auch nachteilig auf ein Weiterführen der Soziokratie ausgewirkt hat. Positiv gesprochen: Es braucht möglichst viele Menschen, die diese Transformation wirklich wollen.
Andreas: Freut mich, dass Dir unsere Unterscheidung von Transformation und Change gefällt. Nur eines möchte ich klarstellen: Diese Differenz ist für uns kein Werturteil wie die von Dir erwähnte Symptombehandlung. Change ist legitim. Aber eben innerhalb des bestehenden Leitparadigmas der Trennung von Denken und Handeln. Was wir definitiv äußerst kritisch sehen, ist das inflationäre Buzzwordbingo. Also von Transformation reden, nur um diesen Begriff zu bedienen, ohne damit etwas fundamental anderes zu meinen als mit Change. Teils sogar, um bewusst ein beeindruckendes 3D Spektakel von tiefgreifendem Wandel zu inszenieren, bei dem es hinter dem Vorhang genauso zugeht, wie ehedem.
Abgesehen davon teilst du also meine simple Erkenntnis, dass der nachhaltige Erfolg letztlich uneingeschränkt davon abhängt, ob das Topmanagement und/oder die Eigentümer die Transformation ehrlich wollen und sich auch entsprechend verhalten. Hätte mich auch überrascht, wenn das bei Dir fundamental anders wäre. Was sind denn Deine wichtigsten Inspirationsquellen zur Weiterentwicklung der Soziokratie? Wir arbeiten ja unter dem Label der unternehmensdemokraten – und das hat definitiv Konsequenzen für meine eigene Inspiration zur Entwicklung der Unternehmensdemokratie als Rahmenwerk für alternative Arbeits- und Organisationsformen.
Christian: Zuerst mal habe ich am meisten bei den beiden schönen Töchtern der Soziokratie inspirieren lassen: Der Holakratie und Soziokratie 3.0 (S3), die sich besser vermarkten oder anschlussfähiger sind vor allem im IT-Bereich. Was mir auch sehr taugt sind die Pfirsich-Zugänge wie der von Bernd Oesterreich/Claudia Schröder mit der Kollegialen Führung/Agilen Organisationsentwicklung oder Niels Pfläging/Silke Hermann mit Beta-Codex. Darüber hinaus faszinieren mich konkrete Fallbeispiele und sich daraus entwickelnden Modellen. Endenburg und die Soziokratie sind ja auch aus einem konkreten Einzelfall hervorgegangen. Spotify und die verschiedenen Adaptionen bei IngDiba, MySugr und anderen ist jetzt ein prägendes, praktisches Modell. Ich bin Fan von Goodpractises, auch wenn das teilweise verpönt ist und in einer komplexen Welt angeblich nicht mehr so hilfreich sein soll. Insbesondere einmalige Modelle wie z.B. Morningstar finde ich faszinierend. Einige Firmen versuchen natürlich ihren Ansatz auch zu vermarkten wie Haufe-Umantis oder Bodo Hansen Upstaalsboom-Weg. Da ist immer die Frage, ob diese Unternehmen wirklich das leben, was sie nach außen darstellen. Allsafe z.B. scheint mir sehr glaubwürdig zu sein, also die beiden Bücher von Detlev Lohmann, ebenso Semco, wobei die Bücher von Ricardo Semler schon arg in die Jahre gekommen sind und die Frage ist, wie es aktuell dort ausschaut. Es ist nicht immer leicht zu entscheiden, welche Beispiele die Kraft von Innen haben und welche Beispiele eher gehypt werden oder schöner Fassadenputz sind. Vielleicht ist es auch egal, solange du Inspirationen für deine eigene Organisation bekommst und dann damit experimentierst.
Es gibt ja auch jetzt eine wachsende Anzahl von neuen Mischungen von Beratungsfirmen, die verschiedene Elemente aktueller Modelle zusammenführen wie der Loop-Approach von TheDive oder Future-Fit-Company von Creaffective oder die Purpose-Driven-Organizations von der Beratergruppe Neuwaldegg. Daneben gibt es einzelne Forscher, die Bücher geschrieben haben wie Richard Pircher, Christian Hauser oder Torsten Scheller…
Auch Euer Blog ist sehr interessant und vielfältig. Dazu kommen noch einzelne Ansätze wie Design Thinking, Scrum, Lean…, die allesamt ein Fundus für die eigene Arbeit geben. Ich habe versucht so diese neuen Einflüsse auch in eine Übersicht von Pattern/Mustern zusammenzufügen. Das ist noch im Beta-Stadium. Und noch eins 🙂 Was mir auch taugt ist die Bewegung der worker-owned companies aus dem anglosächischen Raum, wobei ich da noch viel zu wenig weiß. Ein berühmtes Fallbeispiel ist John Lewis in Großbritannien mit ca. 90.000 Mitarbeitern. Das könnte auch für Euch unternehmensdemokraten ein spannendes Forschungsfeld sein, wobei einige Unternehmen dort jetzt nicht sonderlich “demokratisch” sind, sondern nur über Aktienbeteiligungen einige Mitarbeiter zu Minimal-Eigentümern machen, ohne sonst viel am System zu ändern.
Andreas: Da hast Du zum Schluss unseren Leser*innen nochmal einen wunderbar bunten Blumenstrauß an Inspiration angeboten. Und ja: Einiges davon erscheint mir persönlich recht fragwürdig. Was ich hie und da im Hintergrund mitbekomme, ist leider wiederum nicht so ermutigend, da scheint es doch den einen oder anderen Rückschritt bis Rückfall zu geben. Nichtsdestotrotz: Es gibt sie. Die Organisationen, die im Umfeld einer allgegenwärtigen formalen Hierarchie und Trennung von Denken und Handeln etwas fundamental Anderes versuchen. Es ist großartig: Da ist nicht nur ein letztes gallisches Dorf, es sind eine Menge, wie wir in unserer priomy.MAP zeigen. Und es werden immer mehr. Danke Christian für dieses zweite schöne Gespräch!
Herzliche Grüße
Andreas
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- GfK: ©Andreas Bohnenstangel, CC-BY 3.0 de
- Soziokratiezentrum Deutschland: Screenshot Website