Im Dialog: Was ist Ökohumanismus?

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Ökohumanismus: Vor kurzem bekam ich mal wieder einen Buchtipp. Der Titel “Das Ökohumanistische Manifest. Unsere Zukunft in der Natur” sprach mich sofort an und so landete es schnell am Anfang meiner Leseliste. Im heutigen Dialog gehe ich mit den beiden Autoren Pierre Ibisch und Jörg Sommer in den Dialog über Ihren Begriff und seine Konsequenzen.

Andreas: Lieber Pierre, lieber Jörg, bevor wir in den Dialog zu Eurem Buch gehen, bitte ich Euch, sich für unsere Leser:innen vorab kurz vorzustellen. Auch Euch trifft meine Standardfrage: Wer seid Ihr, woher kommt Ihr, wohin geht Ihr?

Jörg Sommer: Die einfachen Fragen sind oft die gemeinsten. Wer ich bin, das bekomme ich noch zusammen: Ich habe Ende des vergangenen Jahrhunderts Politik und Soziologie studiert, war schon damals ehrenamtlich in der Bildunsgarbeit mit benachteiligten Jugendlichen aktiv, habe mein erstes Buch zur “Emanzipatorischen Jugendbildung” geschrieben, nach dem Studium ein Volonatriat als Tageszeitungs-Jorunalist durchlaufen, dann einige Jahre in einer großen internationalen PR-Agentur (Schwepunkt Krisenkommunikation) gearbeitet, schließlich mein Hobby (Schreiben) zum Beruf gemacht, seitdem rund 200 Bücher, überwiegend Belletristik für Kinder und Jugendliche, aber auch pädagogische und politische Sachbücher geschrieben. Seit 2009 bin ich Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Umweltstiftung, seit 2017 Gründungsdirektor des Berlin instituts für Partizipation, einem advokativem Thinktank für politische Teilhabe. Wohin ich gehe? Das hängt davon ab, wohin wir alle gehen. Aktuell erlebe ich, dass die multiplen ökologischen, ökonomischen und sozialen Krisen in unserer Welt dramatisch zunehmen. Was m.E. daran liegt, dass wir zwar die Wirtschaft globalisiert haben, aber nicht unser Denken. Uns sind die sozialen und ethischen Koordinatensysteme gründlich verrutscht. Wir tun so, als gäbe es keine planetaren Grenzen, als wäre unendliches Wachstum möglich, und als würde eine Wirtschaft, die auf Kosten aller nur wenige reich macht, irgendwie auch für das Wohlergehen aller sorgen. Nichts davon stimmt. Weil uns diese Erzählung aber immer wieder in Krisen führt, haben Pierre Ibisch und ich versucht, eine andere, zukunftsfähige Denkrichtung vorzuschlagen – deshalb das “Ökohumanistische Manifest”.

Pierre Ibisch: Woher ich komme? Das verstehe ich erstmal (phylo-)geographisch. Ich selbst bin aufgewachsen in Flensburg, habe in Bonn studiert, wurde in Südamerika wissenschaftlich reif und habe in Brandenburg neue Wurzeln geschlagen, ohne mich vom Rest der Welt zu verabschieden. Meine Vorfahren stammen aus Angeln, Schlesien und von der Krim. Viel Migration, Vertreibung und Neuanfang in den Wurzeln. Wer bin ich? Mensch, Ehemann, Vater. Ich bin diplomierter Biologe, promovierter Naturwissenschaftler und habilitierter Botaniker. Ich habe in Bolivien insgesamt fast ein Jahrzehnt gelebt, geforscht und gearbeitet. Das Schwelgen in tropischer Biodiversität und das Erleben dramatischer ökologischer Degradation sowie großer menschlicher Armut – das alles hat mich verändert. Die Tätigkeiten im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit und das (Er-)Leben der Gegensätze und Widersprüche im globalen Süden waren für mein Menschen- und Weltbild prägend. In Bolivien habe ich als Forscher und Naturschützer gearbeitet, bin in Gebiete gelangt, die zuvor kein Naturforscher gesehen hat, habe im Feld neue Pflanzenarten entdeckt, junge Menschen fördern und ausbilden dürfen und gleichzeitig an der Beratung der Regierung zu Fragen der Biodiversität mitwirken können. Uns wurde deutlich, dass der Klimawandel die Spielregeln von Landnutzung und Naturschutz dramatisch verändern wird, und wir haben versucht, in der Frühzeit der UN-Klimarahmenkonvention die Waldschutzoption auszugestalten. Ich habe erfahren, was es heißt, wenn sich vom Menschen kaum beeinflusste Ökosysteme über Millionen von Hektar bis zum Horizont erstrecken. Und ich musste lernen, wie schnell Veränderungen über Landschaften und Menschen rollen … getrieben von Straßen, Pipelines, Landwirtschaft und Märkten. Nach diesen Eindrücken kam ich nach Eberswalde, wo ich auf eine Professur für Naturschutz berufen wurde. Ich durfte ab 2003 daran mitwirken, wie die 1992 – an die Tradition der alten Forstakademie anknüpfend – neu gegründete Fachhochschule zur Hochschule für nachhaltige Entwicklung wurde. Die angewandte Forschung führte mich um die ganze Welt – von Guatemala und Peru bis zum Altai und nach Nordkorea und Borneo. Das Land, in dem wir besonders starke Kooperationsverbindungen aufbauten, ist die Ukraine. Als Ehrendoktor der Nationalen Forstuniversität in Lemberg und nach unzähligen Reisen und Exkursionen fühle ich mich dem Land und vielen Ukrainer:innen überaus verbunden. Wo ich hingehe? Den Pfaden folgen, die sich in den letzten Jahren aufgetan haben. Sie führen in den geschundenen Wald, ein missbrauchtes und unterschätztes Ökosystem. Und es sind Pfade auf der Suche nach einem guten Leben für die Menschen als Teil des globalen Ökosystems. Es ist die Suche nach einer ökosystembasierten nachhaltigen Entwicklung – die diesen Namen auch verdient.

Ökohumanismus: Das ManifestAndreas: Wunderbar, vielen Dank für diese Einblicke in zwei so reiche und für unsere Leser:innen hoffentlich inspirierenden Lebenswege! Kommen wir zum Thema unseres Dialogs: Ökohumanismus. Da kommen zwei Begriffe zusammen: Ökologie und Humanismus. Sicherlich kann sich jetzt die eine oder der andere einen Reim darauf machen, basierend auf dem jeweiligen Verständnis und der individuellen Konnotationen zu diesen beiden Begriffen. Aber was ist damit genauer in einer ersten Beschreibung gemeint? Was können sich unsere Leser:innen, die das Buch noch nicht gelesen haben, darunter vorstellen? Was ist der Wesenskern dieses Begriffs?

Pierre: Ganz genau, Ökohumanismus steht für die Kombination von Humanismus und Ökologie. Der Humanismus geht von der humanitas aus, der Menschlichkeit, und steht für unterschiedliche kulturelle Ansätze, die sich seit der Zeit der Renaissance in sehr unterschiedlichen Ausprägungen entfalteten. Praktisch immer ging es darum, Menschen darin zu unterstützen, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Wir streben allerdings kein ideales Menschentum an und sehen das Ziel auch nicht in der Rückbeziehung auf die Antike und in einer Bildung, welche antike Werte und Ideale vermittelt. Uns ist bewusst, dass der starke Begriff des Humanismus ein wenig daran krankt, über Jahrhunderte immer wieder neu interpretiert worden zu sein, aber wir gehen von den Ideen des Neuhumanismus etwa eines Johann Gottfried Herder aus, die mit Menschlichkeit, Menschenwürde und universellen Menschenrechten in Verbindung stehen. Es ist legitim, dass wir Menschen uns selbst gewissermaßen im Zentrum der Welt sehen – so schauen wir ja in die Welt um uns herum. Aber auf Grundlage unseres modernen wissenschaftlichen Wissens sollten wir nicht mehr dem Irrtum erliegen, dass die gesamte Welt sich um uns dreht. Vielmehr gehört zu einem zeitgemäßen Weltbild die Akzeptanz, dass wir im Rahmen der Evolution aus dem globalen Ökosystem hervorgegangen sind und weiterhin eine abhängige Komponente in ihm darstellen. Die Biosphäre der Erde ist unser Lebensraum, ohne die wir nicht existieren können. Alles Leben auf dieser Erde bildet ein sich immerfort wandelndes komplexes und sich selbst organisierendes Ökosystem. Öko kommt von Griechisch “oikos”, der Haushalt. Das globale Ökosystem ist ein großes Gefüge, welches mit knappen Ressourcen wie Energie, Wasser und Nährstoffen effektiv haushält und tendenziell darin immer besser wird. Es hat vor uns Menschen existiert und es wird nach uns sein. Als Individuen und als Population erhalten wir sozusagen die Lizenz, uns in die Energie- und Stoffströme einzuklinken und somit ein Leben zu führen. Wenn wir Menschen sein wollen, ja, ein gutes Leben führen wollen, wird das nur in diesem globalen Ökosystem gelingen. Auch wenn wir Menschen uns selbst großartig finden – und das ist irgendwie verständlich und in Ordnung – ist das Ökosystem, das uns trägt, noch großartiger.

Es gibt eine Reihenfolge: Erst muss das Ökosystem funktionieren, dann können wir darin leben. (Pierre Ibisch)

Insofern muss unser Leben und damit auch unser Denken vom Ökosystem ausgehen. Von dort aus sollte es sich im humanistischen Sinne auf den Menschen richten. Von der Erde zum Menschen – wir nennen das “geerdetes Denken”, die Denkrichtung, die den Ökohumanismus ausmacht. Ökohumanismus ist ein Humanismus, der im globalen Ökosystem eingehegt ist, die Gesetze der Natur und die Begrenztheit unseres Planeten anerkennt. Es ist auch eine Philosophie, die davon ausgeht, dass zur vollen Entfaltung der Menschlichkeit auch das Begreifen und Bewusstmachen des Ökosystems gehören.

Andreas: Das ist für mich durch und durch plausibel – übrigens ein wunderbares Bild, dass wir qua Geburt die Lizenz haben, uns in die Energie- und Stoffströme einzuklinken, sofern wir dabei respektieren, dass dasselbe Recht auch unsere Folgegenerationen haben. Ich würde noch anmerken, dass scheinbar paradoxerweise gerade die Aufklärung dazu beigetragen hat, uns zunehmend aus der natürlichen Einbettung und Verbindung ins Ökosystem zu trennen. Sehr verkürzt beschrieben kam es zu einem wissenschaftlich (sehr einseitig) rationalen Verstehen unserer Welt, mit der wir uns aber zugleich insbesondere in den Naturwissenschaften und der empirischen Forschung als Forschende, den Forschungssubjekten, von den beforschten Gegenständen, Prozessen etc., den Forschungsobjekten, entkoppelt haben. Wir sind dadurch nicht mehr Teil der Natur, sondern stehen wie der Aristotelische unbewegte Beweger außerhalb ihrer selbst und haben sie uns Untertan gemacht. Wir greifen immer tiefer in natürliche Prozesse ein (Atomenergie, Genetik…), und glauben, sie nach unserem Belieben gestalten zu können. Im nächsten Schritt führt das dazu, dass wir alles, was technisch möglich ist, auch versuchen werden umzusetzen. Wenn der Humanismus ein zentraler Bestandteil ist – wie würdet Ihr Euer Menschenbild beschreiben? Meines Erachtens ist das ein fundamentaler Aspekt unseres Handelns, wie wir uns als Menschen begreifen und beschreiben (vgl. meinen Beitrag zum Menschenbild)?

Die beiden Autoren des Manifests zum Ökohumanismus
Pierre Ibisch & Jörg Sommer

Pierre: Da stimme ich gern zu, unser Menschenbild ist von zentraler Bedeutung. Ich würde hier das Etikett “anthropologisch-radikalevolutionär” darüber setzen. Im Rahmen des Ökohumanismus gehen wir davon aus, dass der Mensch per Evolution aus anderen Organismen hervorgegangen ist. Wir sind mit allen anderen Lebewesen verwandt und unterscheiden uns graduell von ihnen. Wir sind nicht nur Homo sapiens – nun, so clever und wissend finden wir uns manchmal gar nicht mehr … – sondern auch Homo socialis sowie Homo emotionalis. Es ist ja nicht nur unsere Intelligenz, die uns als Art interessant macht, sondern gerade auch die ausgeprägte Sozialität. Diese führt letztlich in Kombination mit unseren Kommunikations- und Emotionsfähigkeiten zu den besonderen Leistungen unserer Kulturen. “Radikalevolutionär” meine ich hier auch in dem Sinne, dass unsere Kultur die Fortsetzung der biologischen Evolution mit anderen Mitteln darstellt. Was auch immer wir tun, es kann gar nicht “unnatürlich” oder “künstlich” sein, es ist alles Teil dieses ergebnisoffenen Experiments der Evolution. Entweder das wird was mit uns … oder die Evolution nimmt andere Pfade. Aber unsere Reflexionsfähigkeit und die Begabung zur art- und generationenübergreifenden Empathie sind schon etwas sehr Besonderes. Und diese besonders “menschlichen” Eigenschaften beruhen nicht auf unserer Weisheit, sondern zu einem guten Teil auf unseren Gefühlen. Es wäre klug, uns einzugestehen, wie affekt- und lustgetrieben wir mit der Welt umgehen, und dass unsere Kulturen es idealerweise schaffen, die “guten Gefühle” in uns zu wecken, damit wir unsere Rationalität in “menschliche” Bahnen lenken. Zu den in diesem Zusammenhang wichtigen Kulturtechniken gehören übrigens auch (organisierte) Spiritualität und Religionen. Diese können vielen Menschen helfen, die leicht aufkommende innere Zerrissenheit dieses Homo emotiosapiens zu bändigen. Sie sind keine Bedingung für ein “gutes Leben”, aber idealerweise stehen sie ihm nicht im Wege.

Andreas: Was waren und sind denn die bisherigen Reaktionen auf den Begriff des Ökohumanismus? Wo gab es bislang am meisten Gegenwind, was waren die heftigsten Widersprüche seitens der Leser:innen?

Jörg: Erst nochmal kurz zur Aufklärung, die Du angesprochen hast. Dass diese aus heutiger Sicht Teil des Problems ist, liegt auf der Hand – und ist nicht wirklich überraschend. Schließlich ist die Aufklärung eine Philosophie der leeren Welt. Als sie entstand, erschienen Raum und Ressourcen den Menschen unendlich, das (damals noch wesentlich weniger umfangreiche Wissen) erschöpfend verstehbar. Heute leben wir in einer vollen Welt – wir wissen, dass Ressourcen endlich sind, dass der menschliche Einfluss auf den Planeten Erde fatal sein kann, die ökologischen Grenzen jedoch weder ignoriert noch überwunden werden können. Es ist nun ausgerechnet das menschliche Wissen, dass einen für keinen Menschen mehr vollständig fassbaren Umfang angenommen hat und nach wie vor immer schneller immer weiter wächst.

Die Grundlagen der Aufklärung haben sich also vollständig verändert. Das bedeutet natürlich auch für die Philosophie: Sie muss sich grundlegend verändern. Deshalb sehen wir den Ökohumanismus als Annäherung an eine Philosophie der vollen Welt: des Anthropozäns. Vor diesem Hintergrund wundert es uns nicht, das die lautesten Widersprüche aus zwei Richtungen kommen: Von Anhängern der liberalen Marktwirtschaft und konservativen Moraltheologen.

Das Leitmotiv der Website zum ökohumanistischen Manifest

Letztere reagieren instinktiv natürlich schon abwehrend, wenn sie das Wort „Humanismus“ hören. Gerade bei uns in Deutschland ist Humanismus ja auch das Etikett unter dem sich unterschiedliche atheistische Gruppen und Initiativen sammeln. Dazu kommt, dass die Ökologie als Wissenschaft in vielen Aspekten, zum Beispiel bei der Rolle des Menschen im Ökosystem, aber auch bei der Betrachtung der Evolution nicht wirklich kompatibel mit Denkschulen ist, die eine kreationistische Sicht auf die Geschichte der Menschheit haben. Und Postulate aus der Bibel wie „macht euch die Erde Untertan“ vertragen sich nun so gar nicht mit der nötigen Demut der Menschen als Teil des Ökosystems. Das unser Buch also von einigen Moraltheologen als unmittelbarer Angriff auf deren Welt- und Menschenbild wahrgenommen wird, ist verständlich.

Genau so wenig sollte uns überraschen, dass Marktradikale mit dem Ökohumanismus fremdeln. Diese sind ja immer noch dabei, irgendwie ihren Frieden mit der weichgespülten „Nachhaltigkeit” zu machen. Wenn der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) auf seiner Homepage aktuell schreibt: „Nachhaltiges Wirtschaften heißt: Soziale, ökologische und ökonomische Belange müssen immer wieder neu gegeneinander abgewogen und in ein vernünftiges Verhältnis gebracht werden“, dann belegt das eindrucksvoll, wie schräg dort noch immer das Weltbild ist. Die planetaren Grenzen sind da. Sie sind nicht verhandelbar. Sie können von uns Menschen weder überwunden noch ignoriert werden. Da gibt es nichts in „ein vernünftiges Verhältnis“ zu bringen. Vernünftig ist nur eines: Innerhalb dieser ökologischen Grenzen ein Gutes Leben für alle zu organisieren. Das nennt man Wirtschaften. Nichts anderes. Diese klaren Prioritäten tun natürlich jenen weh, für die Wirtschaften in erster Linie Gewinne bedeutet.

Wirtschaftswachstum

Andreas: Diese “weichgespülte Nachhaltigkeit” am Beispiel des BDI ist eine treffliche Illustration nachhaltiger Nicht-Nachhaltigkeit[1], die vor allem Ingolfur Blühdorn untersucht, Professor für soziale Nachhaltigkeit am Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit der Wirtschaftsuniversität Wien (vgl. Blühdorn et al. 2020). Ein, wenn nicht der zentrale Mechanismus dieser überaus hartnäckigen Nicht-Nachhaltigkeit ist das Wirtschaftswachstum. Es ist unser kapitalistisches Leitnarrativ. Sobald jemand das auch nur in Frage stellt, ohne es kategorisch abzulehnen, wird sie oder er schnell mit zumeist unsinnigen Vorwürfen und Generalisierungen attackiert. So plädiert beispielsweise Kate Raworth in ihrer Donut-Ökonomie (2018) für ein “agnostisches Verhältnis” zum Wirtschaftswachstum: Wir sollten nicht das Wachstum ins Zentrum unserer polit-ökonomischen Anstrengungen stellen, sondern ein für alle gutes Leben in den planetaren Grenzen. Ob das dann mit oder ohne Wachstum möglich ist, oder eine schrumpfende Wirtschaft braucht, ist zweitrangig. Sie kritisiert damit auch die Sustainable Development Goals, die immer noch, basierend auf dem Brundtlandbericht von 1987, mit dem SDG #8 ein “grünes Wachstum”[2] fordern. Ihr geht natürlich in Eurem Buch auch auf diese zentrale Frage ein. Welche Rolle spielt Eurer Ansicht nach dieses Leitnarrativ des Wirtschaftswachstums für unsere Zukunft? Für eine hoffentlich gelingende Zukunft, in der wir nicht wieder als Sackgasse von der Evolution ausradiert werden? Und noch konkreter: Wie soll das Ende des Wirtschaftswachstums, dass es Eurer Ansicht nach braucht, ermöglicht werden. Der Schweizer Volkswirt Matthias Binswanger hat in seinem letzten Buch (2019) versucht zu belegen, dass in einer kapitalistischen Welt Wirtschaftswachstum zwingend sei – ohne dass er es ausschließlich gut heißt, sondern durchaus dessen perverse Kehrseiten anerkennt.

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Jörg: Mit Matthias Binswanger konnte ich diese Frage vor einiger Zeit bei einem wirtschaftspolitischen Kongress auf dem Podium diskutieren. Ich stimme seiner Analyse zu, aber das Thema ist natürlich komplexer. Wirtschaftswachstum ist ja nicht nur ein Problem kapitalistisch organisierter Volkswirtschaften – auch planwirtschaftliche Projekte wie lange Jahre in den realsozialistichen Ländern verfolgt, basierten auf Wachstumsparadigmen. Auch Mischformen wie beispielsweise in China praktiziert, sind wachstumsfixiert. Wachstumsorientierung entsteht auch aus strategischen und militärischen Gründen. Ein weiterer Treiber ist die Globalisierung, die letztlich in allen teilnehmenden Ökonomien Wachstumsdruck erzeugt. Wachstumsfixierung also allein als systemisches Defizit von Kapitalismus zu sehen, greift zu kurz. Oder um es umgekehrt zu sagen: Die Abschaffung des Kapitalismus wird das Wachstumsmantra nicht erledigen.

Tatsächlich ist das Wachstumsmantra die größte Zukunftslüge der Gegenwart. Und sie ist eine doppelte Lüge. (Jörg Sommer)

Einerseits löst sie ihr Versprechen (Wohlstand durch Wachstum) nicht ein. Ökosysteme kollabieren, unsere Lebensgrundlagen sind einem katastrophalen Zustand, wir haben dem Planeten einen schnellen Klimawandel beschert. Aber was haben wir den Menschen beschert? Da wir in den letzten Jahrzehnten stetes Wirtschaftswachstum genossen hatten, müsste es uns doch gut gehen. Vor allem unseren Kindern und Enkelkindern. Aber der Befund ist gegenteilig: Den öffentlichen Haushalten fehlt Geld, die gewachsenen Ressourcen sind abgewandert. Wir mussten einen Mindestlohn einführen, die Rente reicht in Zukunft nicht mehr zum Leben, die Mieten sind nicht mehr bezahlbar. Die verbreitete Kinderarmut in unserem Land ist beschämend. Wohlstand und Lebensqualität durch Wachstum? Eine Lüge.

Die zweite, noch verheerender Folge: Wer Wachstum als Voraussetzung für Wohlstand sieht, der sieht Umwelt- und Klimaschutz als Wohlstandsgefährdung. Dieses Denken ist nicht nur überholt, sondern auch die Wurzel allen Übels. Weltweit hat die bisherige Wachstumspolitik zu steigender Dauerarbeitslosigkeit, prekären Arbeitsverhältnissen, immer mehr Hungernden und einer gewaltigen Spaltung zwischen Arm und Reich geführt. Das Klima haben wir so ganz nebenbei noch mit ruiniert. Die Grenzen des Wachstums wurden überschritten, und längst wird uns dafür die Rechnung präsentiert. Wer sich weiter ans Wachstumsmantra klammert, kann die globalen Problem nicht lösen, denn er hat sie nicht verstanden.

Weiteres Wachstum wird unsere sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme nicht lösen, sondern sie verschärfen und uns immer tiefer in gefährliche Pfadabhängigkeiten treiben. Es klingt nicht nur hart. Es ist auch herausfordernd. Aber es ist auch unumgänglich: Wer die Zukunftsfähigkeit der Menschheit im Anthropozän ernsthaft gewährleisten will, muss zuallererst darüber nachdenken, wie er weiteres Wachstum wirkungsvoll verhindern kann. Dazu müssen wir über Verteilung sprechen, über Gerechtigkeit, über Macht, über das, was Wirtschaft soll, was sie kann – und was sie nicht darf. Und über die Illusion von Eigentum.

10 Thesen zum Ökohumanismus

Andreas: Aus Platzgründen gehe ich auf diese letzte Antwort nicht weiter ein, sondern lade Euch zum Abschluss unseres Dialogs ein, noch auf Eure Thesen einzugehen: Was ist Euch selbst an Euren zehn Thesen als Grundlagen des Ökohumanismus am wichtigsten?

Pierre: In der Diskussion wurde es schon klar. Das einfache Prinzip des Ökohumanismus wirft viele komplizierte Fragen auf, es ergeben sich Implikationen für wohl alle relevanten gesellschaftlichen Herausforderungen. Wir wollten das gern schlaglichtartig deutlich machen und kamen dann zu den zehn Thesen, die helfen sollen, die ökohumanistische Haltung zu untermauern und die Diskussion weiterzuführen. Sie sind nicht dogmatisch, zum Teil sicherlich provokant und wahrlich nicht allumfassend.

  • Die erste stellt fest “Zwischen Mensch und Natur ist kein Widerspruch”. Das ist ja fast trivial, aber bedeutet eben auch, dass wir uns Menschen nicht hassen dürfen, weil es der Natur – von der wir ein Teil sind – nicht gut geht. Es geht um uns.
  • Ans Eingemachte geht es sicherlich mit den Thesen, die sich mit den Konstrukten beschäftigen, die wir uns geschaffen haben, um menschliches Wohlergehen zu organisieren und dennoch dynamisch fortschreitend Leid und Verlust generieren. Aus historischen Gründen schrillen sicherlich viele Alarmglocken, wenn jemand behauptet “Es gibt kein Eigentum. Die Illusion von Besitz braucht neue Antworten”. Dabei ist das schon ein grundsätzliches Übel, wenn wir uns anmaßen, etwas mehr oder exklusiv unser eigen zu nennen, was das größere Ganze ist, das uns trägt und von dem wir ein Teil sind. Logisch und begrifflich haben wir uns da verheddert. Aber dieses konzeptionelle Problem verursacht Missverständnisse mit sehr realen Folgewirkungen.
  • Wenn wir postulieren: “Wirtschaft ist ein Werkzeug” und “Technik ist keine Befreiung”, dann rufen wir dazu auf, uns etwas mehr Mühe zu geben, besser zu sortieren, was Ziele und Sinn sind sowie Instrumente oder Mittel zum Zweck. Wenn eine Schaufel nicht zum Schaufeln taugt, sollten wir sie nicht so nennen und nicht zum Zwecke des Schaufelns produzieren. Wenn das Wirtschaften nicht den gerechten und nachhaltenden Umgang mit knappen Ressourcen organisiert, sondern diese zerstört, gibt es Handlungsbedarf. Wenn wir Technologie brauchen, um Technikfolgen zu bewältigen, die sich aus der Lösung von technischen Herausforderungen ergeben, gilt es innezuhalten. Das Wichtigste ist sicherlich, dass das, was wirklich zählt und unser Leben ausmacht – die Bewahrung der Funktionstüchtigkeit der Biosphäre und die Entfaltung unserer Menschlichkeit – sich nicht automatisch aus der Verwendung von immer mehr Technologie ergibt. Eher ist wohl das Gegenteil der Fall.
  • “Alles ist eine Frage der Prinzipien. Wir brauchen Haltung statt Regeln”. Das ist zum einen herrlich altmodisch. Moral und Ethik müssen wir uns selber machen, da helfen Algorithmen nicht weiter. Zum anderen ist es keine Einladung zu einer ‘regellosen’, anarchischen Gesellschaft. Aber: Viele Regeln, die sich die Völkergemeinschaft im Rahmen der Vereinten Nationen gegeben hat – Völkerrecht, Biodiversitätskonvention, Aichi-Ziele[3],  Klimarahmenkonvention, Unter-2-Grad-Ziel etc. – alle werden sie ignoriert und mit Füßen getreten, weil weder unser Denken, noch unsere Prinzipien schritt gehalten haben. Die besten Regeln sind diejenigen, die wir uns bei vollem Bewusstsein und mit großer Überzeugung selbst auferlegen. Am Ende geht es um die Utopie einer ethisch-moralisch reflektierten Gesellschaft, in der die Menschen nach dem Guten Leben suchen und ‘das Richtige’ wollen.
  • Wäre es nicht ganz hilfreich, wenn wir uns deutlich regelmäßiger und öffentlich fragen würden, was wir wollen sollen? Warum bin ich? Was soll ich tun? Ist mein Handeln richtig, führe ich ein gutes Leben? Die häufigere Beschäftigung mit diesen Fragen sollte uns nicht zu schlechteren Menschen machen.

Andreas: Jörg und Pierre – vielen Dank Euch beiden für diesen reichhaltigen Dialog. Ich hoffe, Euer Buch findet viele Leser:innen und inspiriert sie, zu einer ökohumanistischen Welt beizutragen.

Herzliche Grüße
Andreas

 

Fußnoten
[1] Wir wissen seit mindestens einem halben Jahrhundert um die Probleme der planetaren Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972) und haben es seitdem nicht geschafft, substanzielle Verbesserungen und Veränderungen auf den Weg zu bringen. Fast überall wird Nachhaltigkeit thematisiert, aber weder konsequent zu Ende gedacht geschweige denn in Handlungen übersetzt. Besonders eindrücklich wurde dies mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2021 deutlich, dass das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung heute noch junge und zukünftige Menschen in ihren Freiheitsrechten verletzt.

[2] Grünes Wachstum, oder “nachhaltiges Wirtschaftswachstum”, wie es im SDG #8 genannt wird, meint die Entkopplung von Wirtschaftsleistung / Wohlstand von Umweltschäden in Form von Ressourcenverbrauch (Extraktion) sowie Umweltverschmutzungen und -schädigungen (Emissionen). Ob dies überhaupt möglich ist und falls ja wie oder ob es vielmehr unmöglich ist, wird zunehmend wissenschaftlich untersucht, was freilich ein hochkomplexes Unterfangen ist.

[3] Aichi-Ziele sind Ziele zum globalen Schutz der Biodiversität. Der Name stammt von der japanischen Präfektur Aichi, da in der dortigen Stadt Nagoya die Ziele 2010 verabschiedet wurden.

Literatur

  • Binswanger, M. (2019): Der Wachstumszwang. Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben. Wiley
  • Blühdorn, I. et al. (Hrsg.) (2020): Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet
    (2., aktualisierte Auflage). transcript
  • Ibisch, P.; Sommer, J. (2022): Das ökohumanistische Manifest. Unsere Zukunft in der Natur. Hirzel
  • Ibisch, P.L.; Molitor, H.; Conrad, A. et al. (Hrsg.) (2022): Der Mensch im globalen Ökosystem: Eine Einführung in die nachhaltige Entwicklung. Oekom
  • Meadows, D. et al. (1972): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. dva informativ
  • Raworth, K. (2018): Die Donut-Ökonomie: Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört. Carl Hanser

Bildnachweis

  • Beitragsbild: Blue Marble composite images generated by NASA in 2001 and 2002, public Domain
  • Pierre Ibisch & Jörg Sommer: ©Celin Sommer, mit freundlicher Genehmigung

 

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